Von Michael Voß

„Bitte!“, sagte der Bote und sank auf ein Knie. „Bitte helft uns!“

Aufmerksam musterte Gundel den erschöpften jungen Mann, in dessen Gesicht sich der erste blonde Bartflaum zeigte. Seine beiden Gefährten, nicht älter als er, taten es ihm nach.

„Steht auf!“, seufzte Gundel. „Also noch einmal: Die Hexenjägerin hat die Landesgrenze überquert und eure Dorfhexe verschleppt?“

 

Zwölf Tage lang folgten die alte Hexe und ihre Schülerin Ariana den Männern bis zu ihrem  Dorf. Dort richteten sich die beiden im Hexenhaus ein und begannen mit ihrer Arbeit: Sie verzauberten die Kartoffelkäfer in gelbe Erbsen, schienten Brüche, liessen es regnen, zogen Bannlinien für die Wildschweine um die Felder, hexten Warzen fort und rührten Magentinkturen an.

„Das alles hilft uns ja sehr. Aber warum sucht ihr nicht nach der Hexenjägerin?“, fragte der Bürgermeister eines Abends.

„Weil sie es ist, die uns finden wird“, antwortete Gundel.

 

Wenige Tage später kam eine martialische Frau auf einem Rappen ins Dorf. Sie trug einen silberbeschlagenen schwarzen Lederharnisch sowie eine Peitsche und ein Breitschwert an der Seite. Am Sattel ihres Hengstes war eine Armbrust festgemacht.

Vor dem Hexenhaus hielt sie an und entzündete eine Fackel: „Komm heraus, Hexe, oder ich stecke dir das Dach über dem Kopf an!“

Gundel öffnete die Tür und trat auf die Schwelle. Schweigend sah sie die finstere Reiterin an.

Die Hexenjägerin zügelte ihr Pferd.

Ungläubig starrte sie die kleine Gestalt an: „Mutter?“

„Ja, Mona, ich bin es.“

Lange schauten sich die ungleichen Frauen an. Dann, kaum erkennbar, wand sich die Hexenjägerin unruhig in den Schultern.

„Und?“, fragte Gundel ruhig. „Willst du nun auch mich töten?“

Ihre Tochter brauste auf: „Ich töte nicht! Ich fange nur!“

Die Hexe zog eine Augenbraue hoch: „Wirklich? Und was, wenn ich mich der Gefangennahme widersetze?“

Mona schwieg betreten.

Gundel fuhr fort: „Aber gut. Nehmen wir an, ich lasse mich binden und fortführen. Wohin wirst du mich bringen?“

„Nach Darragh, zum König von Bormet.“

„Ah, dem Hexenschlächter. Soviel ich weiß, gibt es inzwischen keine einzige Hexe mehr in Bormet. Die Geschichten von der tüchtigen Hexenjägerin des Tyrannen sind weithin bekannt. Auch von den Scheiterhaufen, die landauf, landab brannten. Aber die hast du ja nicht selbst in Brand gesetzt. Das war, wie man so hört, seine Majestät höchstpersönlich. Stimmt es eigentlich, dass er seinen Untertanen damit seine Tatkraft beim Durchsetzen des Hexenverbots zeigen wollte? Oder war es nur die Lust an Folter und Mord?“

„Halt den Mund!“, blaffte Mona und zog ihr Schwert.

Mit einer Geschwindigkeit, der man der Alten nicht zugetraut hätte, warf Gundel einen Blendzauber auf ihre Tochter. Doch eine Handbreit vor dem bleichen Gesicht prallte die Magie laut knisternd ab und zerstob wirkungslos in alle Richtungen.

„Zwing´ mich nicht, dir den Kopf abzuschlagen!“, presste Mona hervor.

„Das wirst du wohl tun müssen, mein Kind“, sagte Gundel mit fester Stimme. „Und überlege dir schon mal, wie du heile nach Bormet zurückkommst. Denn hier, im Herzogtum Radon, sind Hexen nicht nur geduldet, sondern erwünscht. Wenn die Büttel dich erwischen, wirst du des Mordes angeklagt und aufgehängt.“

„Pah, mit den paar Bauern werde ich schon fertig. Obendrein ist die Grenze nicht weit.“

Sie sprang vom Pferd und ging drohend auf die alte Hexe zu.

„Warum jagst du uns?“, fragte Gundel und wich zur Seite aus.

Mona knurrte: „Weil Hexen nur Ärger und Unglück bringen.“

„Du weißt, dass das Unsinn ist. Worum geht es wirklich?“

Die Jägerin giftete: „Papa hat mir die Augen geöffnet: immer ging es nur um dich! Gundel hier, Gundel da! Überall hast du rumgemengt, dich um alle und alles gekümmert, sogar nachts bist du raus, um ein Kind zur Welt zu bringen oder ein Kalb zu retten. Alle mochten dich, nur Papa und mich hat kein Mensch angeguckt. Zum Schluß hast du ihn auch noch fortgejagt!“

„Ah, du hast ihn also gefunden. Hat er dir auch erzählt, warum ich ihn vor die Tür gesetzt habe?“

„Weil er eben auch nur ein normaler Mensch ist, der nicht zaubern kann. Und weil du Angst hattest, dass er dir eines Tages die Schau stiehlt!“

Jetzt wurde Gundel zornig: „Ach ja? Ich dachte, ich tat es, weil er sich mit Raingard, Sana, Gwendola und der kessen Luzie vergnügte, während ich dich aufgezogen, mich um den Haushalt, den Garten, das Wetter, das Vieh, die Wäsche und die Gesundheit der Leute gekümmert habe! Vielleicht bin ich ja einfach zu alt, um mich noch richtig zu erinnern! Vielleicht aber war dein Papa, der schöne Verian, auch einfach nur ein Herzensbrecher, Faulpelz und Tunichtgut!“

Wütend holte Mona mit dem Schwert aus und schlug zu. Doch die blitzende Klinge fuhr durchs Leere, denn dort, wo eben noch eine unscheinbare alte Frau stand, lag jetzt ein Kleiderhaufen auf dem Boden.

„Stell´ dich, verdammt!“, schrie die Hexenjägerin und blickte dem Raben nach, der aus den Falten eines lilafarbenen Umhangs geschlüpft war und sich nun in die Höhe schraubte.

Mit einem Wutschrei griff Mona nach der Armbrust, als ein Wiesel durch das Gras auf sie zugeschossen kam. Wie ein brauner Blitz sprang das kleine Tier an Monas Arm und krallte sich an die Schlange aus Zwergensilber, die um den Schildarm der Hexenjägerin gewunden war. Dann biss der Nager in den Nacken des Reptils. Für einen Moment schien das Silber flüssig zu werden, dann verwandelte sich das metallene Schmuckstück sich in ein lebendes Tier. Erschrocken liess Mona die Waffe fallen und schleuderte ihren Arm im Kreis. Schlange und Wiesel flogen hoch durch die Luft und fielen ein paar Schritte weiter zu Boden. Während die Schlange sich eilig davonwand, begann die Luft um das Wiesel herum zu wabern. Farbige Funken leuchteten auf, dann stand Ariana vor der erschrockenen Jägerin. Wie ihre Lehrerin zuvor, wirkte auch die Hexenschülerin einen Blendzauber. Diesmal verfehlte er seine Wirkung nicht. Mona, in deren Kopf jetzt ein dröhnendes Blitzlichtgewitter tobte, schlug die Hände vor das Gesicht und torkelte benommen im Kreis herum.  

Mit ausgebreiteten Schwingen landete der Rabe neben dem Kleiderhaufen und verwandelte sich zurück in die grauhaarige Gundel. Die Augen fest auf die Hexenjägerin gerichtet, hob sie murmelnd die Hände und schnippte dann mit den Fingern. Mona blieb stehen, schwankte und sank auf die Knie. Dann gähnte sie herzhaft und fiel seitlich ins Gras, wo sie reglos liegenblieb.

„Ist sie tot?“, rief die junge Hexe entsetzt.

„Nein, mein Kind. Es ist einfach nur ein Schlafzauber“, sagte Gundel ruhig, während sie ihren Umhang aufhob.

Mit flinken Fingern löste Ariana die Lederpeitsche vom Wehrgehenk der Hexenjägerin und band damit Hände und Füße der Bewusstlosen zusammen.

„Gut gemacht, meine Schülerin. Ich bin stolz auf dich. Und danke für die Rettung“, hörte sie die Stimme ihrer Lehrerin.

Ariana flüsterte fassungslos: „Sie wollte dich töten – mit dem Schwert! Dich, ihre eigene Mutter! Wie konnte sie nur?“

„Der Hass hat sie dazu getrieben“, murmelte Gundel nachdenklich. „Als Kind war sie noch so fröhlich. Erst als ihr klar wurde, keine normale Hexentochter zu sein, fühlte sie sich unvollkommen und von mir betrogen. Dann, als ich ihren Vater des Hauses verwies, war es endgültig zu viel für sie. Sie folgte ihm und – nun ja.“

Die alte Hexe zog ein Tuch hervor und schneuzte sich: „Doch sag´: Wie bist du darauf gekommen, dass das Schmuckstück in Wahrheit eine verzauberte Schlange war, die gegen Magieeinwirkung schützt? Und woher wusstest du, was zu tun ist?“

Das sommersprossige Mädchen zuckte mit den Schultern: „Es war so eine Ahnung. Irgendwie wusste ich auch, das ein natürlicher Feind der Schlange den Zauber brechen würde; wie zum Beispiel ein Wiesel.“

Gundel richtete den Zeigefinger auf ihre Schülerin: „Sagte ich dir nicht gelegentlich, dass du deinen Eingebungen vertrauen sollst?“

Ariana blickte zu Boden: „Zweimal. Täglich. Wenigstens.“

Ihre Lehrmeisterin lächelte.

Das Mädchen fragte: „Was wirst du nun tun? Du kannst sie doch nicht vor ein Gericht bringen, was sie zum Tode verurteilen würde. Schließlich ist sie deine Tochter!“

Die alte Hexe schüttelte den Kopf: „Ob sie mein Kind ist oder nicht: Ich bin eine Hexe und  Lebensbewahrerin. Aber wenn ich sie laufen lassen, sterben noch mehr von uns. Deshalb werde ich sie zu den Elfen bringen, nach Nhivalis. Das schöne Volk beherrscht Zauber, mit denen schon so mancher Fehlgeleitete zur Einsicht gebracht wurde.“

„Hm – hast du mich nicht auch gelehrt, dass Strafe sein muss, um das begangene Unrecht auszugleichen?“

„Glaube mir, es ist Strafe mehr als genug“, seufzte Gundel und begann ihren Esel zu satteln: „Die Meisten, die auf diese Weise geläutert wurden, haben ihr restliches Leben in bitterer Reue verbracht. “

Ariana klang zweifelnd: „Die Meisten? Und was ist mit den anderen?“

Gundels Stimme war schwer: „Die Scham hat sie in den Tod getrieben.“