Winfried Dittrich

Die Zeitschaltung der Hauselektrik hatte die Stromzufuhr zum Flurlicht des Mehrfamilienhauses vor drei Minuten unterbrochen. Niemand schaltete es wieder ein. Das bedeutete, niemand war mehr im Keller. Jetzt war er allein.

***

Zwei Stockwerke darüber war seine Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung. Wie der bequeme Wohnzimmersessel, in dem sie saß, war auch ihr Blick auf den Fernseher ausgerichtet, der eine Talkshow mit wild aufeinander einredenden Menschen zeigte.

Doch ihr Blick schweifte immer wieder von der Mattscheibe ab. Zuerst auf die massive Schrankwand aus dunklem Holz, dann auf den leeren Sessel, der am gegenüberliegenden Ende des Wohnzimmertisches stand. Schließlich zog sie die flimmernde Röhre wieder in ihren Bann.

Plötzlich stand sie auf und ging im Wohnzimmer herum. Am Fenster zog sie den bodenlangen Vorhang zur Seite und blickte dahinter, als ob sie etwas suchen würde. Sie ging weiter, langsam von Raum zu Raum, öffnete eine Tür nach der anderen. Überall sah sie hinter Vorhängen nach, in Schränken und Nischen, um den Raum unverrichteter Dinge wieder zu verlassen. Zurück im Wohnzimmer blickte sie umher.

„Hallo?“, rief sie erst leise. „Hallo?“, dann etwas lauter. „Hallo!“

Niemand antwortete und sie setzte sich wieder in den Sessel.

***

In der Dunkelheit und Stille des Kellers konnte er seine eigenen Atemzüge hören. Soll ich diesen Schritt wirklich gehen? Das fragte er sich immer wieder.

Alles hatte er bis ins Detail durchgeplant und durchdacht. Für die nächsten zwei Stunden wäre er für sich allein. Die Tür war verriegelt, Anneliese oben in der Wohnung versorgt und beschäftigt. Monika würde erst zum Spazierengehen und nachher zum Abendessen kommen.

Er atmete tief durch, schloss die Augen und lauschte. Er glaubte, hören zu können, wie das Blut in seinen Adern pulsierte. Wann hatte er zuletzt eine solche Aufregung verspürt?

***

Annelieses Blick schweifte erneut von der flimmernden Röhre ab. Sie blickte hoch zu einer Reihe von Bilderrahmen, die ordentlich aufgereiht in der Schrankwand standen.

Dort waren Fotografien von Sommerurlauben zu sehen. Braun gebrannte Menschen, die in Badebekleidung vor einem Campingwagen saßen. Daneben Familienaufnahmen.

Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigte ein Paar mit zwei kleinen Kindern. Der Junge im Anzug mit kurzer Hose, das Mädchen in einem schicken Kleid. Ein zweites Foto zeigte das inzwischen älter gewordene Paar mit zwei pubertierenden Kindern. Ein drittes dieselbe Familie mit dem erwachsenen Sohn im kleinen Dienstanzug der Bundeswehr – mit grünem Barett und grauer Uniformjacke.

Das letzte Bild in der Reihe zeigte die älter gewordene Familie, die beiden Kinder mittlerweile in ihren Vierzigern, das Elternpaar links und die Tochter rechts neben einem Pflegebett, in dem der Sohn lag. Ein kranker Körper, kahlköpfig, aufgedunsen, mit Schläuchen und Kabeln versehen.

 

***

Im Keller füllten Gedanken und Erinnerungen den Raum.

Trotz der Kindheit mit einem trinkenden Vater, trotz des Kriegs, trotz der schweren Zeit danach verlief das Leben doch glücklich. In sechs Jahren als Soldat war er dem Tod ein paar Mal von der Schippe gesprungen. Das Schicksal meinte es eigentlich immer gut mit ihm. Wie sein Zigarettenetui, das er stets in der Brusttasche seiner Uniform getragen hatte. Sein Glücksbringer. Ausgerechnet das Rauchen hatte sein Leben gerettet.

Aber wo war das Glück jetzt hin?

***

Anneliese war wieder aufgestanden. Sie trat näher an die Schrankwand heran und sah sich noch einmal die Familienbilder an.

In einem separaten Fach stand ein sehr altes, schon vergilbtes und an den Seiten eingerissenes Foto. Ein Portrait eines attraktiven jungen Mannes. Ein junger Soldat in Wehrmachtsuniform. Mit Zuversicht in den Augen. Mit ihrem Zeigefinger strich sie über das Gesicht und lächelte kurz auf.

In dem Fach der Schrankwand lag hinter dem Fotorahmen ein altes Zigarettenetui. Ein Stück Metall hatte sich durch den Deckel gebohrt, die Rückwand aber nicht durchstoßen. Anneliese nahm es heraus, betrachtete es einen Moment lang und legte es wieder zurück.

***

Im Keller war er jetzt vollkommen in seinen Gedanken versunken. Noch im Krieg hatte er Anneliese getroffen. Bei einem der seltenen Heimaturlaube. Kurz nachdem sein Zigarettenetui einen Querschläger zurückgehalten hatte. Das Etui hatte ihm das Leben gerettet. Auf seiner Brust hinterließ es nur einen Abdruck. Sie aber, Anneliese, hinterließ einen Abdruck in seinem Herzen.

Obwohl er wieder an die Front gehen musste, hatte sie auf ihn gewartet. Sie hatte den Krieg und sogar seine Gefangenschaft abgewartet. Sie hatte ihn geheiratet, obwohl er nicht getauft war. Sie hatte ihm die Kinder geschenkt, Monika und Heinrich.

Sie hatte so viel erduldet. Die vielen Tage, an denen er nicht nach Hause kommen konnte, bis er Ende der 70er Jahre den Beruf als Vertreter an den Nagel hängte.

Anneliese – Freundin, Ehefrau, Partnerin, Vertraute, mit der er über alles sprechen konnte. Seine Anneliese. Mit ihr teilte er so Vieles. Die sonnigen Campingsommer am Mittelmeer. Die langen Spaziergänge im Winter. Die ausführlichen Diskussionen über Wichtiges und Unwichtiges, über Freudiges und Trauriges. Die Gespräche über die Kinder und Enkelkinder.

Und wie er sie liebte. Mit ihr konnte er alles im Leben durchstehen. Sie war der Topf, er war der Deckel. Nur der Topf wurde mit der Zeit löchrig.

***

Anneliese hielt es nicht länger im Wohnzimmer. Sie ging erneut von Zimmer zu Zimmer. Sie war auf der Suche. „Hallo?“, sagte sie von Zeit zu Zeit. „Ist da jemand? Hallo?“

Ein Telefon klingelte im Flur. Es stand auf einem Telefonbänkchen neben der Garderobe. Anneliese schritt in den Flur, dem lauten Klingeln folgend, und nahm den schweren Hörer ab.

„Guten Tag, Anneliese Althaus am Apparat.“ Im Hintergrund hörte man ein Rauschen.

„Hallo Mutter, hier ist Monika. Gib mir mal bitte den Vater ans Telefon“, sagte eine weibliche Stimme.

„Wer ist da? Ich kenne keine Monika. Hier ist Althaus am Apparat. Sind Sie vielleicht falsch verbunden?“

„Mutter, nein. Ich bin es. Monika. Deine Tochter. Monika Schulte. Und du lebst bei deinem Ehemann, Hermann Schulte. Versuch bitte, dich zu erinnern. Anneliese und Hermann Schulte. Verheiratet seit 1950, in Wattenscheid“, sagte die Stimme konzentriert und formelhaft. Es schwang ein Funken Verzweiflung mit. „Mutter, sag ihm einfach, dass ich jetzt gleich schon zu euch komme. Ich habe heute eher frei bekommen und sitze schon zwei Stunden im Auto. Heute ist der vierte Todestag von Heinrich und wir wollten zusammen zum Friedhof gehen und danach gemeinsam essen.“

„Ich kenne keinen Heinrich. Sie…“

„Mach bitte eine Notiz für ihn. Ich bin in ein paar Minuten da. Liegen da nicht immer Zettel neben dem Telefon. Bitte schreib es einfach drauf!“

„Ja, hier liegen Zettel. Ich schreibe: Hermann: Monika kommt jetzt gleich.“ – „Aber ich bin doch noch gar nicht mit Hermann verheiratet. Er ist gerade erst aus der Gefangenschaft zurückgekommen. Wir müssen noch das Aufgebot bestellen. Wollen Sie vielleicht mit meinem Vater sprechen?“

„Danke, Mutter.“

 

Anneliese blickte auf den Zettel, auf dem sie gerade die Nachricht notierte hatte. Es war der Kassenbon eines Baumarktes.

 

Folgende Artikel waren damit abgerechnet worden:

 

Hartmetall-Steinbohrer, Durchm. 16 mm, Länge 400 mm, 18,99 DM,

Schwerlastdübel, Mehrfach-Spreizung, 16 mm (20 St.), 11,99 DM,

Dübelschrauben, für 16 mm-Dübel, (10 St.), 17,99 DM

Tritthocker, PVC, Höhe 30 cm, klappbar, 17,95 DM

Schwerlast-Deckenhaken, Edelstahl, Tragf. 600 kg, 25,95 DM

 

An den Kassenbon war die Rechnung eines Geschäftes für Bootszubehör geheftet. Anneliese klappte den Kassenbon zur Seite und legte die Artikelbezeichnung auf der Rechnung frei.

 

Polypropylenseil, weiß/blau, Festmacherleine, Allzweckseil, Strick, Leine, Flechtleine – Bruchlast: 1.400kg, 20m x 8mm, 49,99 DM

 

***

Die Demenz hatte Anneliese schon vor Jahren einfach gehen lassen. Tagein, tagaus bestimmte das Vergessen ihr Leben. Nur noch selten war sie wirklich da, präsent, im Hier und Jetzt.

Es begann, als sie an einem Tag über Stunden nicht von einem Einkauf zurückkam – bis sie von der Polizei nach Hause gebracht wurde. Von da an übernahm Hermann den Haushalt, zum ersten Mal in seinem Leben. Später verstand Anneliese nicht, dass Monika sich hatte scheiden lassen. Und auch nicht, dass kein Kontakt mehr zu dem fast erwachsenen Enkelkind bestand. Als ihnen dann auch noch Heinrich genommen wurde, da wurde es immer leidvoller. Vor allem für Hermann.

„Wo ist denn Heinrich? Wie geht es denn Heinrich?“, fragte sie lange Zeit täglich. Und so brachte sie die große Trauer jeden Tag neu in das gemeinsame Leben zurück. „Was, er ist tot? Das glaube ich nicht!“, sagte sie jedes Mal, wenn sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr. Und es folgte an jedem Tag für Anneliese der Schock und für Hermann die unendliche Trauer darüber, das eigene Kind verloren zu haben. Das war so anstrengend, so belastend, so zermürbend. Immer wieder rissen die alten Wunden auf. Wie sollte das weitergehen?

Seit einer Woche machte die Krankheit einen neuen Schub. Dieser Schub beförderte Anneliese noch weiter in ihre Vergangenheit. Sie glaubte nun meistens, sechsundzwanzig Jahre alt und verlobt mit Hermann zu sein. Zeitweise glaubte sie, zusammen mit ihrem älteren Bruder, der ebenfalls Hermann hieß, und den Eltern in der alten Wohnung zu leben. Monika erkannte sie nicht mehr. Sie ließ ihre eigene Tochter nicht mehr an sich heran. Monika wäre jetzt auch keine Hilfe mehr, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie wohnte ohnehin zu weit weg.

Wie sollte man das weiter alleine durchstehen? Das war zu viel. Das war nicht mehr erträglich. Das war einfach nicht mehr auszuhalten.

Es war die Zeit gekommen, etwas zu unternehmen. Es war seine Zeit gekommen.

Hier im Keller konnte nichts mehr schiefgehen. Langsam und vorsichtig hob er den rechten Fuß an und verlagerte sein Körpergewicht nach vorne, um den einen Schritt zu machen. Unter seinem linken Fuß rutschte der Hocker weg.

 

Version 3