Von Gerhard Fritsch

Palatoni ist so etwas wie ein Philosoph. Er ist weit in der Welt herumgekommen und weiß von vielen bedeutenden Ereignissen zu berichten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Stuben sich rasch mit interessierten Zuhörern füllen, wenn er, wo auch immer auf seinen Reisen eine Rast einlegt. So auch vor einigen Wochen, als er im Gasthof „Zum goldenen Hirschen“ logierte und sein Publikum mit dem folgenden Bericht in Erstaunen versetzte: 

 

„Wie ihr wisst, werden viele bedeutende Entscheidungen hinter verschlossenen Türen beziehungsweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen. Einige solcher Beschlüsse der Vergangenheit haben den Lauf der Weltgeschichte verändert. Andere jedoch, die das Leben auf der Erde beinahe revolutioniert hätten, wurden bedauerlicherweise in letzter Sekunde widerrufen, obwohl man eigentlich keiner der beteiligten Parteien eine Schuld dafür geben kann.

Von solch einem Ereignis möchte ich euch heute erzählen.

 

Sicher hat jeder schon einmal von Atlantis gehört, der sagenumwobenen Insel, die in grauer Vorzeit im Meer versunken sein soll. Ich kann euch versichern, dass dies keine Legende ist, sondern dass es sich damals wirklich so zugetragen hat. Was aber bislang niemand auf unserer Erde wusste, entweder weil es von Anfang an nicht bekannt war oder weil es nicht weitererzählt worden ist, ist die Tatsache, dass die Atlanter damals mit einer Rakete in den Weltraum geflüchtet sind. Ja, ihr habt richtig gehört. Die Atlanter waren ein technisch versiertes Völkchen, das nicht nur Pyramiden, sondern auch Raumschiffe und Unterseeboote bauen konnte. Ihre Wissenschaftler hatten den Untergang der Insel natürlich längst vorausgesehen und sich so rechtzeitig darauf vorbereiten können. Sie beschlossen, sich auf einem Planeten der nächstgelegenen Sonne niederzulassen. Das ist nun gut 20.000 Jahre her. Wie ihr euch aber vorstellen könnt, ist das Leben auf einem anderen Planeten total verschieden von dem auf unserer Erde. Die Luft riecht dort anders und es wachsen auch nicht die gleichen Pflanzen wie hier. Die Atlanter mussten auf Gewohntes verzichten und sich an viel Neues gewöhnen, auch, und vor allem, was die Ernährung betraf.

 

Aber ich will langsam auf den Punkt der Geschichte kommen, ihr wollt ja schließlich wissen, was das Ganze mit der Weltgeschichte zu tun hat.

 

Es war also so, dass die Atlanter auf ihrem Exoplaneten sich eines Tages daran erinnerten, woher sie gekommen waren, und dass es vielleicht interessant sein könnte, dort wieder einmal vorbeizuschauen. Prompt machte sich ein Team, dem auch hochrangige Diplomaten angehörten, auf den Weg zur Erde. Von dort aus, wo Atlantis einst lag, flogen sie in Richtung Osten, was ihnen erfolgversprechender erschien als nach Westen.

 

Da brauchten sie natürlich nicht lange zu suchen, denn sie kamen als erstes direkt über Frankreich.

 

Da sie das Verhalten der Erdenbewohner noch nicht einschätzen konnten, wollten sie vorerst nicht in einer Großstadt landen, sondern erst einmal die Lage in einem ländlichen Gebiet sondieren. Ihre Wahl fiel auf Saïx, einen kleinen Vorort von Castres an der Straße nach Toulouse, wo sie ihr Raumfahrzeug zwischen zwei Weinbergen parkten. In Windeseile sprach sich im Ort herum, wer da zu Besuch gekommen war. Die Ankömmlinge wurden eiligst in den nobelsten Dorfgasthof zu einem Empfang eingeladen, wo sie mit den besten Speisen verköstigt und dem erlesensten Wein bewirtet wurden, den der Wirt anzubieten hatte, eben diesem köstlichen Tropfen, den wir hier auch vor uns stehen haben. Die Atlanter zeigten sich sehr angetan, lobten die vorzügliche Küche und den über alle Maßen wohlschmeckenden Weißen, von dem sie sich gerne nachschenken ließen. Zwischen dem Bürgermeister von Saïx, Claude Solonne, und der administrativen Gesandten der Atlanter mit dem seltsamen Namen Quatchcoatl entwickelte sich ein anregendes Gespräch, in dem sie sich auch über die kulturellen Besonderheiten ihrer Völker austauschten, was beide in höchstes Erstaunen versetzte. Quatchcoatl und ihren Begleitern schien die Atmosphäre in diesem Gasthof in Saïx sehr zu gefallen. Als ein Akkordeonspieler ein Lied anstimmte und Solonne ihn verärgert wegschicken wollte, baten sie ihn, den Musikanten doch bitte gewähren zu lassen. Begeistert von all dem bis dahin Erlebten stellte Quatchcoatl Solonne sogar in Aussicht, in diesem lieblichen Örtchen Saïx, wie sie sagte, eine ständige Vertretung der Atlanter auf der Erde einzurichten.

Solonne wollte nun etwas zurückrudern, denn er merkte wohl, dass seine Gesprächspartnerin und auch die übrigen Besucher von dem reichlich konsumierten Wein schon rote Nasen bekommen hatten. Doch er hatte den rechten Zeitpunkt bereits verpasst. Die Atlanter verfielen in eine Lebhaftigkeit, wie man sie nur selten zu sehen bekommt. Man verstand sie zwar nicht, aber dem Anschein nach sangen sie freudige Lieder in ihrer Sprache, tanzten und lachten was das Zeug hielt – und verlangten immer und immer wieder, die Gläser nachzufüllen.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sie dann doch noch Müdigkeit befiel. Der Einladung, im Gasthof zu übernachten, wollten sie aber nicht folgen, sondern sich lieber mit einem Kleinbus zu ihrem Raumschiff bringen lassen.

 

Claude Solonne und die Herren vom Gemeinderat hatten kein gutes Gefühl, als sie am nächsten Tag zum Landeplatz der Atlanter hinauswanderten, um zu fragen, ob sie in irgendeiner Weise behilflich sein könnten. Es dauerte ganze drei Stunden, bis die Ladeluke sich öffnete und ein Roboter ihnen die Nachricht überbrachte, dass Frau Quatchcoatl und die übrigen Mitglieder des Komitees sehr enttäuscht von den Bewohnern des Planeten Erde und im Besonderen von Monsieur Solonne und seinem Gefolge seien, die ihnen verdorbenes Essen und betäubende Getränke vorsetzten, was erhebliche Übelkeit und heftige Kopfschmerzen verursacht habe. Das Verhalten der Menschen bestärke sie in ihrer Einschätzung, mit dem Verlassen der Erde seinerzeit die einzig richtige Entscheidung getroffen zu haben. Von weiteren Kontakten mit Erdenbewohnern, die durchaus beabsichtigt gewesen waren, wolle man nun Abstand halten.

Solonne setzte noch zu einer unterwürfigen Geste des Bedauerns an, aber der Roboter ließ sich auf keine Diskussion ein und kehrte unbeirrt zum Raumschiff zurück. Kaum hatte sich die Luke wieder geschlossen, hob das Raumfahrzeug mit einem leisen Surren ab und war schon wenige Sekunden später außer Sichtweite.

 

Die Bestürzung im Gemeinderat war verständlicherweise groß, und als einer der Beteiligten äußerte, im nächtlichen Gespräch mit den Gästen herausgehört zu haben, dass die Atlanter weder Wein noch andere alkoholische Getränke kannten, wuchs auch ihr Schuldgefühl. Schnell beschloss man, über den ganzen Vorfall absolutes Stillschweigen zu bewahren. Immerhin hätte sich die Weltgeschichte grundlegend zugunsten der Menschheit verändern können, wenn die Atlanter mit ihrer fortgeschrittenen Technik hier wieder Fuß gefasst hätten.

Ich selbst war einer der Wenigen, denen Solonne von dieser letztendlich tragischen Begegnung berichtete, und ich erzähle sie euch auch nur unter der Bedingung, sie für euch zu behalten.“