Von Gerhard Fritsch

Den Astro-Wissenschaftlern auf der Erde waren mehrere tausend regelmäßig wiederkehrende Kometen bekannt, den vor fünf Jahren erstmals gesichteten hatte bislang jedoch noch nie ein Mensch bemerkt gehabt. Dabei war er riesig im Vergleich zu allen anderen bekannten Schweifsternen – mindestens 100 Kilometer lang und 40 Kilometer dick. Vor fünf Jahren war er knapp hinter dem Mars vorbeigeflogen, aber die Schwerkraft der Sonne hat ihn eingefangen und ihn auf eine neue Umlaufbahn gelenkt – und zwar auf eine, die bei der nächsten Annäherung genau auf die Erde zielt. Die Menschheit war geschockt, alle dachten, der Weltuntergang stünde bevor. Die Wissenschaftler jedoch versuchten, die Allgemeinheit zu beruhigen. Kometen bestünden eigentlich nur aus Staub und Eis. „Glanzscheim“, diesen Namen hatte ihm ein nauranischer Astro-Physiker gegeben, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit verdampfen, bevor er die Oberfläche der Erde erreicht. Niemand bräuchte sich also ängstigen. Wenn überhaupt, würde es regional höchstens kleine Sandkügelchen regnen. Solche oder ähnliche Meldungen wurden immer wieder und durch alle Medien verbreitet, so dass sich die Besorgnis der Menschen langsam legte und alle dem zu erwartenden grandiosen Himmelsschauspiel entgegensahen. Der Schweif des Kometen, so wurde vorhergesagt, würde mehrere Hundertmillionen Kilometer weit in den Weltraum hinausreichen und sehr gut sichtbar sein. Zuletzt würde er so hell strahlen, dass er die Nächte taghell erscheinen lassen würde.

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Himsco starrte gespannt auf den Schirm und hielt den Fünf-Achsen-Joystick, dem im Bedarfsfall noch fünf weitere Dimensionscluster zugeschaltet werden konnten, fest in beiden Händen. Er fieberte förmlich, so fesselte ihn das neue Spielzeug, das er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte.

„Na, Himsco? Zufrieden mit deinem Geschenk?“, fragte seine Mutter.

„Ja Mum, super, schau mal.“

Himsco deutete auf den Holo-Bildschirm, auf dem gerade Meteoriten und andere Geschosse unterschiedlicher Herkunft auf Planeten und Sonnen herabstürzten und ahmte deren Geräusche mit seiner Stimme nach: „Wusch, Doiing, Drsch Drsch, iiiiiii Dschoing“ und so weiter.

„Als nächstes probier ich mal die Kometen aus, das ist schwieriger, die muss man erst erschaffen und dann noch die Flugbahn berechnen.“

„Na, schön, dass es dir gefällt. Dann spiel mal schön weiter“, sagte seine Mutter, verschwieg ihm aber, dass er eine abgemilderte, kindergerechte Version des Programms bekommen hatte, mit der er keinen großen Schaden anrichten konnte. Himsco war nämlich einer der UrUrUrUr_UrUr-Enkel von Lord Ohl und mit seinen neunhunderttausend Jahren moralisch noch nicht so gefestigt, dass man ihm die Entscheidung über das Schicksal von Galaxien, Sonnen und Planeten anvertrauen konnte beziehungsweise wollte.

 

Versunken in sein Spiel klickte er nun auf den Icon für „Komet konfigurieren“. Zunächst musste ein neuer Komet erschaffen oder ein bestehender gewählt werden. Himsco wählte „Neu erstellen“. Für diesen Zweck musste er geeignete Materialien suchen und zusammenstellen. Doch vieles wurde ihm aufgrund der eingestellten Kindersicherung verweigert. Weltraumschrott, Gesteinsbrocken und andere harte Materialien konnte er mit der Maus einfach nicht zusammenziehen. In einem biologisch übervölkerten Gebiet der Milchstraße aber wurde er fündig: Hunderte von Planeten mit üppiger Vegetation und Billiarden von Bewohnern hatten das Problem der Abfallentsorgung dadurch gelöst, dass sie ihre Hinterlassenschaften im Weltraum zwischenlagerten, zumindest solange, bis wieder Kapazitäten für deren Recycling frei werden würden. Sie achteten dabei gewissenhaft auf Mülltrennung. Die biologischen Abfälle einschließlich den Ausscheidungen jeglicher Lebewesen zum Beispiel wurden mit Wasser vermengt und in einer Entfernung positioniert, wo sie weder von den Planeten aus sichtbar waren, noch zu nahe an der jeweiligen Sonne waren, sodass sie nicht schmelzen und sich verflüchtigen konnten. Im Laufe der Zeit wuchs dieser Klumpen auf über 100 Kilometer Länge an. Und genau dieses Gebilde folgte den Eingabebefehlen Himscos. Zunächst zog er es mit seiner Maus in eine gänzlich andere Region der Milchstraße, um dann ein Ziel für die Kollision auszuwählen. Himsco hatte noch nie etwas von dem Stern Sol mit seinen Planeten Erde, Mars, Venus und so weiter gehört, aber als er auf den Einstellungsbutton „Eigenschaften anzeigen“ seines Schirms klickte, fiel ihm sofort die Erde mit ihren schönen Farben auf. In der Sprechblase stand: „wird auch wegen des hohen Wasseranteils als Blauer Planet bezeichnet. Bewohnt von ca. 7 Milliarden Individuen moderater Intelligenz.“

„Yippie, Yeah, Wau,“ jauchzte Himsco, „genau das Richtige“, und checkte die Erde als Zielobjekt ein.

Der gigantische Eisbrocken folgte der von der Maschine berechneten Parabel und schwenkte zunächst in eine Bahn um die Sonne ein, um dann ihren Flug Richtung Erde aufzunehmen. Das Programm hatte innerhalb dieser paar Sekunden allerdings festgestellt, dass der Brocken doch etwas zu groß war und eventuell Schäden am Planeten verursachen könne, was bei dieser Version nicht gestattet war. Es spaltete deshalb den riesigen Kometen in zwei Teile auf, die in geringem Abstand nebeneinander her durch das All rasten. In den zugeordneten Anzeigefeldern stand: „First Manhatten“ und „Then Berlin“. 

 

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Seit mehreren Wochen brachten die Nachrichtensender auf der Erde fast täglich Meldungen über Laufbahn, Geschwindigkeit, Zusammensetzung und wahrscheinlichen Eintrittszeitpunkt des Kometen auf die Erde. Seinen gewaltig langen Schweif konnte man von der Erde aus bei nachts und klarem Himmel über viele Tage hinweg schon sehen. Als der Komet aber etwa sieben Millionen Kilometer von der Erde entfernt war, teilte er sich plötzlich aus von den Astrophysikern unerklärlichen Gründen in zwei Teile. Die Schwerkraft der Sonne hätte ihn wohl zerrissen, hieß es in den offiziellen Verlautbarungen. Aber immerhin wurden die Flugbahnen der Trümmer neu berechnet und deren Eintreten in die Erdatmosphäre, wo sie sich wahrscheinlich weiter zerteilen würden, und damit auch den Ort und den Zeitpunkt, wo sie auf die Erde fallen würden, von Tag zu Tag genauer vorhergesagt. Ja, man wusste bereits schon, dass es irgendwie um New York und um Berlin herum sein würde, wo die Brocken herunterkommen müssten.

Der Tag, an dem das vorhergesagt worden war, war über Berlin total wolkenverhangen. Die Moderatoren der Lifeshow zu diesem Ereignis wiesen die Zuschauer darauf hin, dass sie wohl vom Boden aus kaum etwas sehen würden, es sei denn, die Druckwelle des Kometen würde die Wolkendecke im letzten Augenblick noch aufreißen. Aber immerhin bestand eine Konferenzschaltung zum Übertragungsstudio in New York und außerdem konnten Aufnahmen von Beobachtungsflugzeugen, die oberhalb der Wolken kreisten, eingeblendet werden. Wenigstens war es trocken in Berlin, was viele Berliner dazu bewog, öffentliche Plätze aufzusuchen, von wo aus sie das Spektakel besser beobachten zu können glaubten.

Dann war es endlich soweit. Helene Fischer hatte auf der großen Bühne vor dem Brandenburger Tor gerade ihren Song „Atemlos durch die Nacht“ beendet, als auf der überdimensionalen Leinwand Bilder aus New York eingespielt wurden, auf denen eine mächtig aufquellende Wolke aus dem Himmel Richtung Erde raste. Doch sie traf nicht auf der Oberfläche auf, sondern wurde schwächer und blieb in etwa 20.000 Metern Höhe ganz stehen, wobei sich dort eine schmutzigbraune, weitausladende Dunst- oder Hochnebelschicht bildete. So war es jedenfalls auf der Leinwand zu sehen. Aber schon wurde auf die Kameras der Flugzeuge umgeschaltet, die aus sicherer Entfernung den Himmel über Berlin beobachteten, denn schon Sekunden später sollte der zweite, größere Brocken von Glanzscheim dort herbstürzen. Auf der Leinwand sah man bereits die dampfende Gischt, die sich ihren Weg nach unten bahnte. Jetzt wurde es spannend, würde sie es bis unter die Wolken schaffen? Alle starrten nach oben, nicht nur die Leute auf der Partymeile, sondern auch auf vielen anderen Plätzen in der Stadt. Die Bundeskanzlerin und viele Regierungsmitglieder beobachteten von der Terasse des Bundeskanzleramts aus und zahlreiche andere Prominente standen auf der Dachterasse des Forums an der Museumsinsel und blickten gespannt nach oben. Dann plötzlich war ein Brausen und Tosen zu vernehmen, das schnell an Lautstärke zunahm. Der Wolkenvorhang blähte sich förmlich auf, er nahm an Dicke und Dichte immer mehr zu. Seine Farbe changierte von weißgrau nach braungelbgrau und verdunkelte die Sicht um ein vielfaches. Dann fing es zu regnen an, und zwar sehr heftig, geradezu wolkenbruchartig.

 

Die Ansage der Moderatorin, dass alle im Freien befindlichen Zuschauer möglichst schnell Unterschlupf in einem Gebäude suchen sollten, kam zu spät. Nur Sekunden zuvor hörte sie von der Meldung aus New York, wonach Regen vermengt mit Partikeln unbekannter Zusammensetzung über der Stadt niederging und noch nicht ausgeschlossen werden könne, ob diese Substanz krankheitserregend ist. Zumindest aber würde der Niederschlag einen sehr unangenehmen Geruch verbreiten.