Von Ursula Riedinger

«Sollen wir näher rangehen? Getraut ihr euch? Sie ist im Garten.»

Katia und Vanessa wechselten einen Blick.

«Klar, was soll schon dran sein? Sie ist doch eine ganz normale Frau.»

«Spinnst du, Katia, das ist eben keine normale Frau. Meine Mutter sagt immer, dass wir uns vor ihr in Acht nehmen sollen, sie sei gefährlich.»

«Was meint denn deine Mutter, Liza?»

«Ach was, jetzt gehen wir einfach mal näher ran. Was soll schon passieren?»

Als sie ein paar Meter vom Zaun entfernt vorbeischlichen, schaute die Frau auf und starrte sie an. Sie trug wie immer einen langen bunten Rock in Rot-Orange-Lila-Tönen. Dazu einen alten grünen selbstgestrickten Pullover. An den Füssen Gummistiefel. Ihre Haare waren feuerrot.

«Was glotzt ihr so, habt ihr noch nie eine Hexe gesehen? Wenn ihr mir hier beim Umgraben helfen wollt, nur zu. Sonst macht, dass ihr wegkommt.»

Dann erschien etwas wie ein schiefes Lächeln auf ihrem Gesicht.

Die Mädchen schauten sich an, dann rannten sie davon. Die Stimme der Frau hatte ganz nett geklungen, auch wenn sie barsch gewesen war. Aber so nahe wollten sie doch nicht zu ihr hin. Schweigsam machten sie sich auf den Nachhauseweg. Liza war als erstes zuhause.

«Also tschüss, und erzählt ja nichts daheim.»

Lizas Mutter war schlecht gelaunt, das war leicht zu erkennen. Im anderen Zimmer flennte ihr kleiner Bruder.

«Wo bleibst du denn, ich warte mit dem Mittagessen auf euch.»

«Und Papa?»

«Papa, Papa, … der kommt später. Aber du hättest schon vor einer halben Stunde hier sein müssen.»

Trotz Abmachung mit ihren Freundinnen rutsche es Liza raus.

«Tut mir leid, wir sind noch am Waldrand entlanggegangen. Bei der rothaarigen Frau vorbei. Sie ist doch nur eine normale Frau, sagt jedenfalls Katias Mutter.»

«Mein Gott, Liza, mit der Frau stimmt was nicht, so wie die aussieht. Vor ein paar Jahren zugezogen von wer-weiss-woher. Und ihr Name, Iduna. So kann man doch gar nicht heissen. Lebt völlig allein, spricht mit niemandem. Das ist eine Hexe.»

«Aber mit uns hat sie gesprochen.»

«Schluss jetzt, hilf mit lieber und deck den Tisch. Dann kannst du deinen ungezogenen Bruder holen. Mittagessen hat der eigentlich nicht verdient.»

Am nächsten Tag war die Schule eine Stunde früher aus. Die Freundinnen gingen schnurstracks zum Häuschen der Frau. Hexe mochten sie sie nicht nennen. Die Erwachsenen hatten offenbar unterschiedliche Ansichten, was Iduna anging. Katias Eltern sagten, dass es keine Hexen gäbe, vielleicht sei sie nur eine verbitterte einsame Frau. Und das wollten sie jetzt rausfinden. Sie hatte ja selbst gesagt, dass sie eine sei, eine Hexe.

«Ich muss aber früher zuhause sein als gestern, sonst gibt es ein Donnerwetter.»

Die Frau hatte schon einen grossen Teil ihres Gartens umgegraben. Nun pflanzte sie Setzling.

Vanessa wagte sich vor.

«Guten Tag Frau Iduna, haben Sie alles alleine geschafft?»

Dieses Mal blickte die Frau freundlicher in ihre Richtung.

“Ja, aber ich könnte Hilfe brauchen beim Einsetzen, sonst spüre ich es abends im Kreuz.”

Die Mädchen setzten die Pflanzen ein, die Iduna ihnen reichte, eine drückte die Erde an, die andere machte das nächste Loch. In einer halben Stunde hatten sie zwei Beete geschafft.

“Das ist ja ganz toll von euch, dass ihr einer älteren Frau helft. Kommt rein, ich habe euch etwas zu trinken.”

Die Mädchen zögerten.

“Was ist, mögt ihr keinen Erdbeersirup? Selbstgemacht.”

Katia wagte es.

“Sind sie wirklich keine Hexe? Das haben Sie doch gestern selbst gesagt.”

“So nennen mich die Leute halt, die mich für verrückt halten. Und wenn man jemanden nicht traut, oder sogar Angst vor ihm hat, dann kommen schnell Gerüchte auf. Ich bin keine Hexe, auch wenn ich Kräuter sammle und Heilmittel herstelle.”

Der Erdbeersirup schmeckt herrlich. Dazu reichte ihnen Iduna einen Beeren-Schoko-Riegel. Dann schaute Liza erschreckt auf ihre Uhr.

“Ich muss in 5 Minuten zuhause sein. Tschüss, und vielen Dank.”

Katia und Vanessa schauten sich im Häuschen von Iduna um. Überall standen Marmeladegläser, hingen getrocknete Kräuter und Fruchtschnitze an der Decke. Dann kam eine schwarze Katze zum Fenster reingesprungen. Als er die fremden Menschen sah, sog er sich unter den Tisch zurück.

“Das ist Mikesch, ein richtiger Hexenkater, findet ihr nicht?”

Die Mädchen schauten Iduna zweifeln an. Sie lachte.

“War doch nur ein Witz. Also tschüss, und vielen Dank für eure Arbeit.”

Jede freie Minute verbrachten die Mädchen jetzt bei Iduna. Aber Liza sprach mit ihrer Mutter nicht mehr darüber.

“Wieso sind Sie denn so anders? Die Leute erzählen sich komische Sachen über Sie.”

“Das ist eine lange Geschichte. Ich weiss nicht, ob ihr das alles verstehen könnt. Ich war eine junge wilde Frau, die an die Freiheit und an die Liebe glaubte. Aber dann passiere ein Unglück. Ein kleiner Junge starb, auf den ich hätte aufpassen sollen. Ich konnte aber nichts dafür. Danach geriet mein Leben aus der Bahn. Mein Freund verliess mich. Im Dorf wurde ich wie eine Verbrecherin angesehen, deshalb zog ich weg, von Ort zu Ort. Hier gefällt es mir, aber ich bleibe lieber für mich allein und versuche nicht aufzufallen. Könnt ihr das verstehen?»

«Ja, schon, aber Ihre Haare!»

«Ich weiss, aber wegen der Haare ist man doch nicht gleich eine Hexe.»

Nachdenklich gingen die Mädchen an diesem Abend nach Hause.

In den Sommerferien gingen Katia und Liza alleine zu Iduna. Vanessa war mit den Eltern ans Meer gefahren. Der Sommer war heiss und trocken. Oft gingen sie auch baden.

Dann, eines nachts brach ein schreckliches Gewitter aus. Blitze schlugen ganz in der Nähe ein. Liza wachte auf, ihre Eltern waren schon auf den Beinen und schauten nach den Hühnern. Die alte Scheune war getroffen worden. Gemeinsam aber schafften sie es, das Feuer zu löschen. In der Ferne aber brannte der Wald. Auch andere Nachbarn waren auf den Beinen und diskutierten. Man musste die Feuerwehr alarmieren.

Liza kam plötzlich Idunas Häuschen in den Sinn. Sie musste hin. Sie schaffte es, unbemerkt davonzuschleichen. Als sie näher herankam, sah sie, dass das Haus ebenfalls brannte.  

“Iduna, wo sind Sie”, schrie das Mädchen. Vor lauter Flammen und Rauch konnte sie fast nichts sehen. «Iduuuna.» Sie rannte zurück.

“Die Feuerwehr muss ganz schnell zum Haus von Iduna”, rief sie ihrem Vater zu.

“Die Feuerwehr ist alarmiert, die werden schon schauen.”

“Aber es eilt, das ganze Haus brennt schon.”

Am Wochenende stand im Anzeiger des Städtchens.

Ein starkes Gewitter hat einen Teil unseres Städtchens vernichtet. Auch ein Grossteil unseres Stadtwaldes wurde Opfer der Flammen. Zum Glück waren keine menschlichen Opfer zu beklagen. Es gibt Gerüchte, dass das Feuer gelegt wurde, was aber nicht bewiesen werden kann. Wir gehen jedoch davon aus, dass es tatsächlich Blitzeinschläge waren, die die trockenen Felder, Bäume und Häuser in Brand setzten.

Liza war traurig und wenn sie alleine war, weinte sie und trauerte um Iduna, die Frau, die ihr so ans Herz gewachsen war. Liza, Katia und Vanessa sprachen oft über Iduna. Niemand hatte eine tote Frau in den Trümmern ihres Häuschens gefunden. Was war aus Iduna geworden? War sie weggegangen?

Nur der Kater Mikesch lief auf die Mädchen zu, als sie sich erstmals trauten, näher an den ehemaligen Garten von Iduna heranzugehen. Liza wusste, dass sie nicht mit einer fremden Katze kommen konnte. Darum nahm Katia den Kater mit nach Hause. Zwar sträubte er sich anfangs, dann aber blieb er bei ihr.

Im folgenden Jahr entstand auf den Feldern nahe beim Wald eine riesige Überbauung. Der Unternehmer Schultze & Co. hatte die Gelegenheit genutzt und die Fläche des abgebrannten Waldes und der Wiesen davor, dort wo das Häuschen der rothaarigen Frau gestanden hatte, zu einem günstigen Preis der Gemeinde abgekauft.

Eines Tages, als die drei Freundinnen auf dem Heimweg in der Nähe des Ortes vorbeikamen, wo Iduna gewohnt hatte, fanden sie im Gras eine Botschaft: eine Flasche mit Erdbeersirup, von Idunas Hand beschriftet. Sie schauten sich alle drei an begannen zu strahlen. Iduna war hier noch irgendwo.

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