Von Marcel Porta
 

Casanova hüllte mich in einen dicken Schal und schaute mich neugierig an.

„Du hast mir sehr geholfen,“ sagte er, „und als Lohn willst du wirklich nicht mehr, als die Umstände meiner Flucht aus den Bleikammern zu erfahren?“

„Ja, sie aus deinem Mund zu hören, ist mir Lohn genug.“

Als Reisende aus der Zukunft kannte ich die Geschichte bereits aus seinen Büchern, doch seine lebendige Art zu erzählen, versprach mir eine vergnügliche Kutschfahrt von Stuttgart nach Tübingen.

 

 „Es war im Juli 1755“, begann Casanova seine Erzählung, „als ich aus heiterem Himmel heraus verhaftet und ohne Verhör oder gar Prozess in Venedigs berüchtigte Bleikammern verfrachtet wurde. Dieses Gefängnis befindet sich unter dem Dach des Justizministeriums, das mit Bleiplatten gedeckt ist, daher der Name.

Wegen dieser Abdeckung wird es dort im Sommer so unerträglich heiß, dass man glaubt, der Verstand steht einem still, während es im Winter eiskalt ist. Mir sind die Gebeine dort schier erfroren.

Ich habe in den vierzehn Monaten meiner Inhaftierung niemals erfahren, warum ich verhaftet wurde, noch wurde mir das Strafmaß mitgeteilt. Gerüchteweise soll ich ein leichtfertiges religiöses Gedicht verfasst haben, in Wirklichkeit wurde ich wohl wegen der Verführung zweier Nonnen eingekerkert.

Rechnete ich zu Beginn täglich damit, am nächsten Tag die Freiheit wieder zu erlangen, so wurde mir im Laufe der ersten Wochen klar, dass ich hier verfaulen sollte. Aus Mangel an Bewegung und infolge der Hitze wurde ich krank, bekam hohes Fieber und ein Unterleibsleiden, das mich auch heute noch plagt.

Ich musste mir selber helfen, wenn ich jemals das Tageslicht wiedersehen wollte.

Der mir zugeteilte Wärter Lorenzo war ein Tölpel, der kaum bis drei zählen konnte. Das war ein wichtiger Punkt des Plans, der in mir heranreifte.

Im Winter durfte ich jeden Tag eine Stunde in der Dachkammer spazieren gehen. Dort fand ich beim Durchstöbern der Ecken und Winkel ein Stück Metall, das zum Werkzeug meiner Flucht werden sollte. Ich schmuggelte es in mein Zimmer und feilte es mittels eines Stück Marmors in mühevoller und Blutopfer fordernder Arbeit zu einer Art Stilett.

Da sich unter meinem Zimmer Arbeitsräume der Inquisition befanden, beschloss ich, durch den Boden dorthin vorzudringen, mich eines Nachts herabzulassen und beim morgendlichen Öffnen der Haupttüre zu fliehen. Ich täuschte Allergien vor und erreichte, dass das Ausfegen der Arrestzelle unterblieb. Durch Lorenzo ließ ich mir Schwefel zur Behandlung eines Hautauschlags besorgen, und gab vor, diverse andere Dinge zu benötigen. Aus diesen Utensilien bastelte ich mir eine Lampe und konnte so nachts an dem Loch unter meinem Bett arbeiten.

Unsägliche Mühe und mehrere Monate Zeit kostete es mich, den Boden, der aus dicken Bohlen und Granitgestein bestand, zu durchbrechen. Endlich war nur noch eine dünne Schicht vorhanden, die ich leicht in einer Nacht durchstoßen konnte. So setzte ich den Termin für den Ausbruch auf den Abend des 27. August fest, da an diesem Tag eine Sitzung der Inquisition anberaumt war. So würde ich am nächsten Tag dort ungestört bleiben, denn Sitzungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gab es niemals, das wusste ich.

Doch welch böses Unglück kam über mich. Zwei Tage vor der bereits sicher geglaubten Flucht wurde ich in eine andere Zelle verlegt, sodass nicht nur all die Mühe vergebens war, sondern ich auch mit der Entdeckung meines Fluchtwegs und harter Bestrafung rechnen musste.“

 

„Oh je“, stieß ich aus, „das muss schrecklich gewesen sein!“

 

„Oh, ja! Doch auch diesmal half mir Lorenzos Einfalt aus der Patsche. Ihn davon zu überzeugen, dass ich ihn als Mitwisser und Helfershelfer angeben würde, wenn er die Existenz eines Lochs in meiner alten Kammer preisgab, war nicht schwer. Selbst nach sorgfältiger Durchsuchung meiner neuen Zelle konnte er das für mich lebenswichtige Stilett nicht finden. Ich hatte es in meinem Lehnstuhl versteckt, und so konnte ich das Gerät auch weiter mein Eigen nennen und einen neuen Fluchtplan ersinnen.

Da Lorenzo fortan täglich den Boden und die Wände meiner neuen Behausung einer sorgfältigen Prüfung unterzog, kam eine Flucht auf diesem Weg nicht infrage. Blieb also nur die Decke. Doch das ließ sich nicht von innen bewerkstelligen, sondern nur von außen. Dazu musste ich Kontakt zu einem Mithäftling aufnehmen, ihn von meinem Fluchtplan überzeugen, ihm das Stilett zukommen lassen, und dann mit ihm zusammen fliehen.

Ein Mithäftling fand sich in Abbé Mario Balbi, der wegen Unzucht mit Folgen zu fünf Jahren Bleikammern verurteilt war. Wir kommunizierten über den Austausch von Büchern, den der nichts ahnende Lorenzo für uns vornahm. Als Tinte diente uns Maulbeersaft, denn echte stand uns natürlich nicht zur Verfügung.“

Schwierig war es, Balbi das Stilett zukommen zu lassen, denn das musste ebenfalls Lorenzo für uns transportieren. Es war zu groß, um es in einem Buch zu verstecken. Darüber dachte ich lange nach. Doch dann kam mir die Idee mit dem Geburtstag des Abbé. An diesem Tag ließ ich ihm ein besonderes Mahl bringen, das ich selber zubereitete. Das Stilett war in einer großen Schüssel Spaghetti verborgen, und unsere Freude war ohnegleichen, als Balbi es endlich in Händen hielt.

Seine Wände und die Decke waren mit Heiligenbildern verziert, was nicht weiter auffiel, da er Abbé war. So konnte er unbemerkt dahinter die Decke durchbrechen und kam auf dem Dachboden heraus. Von dort arbeitete er sich durch die Decke meiner Zelle nach unten, bis nur noch eine dünne Schicht übrig blieb, die wir erst am 31. Oktober durchbrechen wollten. An diesem und den folgenden Tagen befand sich das Gericht außerhalb Venedigs zur Inquisition, wir würden also ungestört bleiben. Zudem stand fest, dass sich Lorenzo an diesen Tagen sinnlos besaufen würde, wie immer, wenn seine Dienstherren abwesend waren.“

 

„Jetzt wird es richtig spannend“, gab ich einen spärlichen Kommentar. Zu begierig war ich, weiter seiner Geschichte lauschen zu können. Ich wusste ja nicht genau, wann ich plötzlich wieder in meine Zeit zurückkehren musste und in einer Kabine bei DreamZone erwachen würde.

 

 „Endlich war es so weit, und wir trafen uns auf dem Dachboden. Balbi hatte keine Ahnung, wie die weitere Flucht vonstattengehen sollte. Wohlweislich hatte ich ihn darüber im Unklaren gelassen, sonst hätte er sich sicherlich aus Furcht geweigert mitzumachen, und mich in meiner Zelle schmoren lassen. Ohne mich hatte er jedoch keine Chance auf eine erfolgreiche Flucht, sodass er auf Gedeih und Verderb auf mich angewiesen war.

Aus allen verfügbaren Decken und Kleidern, die wir in Streifen schnitten, flochten wir vier Stunden lang Stricke und Seile. Mit ihnen begaben wir uns des Nachts auf den Dachboden, durchbrachen den Außengiebel und kletterten mit äußerster Mühe auf das spiegelglatte Bleidach. Jede Bewegung war gefährlich, denn ein Abrutschen hätte den sicheren Tod bedeutet. Kannst du dir vorstellen, wie mir da zumute war? Noch heute nimmt die Angst mich manchmal in den Würgegriff.

Zuerst ging es aufwärts zum Dachfirst, wobei ich das hilfreiche Stilett als Halt in die Bleiplatten rammte, während Balbi sich an mir festhielt. Auf dem First schoben wir uns mit äußerster Vorsicht bis zu einem Fenster vor. Ich schlug die Scheibe ein und seilte meinen Kollegen ca. fünfzehn Meter ab. Doch wie sollte ich selber hinunterkommen? Um ebenfalls das Seil zu benutzen, fehlten mir nach dieser mühseligen Arbeit die Kräfte. Als ich an dieser Aufgabe schon fast verzweifelte, erspähte ich eine Leiter, die Handwerker auf dem Dach vergessen hatten. Bei dem Versuch, sie ins Fenster zu schieben, fehlte nicht viel, und ich wäre über den Rand des Dachs gestürzt, so unmenschlich war die Strapaze. Dann könnte ich dir die Geschehnisse jetzt nicht erzählen, ein Jammer wäre das.“

 

Das Grinsen, das er bei diesen Worten aufsetzte, ließ ihn wie einen jungen Mann erscheinen. Sein Charme war umwerfend.

 

 „Endlich, nachdem ich mehrmals Todesängste ausgestanden hatte, konnte ich die Leiter hineinschieben, stieg herab, und wir konnten versuchen, aus dem Raum zu entkommen. Zuerst jedoch musste ich einige Stunden schlafen, so erschöpft war ich.

Eine dicke Eichentüre versperrt uns den Weg zum Staatsarchiv und zur Kanzlei. Durch diese mussten wir uns mit dem Stilett einen Weg bahnen. Die Hände bluteten im Nu, und als das Loch groß genug schien, zwängten wir uns hindurch. Doch das Loch in der Tür war eine Winzigkeit zu eng. Balbi passte hindurch, denn seine Hüften waren schmaler als meine. Mich jedoch musste er mit aller Gewalt hindurchziehen, wobei ich mich erheblich verletzte. Trotzdem schafften wir es und drangen bis zur Empfangshalle vor.

Nun konnte ich nicht mehr wie geplant warten, bis die Empfangsräume gegen Morgen für das Publikum geöffnet wurden. Ich öffnete ein Fenster und rief den Pförtner herbei, der glaubte, am Vortag jemanden eingesperrt zu haben. Er öffnete und bekam einen Mordsschrecken, als wir an ihm vorbei hinausstürzten.“

 

In meiner Begeisterung klatschte ich in die Hände. „Oh, wundervoll! Da wäre ich so gerne dabei gewesen. Wie musst du dich glücklich gefühlt haben.“

 

„Bist du schon einmal in Venedig in einer Gondel gefahren? Noch nie war ich so froh gewesen, schnell eine zu finden. Ich stürzte mich hinein, und mit jedem Schlag der Ruder entfernte ich mich vom Ort meiner größten Pein. Endlich erlöst. Das Glück ist dem Wagemutigen hold, nach dieser Maxime lebe ich und werde ich wohl auch sterben.

Was aus Balbi geworden ist, weiß ich nicht, wir haben uns sofort getrennt und niemals wiedergesehen.“

 

Ein leichtes Ziehen in meinem Hinterkopf kündigte mir die bevorstehende Rückkehr an.
„Darf ich kurz aussteigen?“, fragte ich meinen Helden. „Die Aufregung hat mir die Luft genommen.“

„Ja, geh ein paar Schritte, wir warten hier“, gab er zur Antwort und ließ seinen Diener Leduc anhalten.

 

Grelles Licht ließ mich blinzeln, als ich in meiner Schlafkoje aufwachte. Was für ein Abenteuer. DreamZone war jeden Euro wert. Wen würde ich als Nächstes aufsuchen? Michelangelo vielleicht? Oder Mozart?

 

© Marcel Porta, 2017

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