Von Daniel Büttrich

If you don`t go crazy you`re not normal“ (Goran Bregovic)

 

 

„Kommen raus! Ich putzen! Du kommen raus! Bitte!“

 

Nicht einmal der resoluten Putzfrau gelang es, den Mann dazu zu bringen, die Toilettenkabine zu verlassen. Wiederholt klopfte und rüttelte sie an der Tür. Keine Reaktion! Daraufhin fluchte sie laut auf Bosnisch und säuberte die Kabinen rings um das verschlossene WC.

 

Weder die örtliche Firmenleitung noch der Betriebsrat und die Kollegen vermochten es, den Mann, einen ledigen Buchhalter mit dem Namen Franz Beringer, zu überreden, die Toilette während der Arbeitszeit zu verlassen. Es halfen keine Drohungen – „Herr Beringer, noch ein Tag auf der Toilette und wir kündigen Ihnen!“ – und kein gutes Zureden – „Wenn Sie wieder in Ihr Büro zurück kehren, erhalten Sie eine Sonderprämie!“.

 

Als der Hausmeister eines Tages die Tür der Kabine aus der Verankerung hob, trugen eine Handvoll Kollegen Herrn Beringer vom Toilettendeckel auf seinen Bürostuhl zurück. Im Büro zog er eine widerwillige Miene und grummelte:

 

„Hier bleibe ich nicht!“

 

Ein Kollege band trotz heftiger Gegenwehr Beringers Arme und Beine am Bürostuhl fest. Die Kollegen bemerkten indes rasch, dass der Gefesselte seiner Buchhaltertätigkeit so nicht nachkommen konnte. Doch das oberste Gebot hieß: Sicherheit geht vor Freiheit! Büro statt WC!

 

An jenem Nachmittag hockte Herr Beringer untröstlich und handlungsunfähig im Büro. Sein Widerstandsgeist gegen die Bürokratie, der er sich durch seine Flucht auf die Toilette entziehen wollte, wuchs von Minute zu Minute. Gelegentlich stattete ein Kollege Herrn Beringer einen Kontrollbesuch ab, um zu überprüfen, dass er sich noch auf seinem Bürostuhl befand. Aber wie hätte er fliehen können? Der Kollege, der die Stricke festgeschnürt hatte, war Bayerischer Meister im Tauziehen. Am Abend band die kräftige bosnische Putzfrau den Buchhalter los und befreite ihn. Voller Mitleid sagte sie:

 

„Dummes Mensch! Warum machen so? Warum Klo bleiben? Klo ist keine gute Ort. Stinken nach Scheiße. Warum nicht schönere Ort suchen? Warum nicht fliegen auf Insel?“

 

„Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Hilfe. Die Toilette ist ein wunderbarer Ort. Man ist dort frei“, antwortete Herr Beringer. „Was meine Kollegen jedoch mit mir machen, grenzt an Hexenverfolgung. Sie grenzen mich aus und sperren mich in das Büro ein. Sie machen einen Firmengefangenen aus mir. Aber da mache ich nicht mit!“, antwortete er.

 

Am nächsten Morgen saß der eigensinnige Buchhalter erneut auf der Toilette. Von nun an spielte sich täglich dasselbe ab. Frühmorgens, vor allen anderen, schlich Herr Beringer in das Gebäude, entnahm aus seinem Fach die Post des Vortages und sperrte sich in der WC-Kabine ein. An die Toilettentür klebte er sein Namensschild. Er organisierte sich Schreibpapier und Taschenrechner und verlegte Leitungen für PC und Drucker. Das Diensttelefon leitete er auf sein Smartphone um. Herr Beringer erledigte seine Aufgaben vorbildlich, wenngleich in untypischer Umgebung. Um für ein angenehmes Arbeitsklima zu sorgen, stattete er das WC großzügig mit Duftbäumen und Duftspendern aus. In besonders unangenehmen Augenblicken setzte er zudem Ohrenschützer auf.

 

Wie war es überhaupt so weit gekommen? Blicken wir ein wenig zurück!

 

Herr Beringer war stets ein tugendhafter und zuverlässiger Buchhalter. Er führte seine Arbeit nahezu perfekt aus. Für seine Vorgesetzten war er ein pflegeleichter und vorbildlicher Firmenmitarbeiter. Unter den weiteren Mitarbeitern der Firma galt er als umgänglicher Kollege, der seine Arbeit sehr ernst nahm und dessen Arbeitsergebnisse niemals Anlass zur Beschwerde gaben. Über sein Privatleben gab er nichts preis. Kein Wunder, denn er hatte keines. Manchmal wirkte Herr Beringer lebensfremd und unbeholfen und erinnerte an Mr. Bean. Das fiel in der Firma allerdings niemandem auf, da viele Kollegen lebensfremd und unbeholfen wirkten und an Mr. Bean erinnerten.

 

In seinem Inneren wuchs in den Jahren der Routine, der Gewohnheiten und der zunehmenden Perfektionierung der Wunsch nach Veränderung. Seit gefühlt ewigen Zeiten arbeitete er in demselben Büro. Seit Jahren hatte er dieselben Kolleginnen und Kollegen, während in der Nachbarabteilung im Marketing ein Kommen und Gehen herrschte. Es war gut. Und es war nicht gut, denn so sehr Herr Beringer als wertkonservativer Mensch solide Verhältnisse schätzte, wuchsen für seine Umgebung unsichtbar der Wunsch nach Abwechslung und die Neugierde auf kulturelle Bereicherung. Er begann, in seiner Freizeit Bücher zu lesen. Rasch merkte er, dass ihm das Lesen Freude bereitete. Gogol, Dostojewski, Tolstoi, Bohumil Hrabal, Joseph Roth oder Wenedikt Jerofejew, dessen Buch „Die Reise nach Petuschki“ es ihm besonders angetan hatte, entwickelten sich zu seinen geistigen Freunden. Schließlich vernachlässigte er alltägliche Pflichten wie Einkaufen und Essen und war vollständig dem Lesen verfallen. Er dachte neuerdings auch während der Büroarbeit an die Bücher und mutierte von einem eindimensionalen Bürowesen zu einem hochintellektuellen Geistesmenschen. Es kam sogar vor, dass er Kunden am Telefon versehentlich mit Namen von Romanfiguren ansprach.

 

Wann aber kam es zu dem endgültigen Durchbruch? Hört zu!

 

Eines Tages hatte Herr Beringer Durchfall und ging auf die Toilette. Nichts Ungewöhnliches für einen Menschen. An diesem Tag hatte Beringer starken Durchfall. Es gehört sich freilich nicht, diese Begebenheit weiter auszuschmücken. Dennoch muss sie Erwähnung finden. Denn der Buchhalter Herr Beringer erlebte an diesem besonderen, für ihn „heiligen“ Tag eine kuriose Katharsis auf der Toilette. Er verspürte nach verrichtetem „Geschäft“ ein nie vorher empfundenes Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit. „Ich werde fortan meinen Job in der Toilette ausüben!“, jubilierte er.

 

„Das ist meine Rebellion gegen die Monotonie der Bürokratie!“, freute er sich. Das war neu. Er hatte in seinem Leben nie rebelliert und Eltern, Lehrern sowie Vorgesetzten jedes Wort geglaubt.

 

So nahm die Reifung des Buchhalters ihren Anfang. Herrn Beringer ging es nicht vorrangig um die Ausübung des Verdauungsprozesses und eine damit verbundene Erleichterung und Genugtuung. Diese Erklärung würde viel zu kurz greifen. Es ging ihm um eine persönliche Weiterentwicklung. Heutzutage sagt man: Selbstoptimierung. Es war ein Quantensprung. Herr Beringer fand zu sich selbst und formte eine eigene Identität. Jeder, der einmal eine Identitätskrise durchlebt hat, wird wissen, wie wichtig es ist nach langem Suchen und Ringen endlich eine gefestigte Identität gefunden zu haben!

 

Jahre hinweg änderte sich nichts an diesen Umständen. Herr Beringer erledigte seine Arbeit nach nachvollziehbaren Eingewöhnungsschwierigkeiten gewissenhaft und korrekt. Seine Vorgesetzten beurteilten ihn genau so gut wie früher. Die Kollegen akzeptierten ihn. Die anfängliche Hexenjagd war längst beendet. Beringer bekam sogar eine Gehaltserhöhung. Für Prämien- und Beurteilungsgespräch wurde das WC gesperrt. Der Vorgesetzte schloss sich in der Nebenkabine ein. Das roch nach Beichtstuhlatmosphäre und verlieh dem förmlichen Vorgang einen Hauch von spirituell-religiöser Mystik. Das gefiel Herrn Beringer, der katholisch erzogen war.

 

Neu war, dass Herr Beringer gelegentlich ein Buch in die Arbeit einschmuggelte und zwischendurch ein paar Seiten las. Niemand bemerkte das. Seit Kurzem keimte in dem Buchhalter zudem der Gedanke, selbst ein Buch über sein ungewöhnliches Leben zu schreiben. Insgeheim bereitete er sich schon auf den daraufhin zu erwartenden Medienhype und Besuche von Fernsehanstalten und Radioreportern vor.

 

Die oberste Firmenleitung akzeptierte Beringers Verhalten. Wäre er nicht ein herausragender Buchhalter gewesen, hätten sie ihm längst gekündigt. So aber war alles in bester Ordnung.

 

Auch die bosnische Putzfrau wusste, was ihr der „Pappenheimer“ wert war. Durch die Anwesenheit von Herrn Beringer zu späteren Zeiten, in denen das Gebäude längst leer war, fühlte sie sich nicht mehr einsam. Eines Tages blieb die Kabine jedoch unbesetzt. Auch an den folgenden Tagen erschien Herr Beringer nicht in der Firma. Er hatte sich weder krank gemeldet, noch war er im Urlaub. Die Mitarbeiter machten sich Sorgen und durchkämmten jeden Winkel des Gebäudes nach ihm. Erfolglos. Schließlich entdeckte die Putzfrau einen Stofffetzen am Klodeckel.

 

„Der is gesprungen in Kanalisation! Hat gefunden bessere Leben für sich! War verrückte Mann, aber grad deswegen normal! Jetzt ist in Kanalisation und komplett glücklich! Hat gefunden seine Paradies auf Erden!“, meinte sie.

 

Allmählich verfestigte sich die Auffassung der Putzfrau unter der Belegschaft. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Mitarbeiter der Meinung, dass der „Mann im Klo“ inzwischen in der Kanalisation weiter lebte, und hier vielleicht irgendwann mit einem Remake von „Der dritte Mann“ für ein überraschendes und sensationelles Auftauchen sorgen würde. Einige vermissten ihn buchstäblich und gaben die Suche nicht auf. Sie sagten den Kollegen, bevor diese sich auf die Toilette zurückzogen:

 

„Sag Bescheid, wenn du den Mann im Klo findest!“

 

 

– 2. Version –