Von Eva Fischer

Seit dem Anruf ist Marlene nicht mehr dieselbe.

Sie isst nur noch Äpfel, wenn überhaupt, damit sie in ihre neuen Jeans passt. Eigentlich gefallen mir ihre weiblichen Rundungen und ich finde es vollkommen überflüssig, dass sie abmagert, wie die Löcher in ihren Jeans meines Erachtens auch überflüssig sind. Armut imitieren, wie pervers ist das denn? Wenn ich sie darauf anspreche, schaut sie mich an, als ob ich von einem anderen Stern käme oder schlimmer noch, als sei ich ihr Vater. Bin ich nicht! Ich bin zwar 20 Jahre älter als sie, aber ihr guter Freund, mit dem sie sich angeregt unterhalten kann.

 

Und wer ist überhaupt dieser Olivier? Ein Franzose! Na und?

Franzosen haben eine Vorliebe für zerbrechlich schlanke Frauen, weshalb Marlene wohl meint, ihre Rundungen gegen eckige Kanten austauschen zu müssen.

Er ist 10 Jahre jünger als sie und war bis vor kurzem ein Nichts und Niemand. In der Schule ist er durch die Prüfungen gerasselt, obwohl er aus einer wohlsituierten Familie kommt, war arbeitslos, hat herumgelungert und sich von Wein und Zigaretten ernährt, bis ihm das Geld ausgegangen ist und ein Freund ihm gesagt hat, er finanziere ihm für 6 Monate sein Leben, wenn er bis dahin einen Roman schreibe. Der Typ ist auf den Deal eingegangen. Klar, er hatte nichts zu verlieren. Der Roman wurde tatsächlich fertig und der Freund hat ihn an einen Verlag geschickt, wo schon Hunderte von Manuskripten dahindämmerten und auf Entdeckung warteten, aber dieser Olivier hatte ein Wahnsinnsglück. Sein Buch wurde veröffentlicht und stieg auf wie ein Komet am französischen Literaturhimmel. Es gibt auch schon die deutsche Übersetzung, die ich natürlich kenne, denn ich soll ja daraus vorlesen.

 

Vollkommen durchgeknallt, was sich der Typ da ausgedacht hat. Wer will schon normal? Bukowski wollte das auch nicht, aber den hatten wir doch schon.

Die Familie, von der Olivier schreibt, ist völlig crazy. Aus dem Ausguss in der Küche wachsen die Schlingpflanzen. Die Frau wechselt täglich ihren Namen und dazu passend ihr Outfit. Der Mann nimmt nie seine Pfeife aus dem Mund und trainiert seine Muskeln mit Gin Tonic in der Hand. Meistens tänzeln sie nach nur einer Melodie durch ihr riesiges Appartement zusammen mit ihrem Sohn, der in der Schule reichlich Schwierigkeiten bekommt, weil er nur Phantasiegeschichten von sich gibt. Das ist sicher autobiographisch, nehme ich an.

 

Warum hat sich Olivier Marlenes kleinen Buchladen ausgesucht, um bei der Autorenlesung zugegen zu sein? Der könnte doch nach Berlin oder in sonst eine hippe Großstadt reisen. Er würde dort Säle füllen und hier platzen wir aus den Nähten. Mehr als 50 Stühle passen nicht in den Verkaufsraum der kleinen Buchhandlung. Die Tickets sind schon seit Wochen ausverkauft. Die Presse wird es sich auch nicht nehmen lassen zu kommen und an den Fensterscheiben werden sich jede Menge Zaungäste aufhalten, um den berühmten Star anzuglotzen.

„Wie bist du an diesen Olivier gekommen?“, habe ich immer wieder Marlene gefragt, aber als Antwort hat sie nur ein sibyllinisches Lächeln aufgesetzt. Manchmal schaut sie sich sein Foto im Internet an und auch das scheint sie in Entzückung zu versetzen. Ich fasse es nicht. Für mich sieht der Schnösel ganz normal aus.

 

*

 

Ich hätte es versauen können, aber das hätte dem Autor nichts von seinem Glanz genommen, nur Marlene hätte mich vorwurfsvoll angesehen und mich vermutlich nie wieder für ihre Lesungen engagiert. Also habe ich mich auch aufgebrezelt. Löcher habe ich allerdings nicht in meine Jeans geschnitten, aber so einen neumodischen Schal um meinen Hals gebunden wie in Künstlerkreisen gern üblich.

Ich habe also mein Bestes gegeben und nachdem ich die letzte Zeile vorgetragen hatte, hat Olivier als erster geklatscht und „Merci, Ülrick!“ gerufen.

Dann durfte das Publikum Fragen stellen und ich war überrascht, wie gut Marlene dolmetschen konnte.

„Was macht Ihrer Ansicht nach Ihren Erfolg als neuer Romanautor aus?“ kam eine Frage von einer Frau, Typ sich schlau dünkende Studienrätin.

„Je ne sais pas. Il paraît que les lecteurs sont aussi fous que les personnages dans mon roman. »

Marlene übersetzte grinsend. Der Autor wisse es nicht und meine, die Leser müssen wohl genauso verrückt sein wie seine Protagonisten.

 

Der Kerl ist wirklich aalglatt, lässt sich nicht packen, hatte aber zusehens die Lacher auf seiner Seite. Eine gewisse Begabung, was Phantasie und Jonglieren mit der Sprache angeht, konnte auch ich ihm nicht absprechen. Nur ungern verließ das begeisterte- vorwiegend weibliche- Publikum den Buchladen, natürlich nicht, ohne seinen Roman zu kaufen und sich von ihm signieren zu lassen.

 

Ich wollte dann auch den Heimweg antreten, aber Olivier meinte: „Mais non, Ülrick. Tu viens avec nous. On va dîner ensemble. »

Marlene nickte begeistert und außerdem stand noch eine andere elegante Frau neben Olivier, die mich aufmunternd anlächelte. Vermutlich seine Agentin. In welcher Sprache werden wir uns unterhalten, fragte ich mich, aber die Sorgen waren überflüssig. Jeder konnte etwas von beiden Sprachen, selbst Oliviers ganz passables Deutsch erstaunte mich.

Was soll ich sagen? Marlenes Augen leuchteten wie Christbaumkerzen, wenn sie mit Olivier sprach.

„Man sollte meinen, ihr kennt euch seit Kindheitstagen“, warf ich etwas Lametta zwischen die Turteltäubchen.

„Fast, mon cher Ülrick“, lachte Olivier.

„Lass mich raten, Marlene ist das uneheliche Kind deines Vaters“, setzte ich nach.

„Mais non, nicht Brüder und Schwester.“

Schade, dachte ich. Als jüngeren Bruder hätte ich ihn akzeptiert.

„Du hast es ihm nicht gesagt?“ Olivier schaute Marlene an, die verschmitzt grinste und den Kopf schüttelte.

Mit 10 Jahren kann man kein Kind in die Welt setzen. Also in welcher Beziehung stehen die beiden?

„Das ist eine längere Geschichte“, meinte Marlene zu mir gewandt.

„Du willst mich also weiter auf dem Grill braten lassen?“, sagte ich vorwurfsvoll.

„Also gut, aber das muss unter uns bleiben. Nichts an die Presse!“ Marlene schaute sich um, als ob die Zeitungstypen uns gefolgt wären.

„Olivier hat eine 10 Jahre ältere Schwester, Cécile. Ich habe sie und ihre Familie bei einem Austausch in Toulouse kennengelernt. Das heißt, ich war damals 17, Olivier 7 und schon damals sehr nervig.“

Beide lachten wieder, weil sie ganz offensichtlich in gemeinsamen Erinnerungen schwelgten.

„Tja, als ich dann bei der Bank angefangen habe, ist unser Kontakt eingeschlafen. Doch als ich von seinem Erfolg las, habe ich gedacht, ich melde mich bei ihm. Vielleicht tut er mir den Gefallen und kommt zu einer Lesung.“

„Bonne idée, chérie. So könnten wir uns wiedersehen. Et tu dois venir à Toulouse.“

Nun tätschelte dieser Romeo auch noch ihre Hand.

 

„Und warum darf die Presse nichts von eurer Vorgeschichte erfahren? Ist doch nett“, fragte ich verwundert.

„Aber Ulrich! Die Leute wollen ihre eigenen Geschichten spinnen und keine banalen Erklärungen“, sagte Marlene. „Ich bin schon gespannt auf die Überschriften in unserer Zeitung.“

„Mais oui, l’imagination transforme tout. Oder hättest du die Geschichte einer normalen Familie gelesen, Ülrick?“

Meine Phantasie sagt mir, dass er bald wieder in Frankreich ist, wo er sich von mir aus in seinem Ruhm weiter sonnen kann.