Von Jane Carol

Sofia las andächtig in einem Buch, das vor ihr auf einem der langen Lesepulte lag, die sich quer durch den Salle ovale der Bibliothèque nationale zogen. Seit gestern war sie in Paris, der Stadt, die ihr einen Aufenthalt an der École des beaux-arts gewährte. Begründet wurde das Stipendium unter anderem damit, dass sie aus einem Land komme, das freies Denken und politische Kunst verfolge. Sofia hatte kürzlich in einer öffentlichen Installationen, blutverschmierte Frauen in Betten gezeigt, die darauf warteten von an der Decke hängenden Messern erdolcht zu werden. Die Klingen waren mit kleinen Nationalflaggen verziert. Es kam, wie es kommen musste. Die nationalen Zeitungen fielen über sie her. Schmähbriefe wurden abgedruckt und die staatliche Zensur schaltete sich ein. Ihre Aufträge wurden annulliert und es drohte das existentielle Aus. Als die Einladung aus Paris kam, schöpfte sie wieder Hoffnung. Dennoch konnte sie sich auch hier des Gefühls nicht verwehren, beobachtet zu wurden. Die leise vorbeihuschenden Benutzer der Bibliothek, deren Schritte vom grauen Teppichboden verschluckt wurden, schreckten Sofia immer wieder auf. Sie erinnerten sie an das unsichtbare Agieren des Staatsschutzes. Um sich von der gegenwärtigen Situation abzulenken, las sie in einem Kodex des 14. Jahrhunderts folgende sonderbare Geschichte:

 

*

“Vor langer Zeit lebte ein Maler, der war besessen von der Idee, die Passion Christi so lebendig und echt darzustellen, dass die Menschen glauben würden, vor ihnen stünde der leibhaftige Erlöser. Er arbeitete Tag und Nacht, insbesondere die Farbgebung beschäftigte ihn. Denn er wusste, dass nur die Farbe allein eine solch wahrhaftige Wirkung hervorrufen konnte. Das Werk wollte ihm aber nicht gelingen. Sein Verlangen schien, eine unlösbare Aufgabe zu sein.

 

Zufällig hielt sich zur gleichen Zeit eine Zigeunerin in der Stadt auf, die ihre wahrsagerischen Künste feil bot. Ohne viel nachzudenken, stand er von seiner Palette auf und ging zu ihr.

Die Alte empfing ihn, als ob sie ihn erwartet hätte. Schon beim Eintreten schnitt sie ihm ein Haarbüschel vom Kopf, warf es in einen großen Kessel und begann heftig darin zu rühren. Dämpfe stiegen empor und dem Maler wurde Bange. Er wollte fliehen, aber die Stimme der Alte hielt ihn zurück:

 

“Blu-u-t ist es, das Wirkung in deinen Augen zeigt! Blut sollst Du haben, aber nur solches, das nicht durch Verletzung oder Tötung gewonnen! Sei besorgt, dass es nicht wie gewonnen, so zerronnen!”

 

Als er diese Worte vernommen hatte, ging er nach Hause, schloss sich in seine Werkstatt ein und blieb ganze drei Tage und Nächte darin. Nur seine Köchin durfte zu ihm, um ihm Essen zu bringen. So kam es, dass diese ihn murmeln hörte:

 

“Woher nur das Blut herholen und dann auch noch solches, das ohne zu verletzen und zu töten gewonnen wird?”

 

Da die gute Frau sah, wie ihr Herr in Not war, versprach sie zu helfen. Ohne weitere Fragen zu stellen, ließ der Maler sie gewähren. Die Köchin aber ging zum Knecht und befahl ihm einen hohen Stuhl ohne Boden zu zimmern, diesen in ihre Stube zu stellen und danach ein Schwein zu schlachten. Sie selbst holte eine dicke Schnur und eine Schüssel aus der Küche und rief dann Mary zu sich, die Hilfsmagd, die sie kürzlich in ihren Dienst aufgenommen hatte. Mary war ein Waisenkind und hatte schon früh gelernt, dass die Welt nicht nur gut war. Mit ihren 13 Jahren sah sie bereits wie eine reife Frau aus, die durch vollwertige Fütterung zu einem tüchtigen Mädchen herangezogen werden konnte. Die Magd sagte zu Mary:

 

“Du bist eine Frau geworden, darum sollst Du fortan in meinem Zimmer wohnen und mit mir in einem Bette schlafen, sodass keiner Dir etwas antun kann.”

 

Mary war dankbar, dass die Köchin sich ihrer annahm. Bald darauf bekam Mary nachts ihre erste Regelblutung. Die Köchin sprang auf, zeigte auf das blutige Laken unter dem Mädchen und drängte sie, sich in den Stuhlrahmen zu stellen, der seit Tagen neben ihrem Bett bereitstand. Mit den dicken Seilen band sie ihre Füße und Hände an den Holzbeinen des Stuhls fest, schob die Schüssel zwischen ihre Schenkel und sagte beschwichtigend:

 

“Braves Mädchen, Du wirst mir Dein Blut geben und ich Dir gute Speisen. Gott sieht es, es soll Dir an nichts fehlen!”

 

Mary blieb im Gestühl eingespannt ganze drei Tage und Nächte lang. Wie die Köchin versprochen hatte, brachte sie dem Mädchen die köstlichsten Speisen und Getränke, die das Haus zu bieten hatte. Während dieser Tage buk, briet und kochte sie, sodass herrliche Düfte alle Zimmer des Hauses durchströmten. Es roch nach saftigem Schweinebraten, frischen Klößen, nährenden Hühnerbrühen, süßen Pralinen, mandelköstlichen Stollen und vielem mehr. Mary durfte von allem kosten, wovon sie ihrer Lebtage noch nie genascht hatte. Sogar Wein wurde ihr kredenzt und sie erfuhr zum ersten Mal seine verstörende Kraft. Dreimal täglich kam die Köchin, um das Gefäß mit der dunkelroten Flüssigkeit abzuholen, dabei verriet sie nie, wohin sie es brachte. Das betrübte Mary deutlich mehr als die in ihr Fleisch schneidenden Fesseln und die auf gespreizte Demütigung des Stuhls.

 

Unterdessen bekam der Maler dreimal täglich lebensfrisches Rot. Er wusste nicht, wie es gewonnen, noch woher es kam, lobte aber hoch erfreut seine Köchin. Mit seinen Pinseln trug er die noch warme und würzig riechende Essenz auf die Leinwand auf. Diese sog gierig die Pinselstriche ein, um im Gegenzug in den Spuren ein dunkles Leuchten aufflammen zu lassen. Der luminöse Farbenwurf von Purpur gefiel dem Maler so sehr, dass er ihn über die ganze Bildfläche zu verteilen begann. Die dabei erzeugte lebendige Wirkung war nicht zu übersehen. Es schien ihm, als ob die Figur aus der Leinwand hinausragen würde, um sich vor den erstaunten Augen des Malers zu erheben.

 

Mary saß immer noch im Gestühl und wollte wissen, was mit ihrem Blut geschehen war. Da ihr die Köchin keine Auskunft gab, holte sie sich den Knecht zu Hilfe. Durch das halbgeöffnete Zimmerfenster, das offen geblieben war, rief sie ihn herbei und bat ihn, ihr einen Gefallen zu tun, den sie ihm gut entlöhnen wollte. Der Knecht wunderte sich, warum sie mit ihm durchs Fenster sprach, sie aber sagte, das tue sie, damit sie nicht zusammengesehen würden. Er verstand und nahm ihre Weisungen entgegen.

 

Während dieser Tage besuchte der Bischof den Maler, um sich das Bildnis anzusehen. Er war von dem Werk so angetan, dass er es gleich kaufte und am nächsten Freitag weihen wollte. So kam es, dass am Freitag zwei Messdiener beim Maler erschienen, um das Gemälde abzuholen. Sie hüllten es in weißes Leinen und trugen es behutsam weg. Der Maler aber saß erschöpft in seinem Sessel und schaute gar nicht auf, als die Männer gingen. Es schmerzte ihn zu sehr, Abschied von seinem geliebten Werk nehmen zu müssen.

 

Als am Abend die Glocken läuteten, ging auch er in die Kirche. Er stellte sich in die hinterste Reihe und sah zu, wie sein Gemälde enthüllt wurde. Der weiße Stoff glitt zu Boden und brachte das Bildnis des Gekreuzigten zum Vorschein. Ein Raunen ging durch die Gemeinde. Mary war unter den Gläubigen und drängelte sich keck nach vorne, um besser sehen zu können. Als sie aber das Bild zu Gesicht bekam, entfuhr ihr ein schriller Schrei. Sie fiel zu Boden und begann sich vor Schmerzen zu winden. Die Menschen um sie herum, begannen aufgeregt und durcheinander zu reden:

 

“Wer ist denn diese Hexe!”

“Was soll ihr Geschrei? Will Sie ein Kind gebären?”

“Schande! Bringt sie weg, schleift sie an ihren Haaren hinaus!”

“Werft sie auf den Scheiterhaufen!”

 

Sogleich war der Knecht zur Stelle und rief lauter als die anderen:

 

“Ihro Gnaden, hört meine Worte, dieses Bild ist befleckt! Es ist mit dem Blut dieser jammernden und schreienden Jungfer gemalt worden!”

 

Dabei zeigte er auf die am Boden liegende Mary. Der Bischof sah, dass die Stimmung allmählich kippte und der geordnete Hergang seiner Messe gefährdet war, deshalb trat er entschlossen vor die Gemeinde und sprach:

 

“Du schweig, Unwissender! Du bist dieses Anblickes nicht würdig! Und ihr alle weicht zurück! Dass Euch der Zorn Gottes trifft!”

 

Und tatsächlich begannen die Menschen zurückzugehen und der Bischof sprach weiter:

 

“Das Bildnis ist heilig! Es trägt das Abbild Gottes und Gott ist durch Marias Blut geboren, um uns zu erlösen. Die Ikone ist der Fleisch gewordene Logos und darf nicht angerührt werden! In Gottes Namen, bringt das Bild und auch das Mädchen weg. Sie sollen beide in meinem Kloster den Segen erhalten. Den Maler aber, den leibhaftigen Teufel, nehmt mit Euch und verfahrt mit ihm nach Belieben!””

 

*

Sofia blickte von der gerade gelesenen Buchseite auf. Das Licht einer grünen Tischleuchte flackerte kurz auf und erlosch. Die Jungfer Mary erinnerte sie an die Frauen, die in ihrer Installation auf den Betten lagen; auch sie wurden von der staatlichen Presse denunziert, obwohl sie unschuldig waren. In der ambivalenten Figur des Bischof sah sie zwei Institutionen in einem verkörpert. Er war Museum und Kriegsminister zugleich, er ließ bewahren und zerstören im Namen seines Glaubens. Sofia runzelte die Stirn und blickte hoch – über ihr schwebte ein riesiges ovales Dachfenster und ließ Sonnenlicht in die Bibliothek strömen.