Von Heike Weidlich

„Wingardium Leviosa.“. Der Besen in der Ecke vibrierte, hob ab und schwebte auf sie zu. Beinahe vierzig Jahren war es her, dass sie diese köstliche Vorahnung verspürt hatte. Sie hob die Hand, strich über die unzähligen Falten und Runzeln in ihrem Gesicht. Dann griff sie nach dem Besen: Endlich! Kichernd drehte sich die Alte im Kreis, wobei sie von Zeit zu Zeit mit dem Besenstiel auf den Boden stieß.

 

„Mensch, was machen wir bloß?“ Franz kratzte sich am Kopf. „Dieter hat sich krank gemeldet, die Karre springt nicht an und das ganze Zeug hier muss noch raus. Morgen ist Feiertag.“ Dabei zeigte er auf eine graue Postkiste, beinahe an den Rand gefüllt mit Briefen, Postkarten und einigen kleineren Paketen.

„Das kann ich doch machen, wo ist das Problem?“ Ina sah Franz fragend an.

„Du bist gut. Hast du eine Vorstellung davon wieviel Arbeit das ist?“

„Jetzt bin ich schon zwei Wochen hier und immer noch lasst ihr mich nur die doofe Tippserei erledigen. Für was bin ich denn da? Ich will doch schließlich was lernen!“ Ina schob die Unterlippe vor.

Dieter sah sie zweifelnd an. Ina war Praktikantin in ihrer kleinen Postfiliale. Sie war entschlossen, eine Ausbildung bei der Post zu machen. Ihrem Vater, seinem alten Schulfreund, schwebte jedoch vor, dass Ina in seine Fußstapfen treten und seine Kanzlei übernehmen würde.

So hatten sie einen Deal geschlossen: Ina würde nach ihrem Schülerpraktikum, auch die kompletten Sommerferien in der Poststelle Hagendorf arbeiten. Hielte sie dann immer noch an ihrem Wunsch fest, würde ihr Vater ihr nicht mehr im Weg stehen. Ina war fest entschlossen: Sie würde Postbeamtin und keine Rechtsverdreherin werden.

Dieter überlegte: Er war Herbert noch einen Gefallen schuldig und hatte versprochen, Ina unter seine Fittiche zu nehmen und sie außerdem mit möglichst langweiligen Aufgaben zu betrauen. Er hatte zwar ein schlechtes Gewissen deswegen – aber versprochen war versprochen. Doch heute konnte er darauf keine Rücksicht nehmen.

„Ok, hier hast du einen Straßenplan. Ich kümmere mich solang um den Wagen. Vielleicht bring ich ihn zum Laufen.“

Ina grinste und begann die Post zu sortieren.

 

 

Das Gefühl verstärkte sich. Nun war sie sicher. Sie warf einen Blick auf die beinah leeren Töpfe und Tiegel, welche die Ingredienzen für ihre Salben und Tinkturen enthielten: Es wurde höchste Zeit – ihre Vorräte gingen zur Neige.

Sie hob ihren Zauberstab: „Incendio!“ Aus der Feuerstelle inmitten des Raumes schlugen die Flammen. Es musste heiß sein, wenn sie mit ihrer Prozedur begann. Langsam erst, dann immer schneller, begann sie um das Feuer zu stampfen, dass ihre Röcke nur so flogen.

 

 

Kurz nach vier hatte Ina beinahe alle Post verteilt. Sie ging kurz zur Toilette, schenkte sich einen Kaffee ein, streifte ihre Schuhe ab  und zog sich einen zweiten Stuhl an ihren Schreibtisch, auf welchen sie ihre Füße legte.

Franz kam zur Tür herein: „Donnerwetter, jetzt schaff ich seit Stunden an diesem Karren herum, aber das wird nix. Ich muss ihn in die Werkstatt bringen. Wenn ich Glück hab, hat der Meier von nebenan Zeit um den Wagen abzuschleppen.

Mit einem Blick auf die beinah leere Kiste fragte er Ina:  „Und, wie war’s?“

„Cool! Zweimal bin ich sogar auf einen Kaffee eingeladen worden. Ich glaub, die waren neugierig, wer jetzt hier die Post austrägt.“

Franz bekam langsam Zweifel, ob Herberts Rechnung aufgehen würde. Es sah nicht danach aus.

„Bist du fertig geworden?“

„Fast. Nur einen Brief hab ich noch. Aber ich musste so dringend aufs Klo. Außerdem hab ich die Adresse auf dem Straßenplan nicht gefunden.“ Damit hielt sie ihm den letzten Brief hin.

Franz wurde blass: „Ina, den kannst du nicht ausliefern.“

„Wieso jetzt? Du hast doch gesagt, alles muss raus, sonst rotieren die in der Verwaltung wieder!“

Franz wand sich: „Ja, schon. Aber den muss Dieter oder ich da raus bringen.“

„Und wie stellst du dir das vor? Soll ich etwa das Auto zur Werkstatt fahren?“

„Du hast ja nicht einmal einen Führerschein. Aber den Brief zustellen? Das geht nicht!“

„Was spricht denn dagegen?“ Ina sah ihn fragend an. „Also, das kapier ich echt nicht!“

Franz setzte sich ihr gegenüber. „Ina, ich …, nein warte, ich zeig dir was.“ Er stand wieder auf und fing an, in einer der Schubladen des großen Aktenschranks zu wühlen. „Hier, da hab ich’s.“

Er schob ihr einen alten, vergilbten Zeitungsausschnitt zu. „Lies das.“

„Mensch, Franz! Die Zeitung ist von 1982. Wieso soll ich jetzt diese ollen Kamellen lesen?“

„Lies!“

Also fing Lea an zu lesen. Der Artikel handelte von einem Mädchen aus dem Ort: Elke, damals 18 Jahre alt und 1981 spurlos verschwunden. Ein halbes Jahr später wurden Überreste einer weiblichen Leiche im Hagenwald gefunden. Die Untersuchungen hatten zweifelsfrei ergeben, dass es sich dabei um die vermisste Elke handelte. Laut dem Zeitungsbericht, waren bereits 1953 sowie in den frühen zwanziger Jahren ebenfalls Mädchen verschwunden und später tot aufgefunden worden. Alle bestialisch ermordet.

„Quasi ausgesaugt“ fügte Franz leise hinzu.

„Das ist ja grässlich! Aber was hat denn das mit dem Brief zu tun?“ Verständnislos sah Lea ihn an.

„Die Empfängerin des Briefes wohnt in einem kleinen Haus, eigentlich eher einer Hütte, direkt am Waldrand.“

„Aha! Und jetzt glaubt ihr die hat sie auf dem Gewissen?“

Franz lachte: „Die Alte? Quatsch! Die kümmert sich mit allerlei Quacksalbereien um die Geschöpfe des Waldes. Solange ihre Post pünktlich kommt, will die von Ihresgleichen nicht viel wissen.“ Dann wurde er wieder ernst: „Alle Mädchen wurden im Hagenwald aufgefunden. Damals wurde  ein Schild angebracht, dass alle Mädchen und Frauen davor warnt, den Wald alleine zu betreten“.

„Also Franz, echt! Das ist ja wirklich eine gruslige Geschichte, aber das glaub ich jetzt nicht! Das ist bald vierzig Jahre her! Das kann doch nicht euer Ernst sein. Was glaubt ihr denn wer die Mädchen auf dem Gewissen hat? Der müsste doch jetzt steinalt sein – wenn er überhaupt noch lebt. Oder habt ihr eher an einen Werwolf gedacht?“

Franz gab keine Antwort.

„Jetzt komm schon. Erklär mir wie ich dahin komm. Dann schnapp ich mir das Fahrrad, bring der Ollen ihren Brief, und in null Komma nichts bin ich wieder da. Du kannst in der Zwischenzeit dafür sorgen, dass unser Fahrzeug wieder in Ordnung kommt. Deal or no deal?“

Franz war hin und hergerissen. Aber was sollte er machen? Wenn die Alte sich wieder beschwerte, weil ihre Post angeblich nie rechtzeitig zugestellt würde, bekäme er Ärger. Und genau genommen hatte Ina ja recht: Olle Kamellen. Altweibergewäsch.

„Ok, was soll’s! Aber beeil dich!“

 

Im Kamin brannte nun ein wahres Höllenfeuer. Trotzdem legte sie Scheit um Scheit in die Flammen. Alles war vorbereitet. Auf dem langen Holztisch waren die nötigen Instrumente und Utensilien bereitgestellt. Ihre Erregung wuchs von Minute zu Minute. Sie konnte spüren, dass sie näher kam. Die Falle war ausgelegt, und heute würde sie zuschnappen.

 

 

Es war beinah fünf Uhr, als Ina sich endlich auf’s Rad schwang, um den letzten Brief auszuliefern. Jetzt musste sie ordentlich in die Pedale treten. Zum einen würde es spätestens in einer dreiviertel Stunde dämmrig werden. Zum anderen fand heute in der Dorfdisco eine Art „Tanz in den Mai“ statt. Das wollte sie sich nicht entgehen lassen, und sich vorher natürlich noch ein bisschen aufhübschen.

Während sie den Feldweg entlangstrampelte bemerkte sie, wie der Wind auffrischte. Am Horizont ballten sich bereits dunkle Wolkenberge. Als Ina an dem von Franz erwähnten Schild vorbei kam, beschlich sie mit einem Mal ein seltsames Gefühl. Angst? Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie würde sich doch von diesen alten Geschichten nicht ins Bockshorn jagen lassen. Trotzdem behielt sie die Umgebung genau im Auge und war froh, als endlich das Häuschen der Adressatin in Sicht kam.

Aufatmend stellte sie ein paar Minuten später ihr Fahrrad ab und ging auf die Hütte zu. Das unangenehme Gefühl – sie bestritt mittlerweile nicht mehr, dass es sich um Angst handelte, verstärkte sich. Die Härchen an ihren Armen stellten sich auf.  Am liebsten wäre sie wieder aufs Rad gestiegen und so schnell sie konnte abgehauen. Brief hin oder her. „Das gibt’s doch nicht. Jetzt reiß dich aber mal zusammen. Erst eine große Klappe und dann den Schwanz einziehen.“ Sie straffte die Schultern und ging auf das Häuschen zu. Plötzlich blieb sie wie erstarrt stehen.

 

 

„Imobilius!“ Sie sah, dass das Mädchen wie angewurzelt stehen blieb und ließ ihren Zauberstab sinken. Die Situation musste ausgekostet werden. So lange hatte sie warten müssen. Seit drei Jahren nun hatte sie jeden Monat einen Brief an sich selber abgeschickt. Immer voller Hoffnung. Doch lediglich die beiden Postangestellten waren regelmäßig hier aufgetaucht. Verächtlich verzog sie den Mund. Mit denen konnte sie nichts anfangen. Aber heute, in der Walpurgisnacht, würde es soweit sein. Sie zitterte vor Aufregung und hob abermals ihren Zauberstab: „Flipendo!“

 

 

Wie von Zauberhand setzten sich Inas Beine so plötzlich wieder in Bewegung, dass sie beinahe gestürzt wäre. Jetzt war ihr alles egal.  Sie wollte nur noch weg von hier. Aber ihre Beine liefen, ohne auf sie zu hören, weiter auf das Haus zu. Als sie direkt davor stand, ging dessen Türe auf und ein Kopf kam zum Vorschein.

„Krass“ schoss es Ina noch durch den Kopf. „Wie die Hexe bei Hänsel und Gretel.“

„Komm herein mein Kind“, war das Letzte was sie hörte.

 

 

 

                                            Mädchen vermisst.

Trotz intensiver Suche konnte Ina B., die seit 30. April 2018 vermisst wird, bisher nicht aufgefunden werden. Die Polizei bittet um Hinweise aus der Bevölkerung und warnt alle Frauen und Mädchen eindringlich davor, sich alleine in der Nähe des Hagenwalds aufzuhalten. …

 

 

 

Sie ließ die Zeitung sinken, um sich im Spiegel zu betrachten. Beim Anblick des glatten Antlitzes, lächelte sie: In dreißig oder vierzig Jahren würde kaum mehr jemand daran denken. Sie hob den Zauberstab und die Zeitung flatterte wie ein Vogel direkt  ins lodernde Feuer, wo sie zusammen mit dem Brief in Flammen aufging.

 

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