Von Monika Heil

 

Weimar, Ende Januar 1798

Es war ein kalter Wintertag kurz nach der Jahreswende. Goethe saß an seinem Schreibtisch und sortierte die Weihnachtspost auf drei Stapel.

»Kann weg«, murmelte er und warf einen Packen Karten in den Papierkorb.

»Kann Eckermann beantworten«, sagte er ein wenig lauter und legte zwei oder drei Karten beiseite.

»Eckermann diktieren«, war sein Kommentar zu einem etwas größeren Stapel.

»Verzeihung Herr Geheimrat, Johann Peter ist krank, wie Sie wissen. Sie hatten die Freundlichkeit, mich zu engagieren, bis er seine Erkältung auskuriert hat«, erinnerte ich ihn mit leiser Stimme, um seinen Unwillen nicht anzufachen. Erstaunt schaute er mich an.

»Wie meinen?«

»Ihr Sekretär und Vertrauter, Johann Peter Eckermann liegt mit Fieber im Bett«, erklärte ich ihm behutsam. »Ich bin eine entfernte Verwandte und an seiner Stelle hier, um Ihre Diktate aufzunehmen und beim Sortieren Ihres Archivs zu helfen, solange er unpässlich ist.«

»Sage sie mir ihren Namen«, verlangte er und schaute mich durchaus freundlich an.

»Anna Lenz, zu Diensten.«

»Nun dann, Jungfer Lenz, probieren wir es.« Er wies mit einladender Bewegung auf den harten Holzstuhl, der seinem Schreibtisch gegenüber stand, schob mir Papier und drei frisch angespitzte Bleistifte zu und begann zu diktieren.

»Verehrteste, liebe Frau vom Stein!

 

Besinnliche Tage hatten wir uns gewünscht. Sie liegen hinter uns und ich darf Ihnen berichten, sie waren festlich und harmonisch, wie man sie sich schöner nicht denken kann. Nach einer harten Woche Arbeit am Reichskammergericht zu Wetzlar nahm ich Abschied von Lotte und kehrte mit der nächsten Postkutsche heim nach Frankfurt. Die Fahrt über die holperigen, tief verschneiten Wege war unbequem, kalt und nicht ungefährlich. Während der Kutscher die Pferde durch den Taunus trieb, schweiften meine Gedanken zurück in den Sommer – meine Reisen durch Italien – liebe Freundin, ich habe Ihnen bereits ausführlich darüber berichtet.

Ein Achsenbruch brachte mich und meine Mitreisenden – ein junger Studiosus mit seiner blassen, ängstlichen Ehefrau (fast noch ein Kind) in die winterliche Wirklichkeit zurück. Der Kutscher fluchte zum Erbarmen, seinen weißen Atem vor sich her treibend. Den armen Pferden tat die unvorhersehbare Rast gut. Ich stapfte den Waldweg auf und ab, die Arme um meinen warmen Pelz schlagend. Die unfreiwillige Pause steigerte meine Unruhe. Meine verehrte Frau Mutter wartete daheim und mit ihr der festliche Gänsebraten.

Endlich ging es weiter. Die Kulisse meines geliebten Frankfurt tauchte auf und kurz darauf hielt die Kutsche am Hirschgraben.

Auch hier lag der Schnee noch hoch, obwohl er offenbar gerade vorher mittels eines Schneeschiebers beiseite geräumt worden war. Der Kutscher half mir, mein Gepäck an den Eingang heranzutragen. Stürmisch riss ich an der Hausglocke, denn der Wind, der vom Main kam, war eisig. Da erschien auch schon unsere gute alte Ottilie und mit ihr die Wärme und Gemütlichkeit des Hauses. Ihr Gesicht leuchtete unter dem Schein der Gaslaterne und nicht nur ihrem Gewand, nein, dem ganzen Körper schien der Duft der Küche zu entströmen. Es roch gleichzeitig nach Bratäpfeln, Ingwer, Schmalz, Bethmännchen, Kardamom und Gänsebraten. Im Entrée fiel mein Blick als erstes auf den festlich geschmückten, mehr als zwei Meter hohen Weihnachtsbaum. Mutter eilte die Treppe herunter und umarmte mich.

Ich hörte schon an den Stimmen, dass auch Cornelia mit ihrem Mann gekommen war. Wie mich das freute, die geliebte Schwester in die Arme schließen zu können. Mit ihr zusammen war es leicht und wunderbar verführerisch, sich in Gedankensprüngen in die Zeit der Kindheit zurückzuversetzen. Gerade am heiligen Abend leiste ich mir gern – als Erholung von der meinem Wesen oft fremden und  nüchternen Juristerei –  einen Ausflug der Gedanken in die Welt der Phantasie. Mein Schwager – Corneliens Gatte – kann uns da nie folgen. Aber da waren noch die beiden Kleinen, für die Mutter alle unsere hölzernen Puppenmöbel in die festliche Stube gebracht hatte, die meine Augen, und natürlich die der Kinder, hell aufleuchten ließen. Ottilie hatte inzwischen die letzten Handgriffe zum Würzen der Speisen beendet und Vater den großen Leuchter angezündet.

Seine Aufgabe war es auch, den herrlich duftenden, knusprigen Gänsebraten zu zerteilen. Jedes Mal ein wahres Ritual! Die eigens für diesen Zweck von Mama genähte und in akkuratem Kreuzstich bestickte weihnachtliche Schürze ließ sich gerade noch im Rücken schnüren; auf Gänsebraten verzichten würde er aber auch in den nächsten Jahren auf gar keinen Fall. Eher ließe er die Bänder der Schürze verlängern. Erwartungsvoll blickte die ganze Runde auf ihn.  Gekonnt zielsicher gelang es ihm, die erste Keule samt Kaiserbein abzutrennen. Augenblicklich duftete es noch köstlicher. Die Blicke wurden intensiver, ja fast gierig. Die Prozedur des Sezierens wiederholte sich Jahr für Jahr in streng eingehaltener Reihenfolge.

Nach dem Essen wechselten wir in den Salon. Der Duft türkischen Mokkas umfing uns und jeder erzählte, wie es ihm über’s Jahr ergangen war. Alle wollten wissen, wie es in Italien gewesen sei und ich musste aus meinem Tagebuch vorlesen.

Voller Interesse lauschte die ganze Runde meinen Erlebnissen. Ja, die Stunden verrannen schnell. Es wurde Zeit, die mitternächtliche Christmette zu besuchen.

Wir warfen unsere warmen Mäntel über und begleiteten die Damen zur Kutsche. Wir Männer schritten den Weg zur Paulskirche zu Fuß und wünschten uns im Geheimen den Platz der Damen. Das Geläut und die hellerleuchteten Fenster ließen die Stadt im Glanz erstrahlen. In meiner Seele entstanden Choräle, die ich nie niederschrieb. Das Gebrumme der frommen Seelen während des Gottesdienstes ertrug ich nur in stillen Gedanken an meine liebe Charlotte, die mir mit Herz und Verstand so nahe gekommen ist.

 

Mein Lichtblick sind Sie, Charlotte, und Sie wissen es. Ihr warm-fühlendes Herz spiegelt sich in Ihren Augen und Ihr Verstand folgt begierig meinen Reisen. Nur um eines bitte ich Sie, fangen Sie nicht auch noch an zu schreiben. Den Frauenzimmern liegt doch mehr die sanft verstehende Hingabe für die Tätigkeit des Mannes. Das ist es, was Ihnen inneren Glanz verleiht. Darum bleiben Sie bitte die alte, liebe, kluge Seele, die weise Ratgeberin, die ich auch im kommenden Jahr für mein ganzes Sein und, ja, auch für neue Werke benötige.

Mit Liebe und Dankbarkeit

J.W. v. G. – geheimer Rat«

 

***

 

Stade, Ende Januar 2017

 

Kaum zu glauben, dass dies nun schon fast 220 Jahre her ist. Doch meine Urahnin war so stolz auf die kurze Begegnung mit Johann Wolfgang von Goethe, dass sie ihre Erlebnisse aus jenen vierzehn Tagen Krankheitsvertretung Eckermanns immer und immer wieder erzählte. Erst ihren Kindern, dann ihren Enkeln. Und dieses für sie so besondere Erlebnis wurde unsere ganz persönliche Weihnachtsgeschichte bis in meine Generation. Von dem ersten Brief, den der Dichterfürst ihr diktierte, ist sogar eine handschriftliche Kopie erhalten, die heute in meinem Besitz ist. Nur deshalb kann ich sie hier so wortgenau wiedergeben. Natürlich halte ich dieses Kleinod in Ehren und selbstverständlich werde ich es – wie meine Liebe zur Literatur – an meine Kinder weitergeben.

 

Version 2