Von Andreas Schmeling

Fast hätte ich niesen müssen als er damals mit dem Pinsel die letzten Züge an meinem Bart nachzeichnete. Beinahe hätte ich mich dadurch verraten. Aber ich blieb still wie all die folgenden Jahre. Still, stumm, unbeweglich.

Sie haben gar keine Vorstellung, wie anstrengend dieses absolute Stille halten sein kann. Es zerreißt einem förmlich die Fasern!

 

Aber vielleicht sollte ich mich Ihnen erst einmal vorstellen: Mein Name ist Doktor Gachet, Paul-Ferdinand Gachet. Sie kennen mich nicht? Nun, persönlich sind wir uns auch ganz sicher nie begegnet, denn ich bin seit über 100 Jahren tot. Ich lebe allerdings weiter in einem Porträt, das Vincent van Gogh von mir angefertigt hat.

 

Ich bin eines der teuersten Gemälde, das jemals verkauft worden ist. Vielleicht sogar das teuerste Bild aller Zeiten. So sehr interessiert mich das allerdings nicht, denn ich kann mir nichts davon kaufen, sondern hänge hier an einem dunklen, einsamen Ort. Mein letzter Käufer, ein inzwischen verstorbener japanischer Großindustrieller, soll vor seinem Tod gesagt haben „Legt das Bild in meinen Sarg, wenn ich sterbe.“ Ob das geschehen ist, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Hier um mich ist es so furchtbar finster und ich weiß nicht, wo ich mich befinde.

 

Meinem Erschaffer Vincent hätte das Geld zu seinen Lebzeiten sicherlich sehr geholfen. Wobei, als er mich malte, war wahrscheinlich schon alles zu spät. Denn rund zwei Wochen danach beging er Selbstmord.

Doktor Gachet, die Person, die ich darstelle war damals sein Nervenarzt und kümmerte sich um den Maler. Der Doktor war selbst Hobbymaler, der einen Hang zu den Impressionisten hatte. Eine gute Kombination, so dachten jedenfalls Gachet und Vincents Bruder Theo. Vincent und der Arzt waren auf jeden Fall Seelenverwandte. Vincent hat mir, während er meine Hand malte, anvertraut, dass er in dem Nervenarzt einen Bruder im Geiste sah. Leider konnte meine Portrait-Vorlage dem großen Künstler nicht mehr helfen. 

 

Als Porträt führe ich eine Doppel- und Mischexistenz, denn viele Eigenschaften meines Erschaffers sind in mich übergegangen. Gleichzeitig habe ich auch Merkmale des Porträtierten in mich aufgesogen. Genau wie die Ölfarben sind die verschiedenen Charakterzüge auf der Leinwand aufgetrocknet. Meine melancholischen Augen spiegeln die traurige Stimmung des Doktors und die seelische Schwere meines Erschaffers wider. Ich bin gleichzeitig ein Porträt und ein Selbstportrait.

 

Ich kann Ihnen sagen, dass der Künstler Vincent ein ganz besonderer Mensch war. Er war ein religiöser Eiferer, ein produktiver, vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinniger Maler. Ein Eigenbrötler und ein Mensch, der mit allen damaligen Konventionen nichts anfangen konnte. Charakterzüge, die die Menschen bis heute aus seinen Bildern lesen und seiner Biographie ableiten. Ich konnte es übrigens noch nie Leiden, wenn man mich in einer Ausstellung anstarrt und „ja ja, diese Nähe von Genie und Wahnsinn“ vor sich hinmurmelt. Ich weiß nie, ob damit mein Erschaffer, mein reales Vorbild oder ich selbst gemeint war. 

 

Manche Leute behaupten ja, dass ein Maler in seinen Bildern weiterlebt. Ja, das stimmt gewissermaßen, glauben Sie mir das ruhig. Ich weiß, wovon ich rede. So wie ein Schriftsteller durch und in seinen Büchern weiterlebt so lebt der Maler in seinen Bildern weiter. Und wie Vincent in mir weiterlebt!

 

Zu seiner Jugendzeit haben die niederländischen Maler fast ausschließlich dunkle, erdige Farben benutzt. Vincent griff dagegen ganz intensiv in die volle Farbpalette der Natur. Seine Blautöne, die die Nachtgemälde dominieren und das Gelb, das satte Grün, das leuchtende Rot der Landschaften. Vincent hat unser aller Farbsehen und unseren Formenbegriff durch seinen Pinselstrich erweitert. Und ich bin Teil davon. Denn auch ich, das Porträt von Doktor Gachet, habe einige von diesen leuchtenden Farben und modernen Formen abbekommen. Aber eben auch die melancholischen Augen. Überhaupt sind meine Augen ein wenig schief geraten. Nunja, ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Was sollte ich auch schon dagegen tun?

 

In Vincents kleinem Zimmer haben wir uns früher übrigens gestapelt: Wir prächtigen Landschaften, einsamen Selbstporträts und auch ich. Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich es für Vincent war, dass niemand seine Bilder haben wollte, und dass damals niemand seine Art zu malen verstanden hatte. Seinem ohnehin angegriffenen Geisteszustand tat dies jedenfalls nicht gut.

 

Wobei ich – jetzt aus Sicht des Arztes und nicht aus Sicht des Bildes – einen tieferen Blick in das Seelenleben meines Patienten hatte als die Generationen von angeblichen Kunsthistorikern und sensationssüchtigen Boulevardjournalisten nach seinem Tod.

Natürlich hat Vincent öfter mit mehr oder weniger großer Ernsthaftigkeit versucht, sich zu vergiften oder sonst wie das Leben zu nehmen. Ich glaube, nach solchen Vergiftungsversuchen hat er immer Landschaften mit besonders giftgrünen Himmelsfarben gemalt. Aber das ist nur eine Vermutung, die ich weder als Bild noch als Arzt bestätigen kann.

Sicherlich war Vincent kein einfacher Mensch, aber die Geschichte mit dem angeblich abgeschnittenen Ohr wurde dann doch ziemlich übertrieben. Ich weiß das aus erster Hand von einem Sonnenblumenbild, das damals dabei war. Es stand auf der Staffelei stand und hatte deshalb einen guten Blick auf die Geschehnisse: Paul Gauguin war bei Vincent zu Besuch. Die beiden gerieten in Streit. Bei zwei so schwierigen Charakteren war das schließlich kein Wunder. Ob nun sich Vincent selbst ins Ohr schnitt oder durch Gauguin verletzt wurde, konnte das Sonnenblumenbild mir leider nicht genau sagen, denn im entscheidenden Moment hatten sich die beiden Männer gerade im Handgemenge weggedreht. Ich kann ihnen allerdings versichern, dass nicht das gesamt Ohr betroffen war. Eine Narbe konnte ich aber deutlich erkennen als Vincent mich einige Jahre später malte.

 

Vincent hat einmal gesagt, dass er mit Farben und Bildern dem Betrachter sein Innerstes vermitteln will. Die Bauern auf den Feldern haben das nie verstanden. Als er ihnen erzählte, dass er genauso hart arbeiten würde wie sie, haben sie ihn ausgelacht. Mit ihren schwieligen Händen und den wettergegerbten Gesichtern haben sie ihn nicht ernst genommen. Nur ein Sämann, auch ein späteres Bild, hatte geahnt, was Vincent damit ausdrücken wollte.

 

In einer Kunst-Ausstellung, in der ich einmal neben Bildern von Picasso, Monet und Cézanne hing, hat der Museumsdirektor auf mich gezeigt und gesagt: „Und hier sehen sie das Werk eines der wichtigsten Begründer der modernen Malerei“. Was war ich stolz in dem Moment. Vor Aufregung ist mir fast ein Farbklecks von der Leinwand gefallen!

 

Leider bin ich dann des Öfteren verkauft worden. Zwischenzeitlich hielt man mich sogar für entartete Kunst. Ohne diese selten dämliche Beschlagnahmung würde ich vielleicht immer noch in meinem geliebten Städel-Museum in Frankfurt hängen. Und Sie könnten mich dort betrachten. So bin ich auf Umwegen schließlich bei dem japanischen Unternehmer gelandet. Seit dem bin ich aus der Öffentlichkeit verschwunden. Das macht mich traurig, denn ich möchte mich Ihnen zeigen. Ich möchte, dass sie mich ansehen, sich Gedanken über die Geisteswelt meines Erschaffers machen. Und ich möchte Sie mit meinen traurigen, melancholischen Augen ansehen. Denn, nichts gegen Sie persönlich, aber mir sind Betrachter deutlich lieber als Zuhörer oder Leser.