Von Andreas Schröter
Noch vor zwei Monaten hätte ich mir niemals vorstellen können, je in eine derartige Situation geraten zu können: Rücken an Rücken mit Tochter 3, Inka, stand ich in einer maroden Scheune in Dortmund-Scharnhorst. Aus Waffen, die aussahen wie Panzerfäuste aus irgendeinem gottverdammten Krieg, schossen wir nicht mit der dafür üblichen Munition, sondern mit Blitzen aus purem Licht auf die Vampirmeute, die ihren Kreis immer enger um uns zog.
Ich war seit ungefähr acht Wochen Dämonenjäger bei der Dortmunder Polizei – ein Job, den ich mir weiß Gott nicht ausgesucht hatte.
Aber wenn nicht bald etwas passierte, war mein Job in wenigen Minuten beendet, denn dann war ich genauso tot wie die mindestens 200 Vampire, die sich in dieser Scheune versteckt hatten – bis Inka das Nest gefunden und mich alarmiert hatte.
Das Licht, mit dem wir Ihnen zusetzten, war nicht hell genug. Es gelang uns zwar, mal einen Arm oder ein Bein zu pulverisieren, aber das war‘s auch schon. Wir hatten erwartet, hier bestenfalls zwei oder drei dieser Bestien anzutreffen, nicht aber 200. Immerhin: Kurz bevor wir uns leichtsinnigerweise in die Höhle des Löwen begeben hatten, hatte ich Siebert über den bevorstehenden Einsatz informiert. Ob der Chef Hilfe schickte?
Nun – er schickte.
Wenn auch in einer Form, die er selbst wohl kaum geplant hatte: Siebert kam in einem Polizei-Hubschrauber. Bei der Landung entfachte sein Fluggerät derart viel Wind, dass er die Scheune mit einem Schlag komplett abdeckte. Und das war dann doch zu viel Licht für die Vampire. Sie zerfielen binnen Sekunden zu Staub.
Der Dialog, den ich anschließend mit Siebert führte, verlief ungefähr so:
„Schröter, warum um Himmels Willen haben Sie mich gerufen? Außer Staub sehe ich hier nichts.“
„Wir hatten es mit etwa 200 Vampiren zu tun.“
Siebert, der nicht an Geister, Dämonen und vergleichbare Kreaturen glaubte, konnte sich gerade noch verkneifen, mir einen Vogel zu zeigen. Aber wahrscheinlich war er dann doch der Ansicht, dass das die Würde seines Amtes nicht zuließ. „Seien Sie froh, dass ich Ihnen die Kosten für diesen Einsatz nicht in Rechnung stelle.“ Er drehte sich grußlos um, stieg in seinen Hubschrauber und flog davon.
* * *
Ich war zu aufgewühlt, um jetzt nach Hause zu gehen, setzte Inka bei ihrem Freund Noam in Lücklemberg ab und machte noch einen Abstecher zu meiner Lieblingsbuchhandlung „old books“ in der Dortmunder Nordstadt. In dem Antiquariat residierte Sir Jack, der eigentlich Hans von Oranienburg hieß – und zwar wie immer in der hintersten Ecke des Ladens, eingepfercht zwischen zwei Bücherstapeln. Ich machte mir inzwischen keine Gedanken mehr darüber, ob nicht vielleicht ein repräsentativer Tresen sinnvoller gewesen wäre, denn einen Kunden konnte ich mir in diesem Laden beim besten Willen nicht vorstellen.
„Andreas, was führt dich zu mir?“, sagte Sir Jack, obwohl er mit dem Rücken zu mir saß und mich eigentlich nicht hatte sehen können.
Ich wusste gar nicht so genau, warum ich den alten Mann so mochte. Soweit mir bekannt war, saß er nur in seinem Laden. Vielleicht war es gerade diese von ihm ausgehende Ruhe, die mir behagte.
Ich erzählte ihm mein Abenteuer mit den Vampiren in der Scharnhorster Scheune. Er schnaubte nur und murmelte etwas wie „Ja, die Vampire kommen wieder auf, nachdem sich die Drecksbrut ein paar Jahrhunderte verkrochen hatte. Das wird noch gefährlich.“
Ich hatte keine Zeit, mich über diese Bemerkung zu wundern, denn schon bald waren wir wieder bei dem, was mich in den vergangenen Wochen sogar noch mehr beschäftigt hatte als besagte Drecksbrut der Vampire: der Zahndämon. Mir war schon früher aufgefallen, dass sich Sir Jack sehr für dieses Thema interessierte. Ich hatte zudem das Gefühl, dass er erstens mehr darüber wusste, als er bisher zugegeben hatte, und dass er es zweitens gerne loswerden wollte.
Und tatsächlich begann er jetzt: „Weißt du, es gibt alte Quellen, die die Herkunft des Zahndämons erklären könnten.“
„Welche Quellen?“, fragte ich.
„Das tut nichts zur Sache“, antwortete er für seine Verhältnisse überraschend unwirsch. „Bitte unterbrich mich nicht. Der Zahndämon dürfte jetzt ungefähr 850 Jahre alt sein, wenn meine Informationen stimmen. Er gehörte zum Gefolge Dschingis Khans in der Mongolei, hieß Temudschin Hulan und galt als noch grausamer als sein Anführer.“
* * *
Das Schwert Temudschin Hulans sauste auf den Hals des Bauern nieder, der es gewagt hatte für seine Familie einen Teil seiner Ernte einzubehalten. Doch das Versteck unter einem Busch in der Nähe der bäuerlichen Jurte war für den Unterführer von Dschingis Khans Horde nicht gut genug gewesen.
Mit dem Kopf des Bauern, den er auf seine Lanze gespießt hatte, kehrte er ins Lager zurück. Dabei achtete er darauf, am Zelt der schönen Tijana vorbeizukommen, die er mit seinem Verhalten zu beeindrucken suchte. Zusammen mit ihrem Vater, einem weißen Magier, war Tijana seit einiger Zeit Gefangene der Mongolen. Hulan wunderte sich, dass die beiden noch immer unter den Lebenden weilten. Denn eigentlich ging den Soldaten Dschingis Khans der Ruf voraus, keine Gefangenen zu machen. Vermutlich wollte sich der Anführer selbst die Kleine unter den Nagel reißen. Aber dabei würde er ebenfalls noch ein Wörtchen mitreden.
* * *
Dschingis Khan beobachtete die Rückkehr Hulans. Ihm entging dabei weder der aufgespießte Kopf noch die Tatsache, dass Hulans Weg auffallend nah an Tijanas Zelt vorbeiführte, vor dem zwei seiner Männer Wache standen. Und ja, Tijana streckte jetzt ihr hübsches Köpfchen heraus und sah in die Richtung des wiederkehrenden Unterführers. Es war nicht auszumachen, ob sie ihn bewunderte oder verabscheute. Nun, letztlich war das unerheblich, denn Dschingis Khan hatte mit Tijana – und letztlich auch mit Hulan – seine eigenen Pläne.
* * *
„Du weißt, was ich verlange“, sagte Dschingis Khan und sah den weißen Magier an, den er vor einigen Wochen zusammen mit seiner Tochter gefangen genommen hatte.
„Und ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich es nicht tun werde. Ich wende meine Kräfte ausschließlich für Positives an. Und ich kann nichts Positives darin sehen, einen Menschen – und sei er noch so widerwärtig – in eine Kreatur der Hölle zu verwandeln, die ewig lebt und vermutlich in den nächsten Jahrhunderten unendliches Elend über die Menschheit bringt.“
Dschingis Khan hatte bei dem Wörtchen „widerwärtig“ kurz gegrinst, doch nun war sein Gesichtsausdruck zur üblichen Boshaftigkeit zurückgekehrt. Er nickte zwei im Hintergrund stehenden Wachen zu, die jetzt eine Tür öffneten, die dem weißen Magier zuvor nicht aufgefallen war. Die Wachen brachten die gefesselte und geknebelte Tijana herein und legten sie auf einen Tisch vor dem Mongolenherrscher.
Dschingis Khan zog sein Schwert und holte damit zum Schlag aus.
* * *
Fast schien es mir so, als glänzte eine Träne auf Sir Jacks altem Gesicht.
„Jetzt weißt du, wie aus dem Mongolen-Unterführer Temudschin Hulan der Zahndämon geworden ist, wie du ihn kennst. Der weiße Magier hatte keine Wahl, verstehst du?“
Ich nickte vage.
Sir Jack sprang auf, stellte sich dicht vor mich und schrie mit fast irrem Blick: „VERSTEHST DU DAS?“ Hatte ich ihn jemals für einen ruhigen Zeitgenossen gehalten?
Ich verstand es. „Was ist aus Tijana geworden?“
Sir Jack wandte sich wieder von mir ab und sagte kraftlos: „Das Ganze ist weit über 800 Jahre her. Was soll aus ihr geworden sein? Sie ist natürlich gestorben wie alle Sterblichen. Am Typhus knapp 30 Jahre nach diesen Vorkommnissen.“
„Und was ist aus dem weißen Magier geworden?“
Sir Jack setzt sich wieder so hin wie ich ihn angetroffen hatte und blickte ins Leere.
Ich hätte noch sehr viele Fragen gehabt. Allerdings beschlich mich das Gefühl, dass Sir Jack sie nicht beantworten würde.
Ich verließ den Buchladen, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, war jedoch sicher, nicht zum letzten Mal dort gewesen zu sein.