Von Hans-Günter Falter

Feijoada, meine Lieblingsspeise, jeden Samstag freue ich mich wieder darauf, oft gibt es sie auch mittwochs. Ich liebe diesen Eintopf mit schwarzen Bohnen, manchmal mit Pökelfleisch, je nachdem, und den Geruch von Reis und scharfer Pfeffersoße. Aber die, also die Pfeffersoße, gibt es nur selten.
Das ganze Haus duftet dann so herrlich nach Nelke, Lorbeer, Knoblauch, Zwiebeln oder eben auch Pfeffersoße. Ach was, das ganze Stadtviertel verströmt diesen Wohlgeruch, denn fast alle kochen samstags dieses Gericht. Meine Mutter macht es auf ganz spezielle, unnachahmliche Art, die sich nicht beschreiben läßt, mit dieser besonderen Prise von Liebe, Vertrautheit und Gefühl, Gemeinschaft und Geborgenheit. Das läßt sich wirklich herausschmecken. Wirklich. Keine Einbildung.
Auch an den anderen Tagen duftet es nach Palmöl, Kokosmilch, Reis, Chili, Tomaten und Mandioka. Immer. Wenn nicht bei uns zuhause, dann bei den Nachbarn, von denen wir hier im Paradies umgeben sind. Unser Ortsteil heißt nämlich Paradiesische Stadt, aber wir nennen es nur Paradies.

Unser kleines Haus mit den winzigen Räumen, steht weit oben auf einem Hügel und ist umgeben von unzähligen anderen kleinen Häusern. Es befindet sich direkt an der steilen Treppe mit den unzähligen Stufen.

Wir gehen jeden Tag sehr früh in die Fabrik und arbeiten da in der Gerberei. Dort riecht es immer sehr intensiv, aber man merkt es nach ein paar Minuten nicht mehr. Die Felle liegen in riesigen Trögen und müssen bewegt werden, das ist sehr anstrengend, meistens machen es die Männer. Wir Kinder schieben die Tierhäute in eine Maschine, die Fleischreste abschabt, danach schauen wir, ob auch wirklich alles ab ist, meistens müssen wir aber noch nacharbeiten. Dabei können wir uns leicht mit den scharfen Messern verletzen, aber auch die Häute könnten zerschnitten werden und wären dann wertlos. Es ist eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Anschließend packen wir die Felle in eine andere Maschine, die aussieht wie eine riesige Waschmaschine.

Seit ein paar Wochen kenne ich Sophie, sie wohnt in Deutschland, das ist ein sehr sehr kleines Land, die Menschen dort sind sehr reich. Und Sophie ist nett.
Maria, unsere Sozialarbeiterin hat mir gesagt, dass Sophie uns Geld gibt, damit wir in die Schule gehen können.
„Ana, stell dir vor, wir haben jetzt so viele Leute gefunden, die uns von ihrem Geld etwas abgeben, dass du jeden Tag zur Schule gehen kannst. Sophie ist eine davon, sie möchte dich gerne kennenlernen und mit dir telefonieren.“
„In die Schule gehen?“ Ich freute mich im ersten Moment total, … dann fiel mir aber ein, dass es ja gar nicht geht.  „Das würde ich sehr gerne, aber ich muss doch arbeiten, Geld verdienen, für meine Familie, habe dafür gar keine Zeit“.
„Doch Ana“, sagte da Maria, „das können wir gut regeln, ich habe schon mit deiner Mutter darüber gesprochen.“
„Wenn diese Sophie sowas machen kann, dann will ich schnell mit ihr telefonieren“.
„Jetzt ist es zu spät, Sophie schläft bestimmt schon“.
„Was?, es ist doch erst sieben Uhr abends, ist Sophie krank?“
„Nein, aber in Deutschland ist jetzt schon Mitternacht“.
Verstanden habe ich das nicht, aber am nächsten Morgen telefonierte ich wirklich mit Sophie. Sie redete so merkwürdig, aber das hatte mir Maria schon gesagt, sie erklärte mir, das Sophie sehr gut spanisch und galicisch spricht und die Sprachen sind wohl mit unserer irgendwie verwandt, habe ich schon wieder nicht so richtig verstanden, ist aber egal.

 *

Sophie ist ein sehr sozialer Mensch, sie kann Ungerechtigkeiten nicht ertragen, besonders wenn es um Kinder geht, nicht nur ihre eigenen.
Kinderarbeit, Missachtung von Kinderrechten überhaupt, sind für sie die absolut sensibelsten Themen. Deshalb hat sie vor zwei oder drei Jahren eine Patenschaft übernommen, nachdem sie die wenigen Informationen über Ana von einer Hilfsorganisation erhalten hatte.

Ana lebte als einziges Kind mit ihrer Mutter, ein älterer Bruder ist vor ein paar Jahren gestorben; wie, das blieb etwas unklar. Sophie vermutete Drogen, oder irgendetwas Kriminelles, könnten mit seinem Tod zu tun haben. Aber sie deutete das nur an, wollte nicht altbackenen und stereotypen Vorurteilen Raum geben. Ein weiterer älterer Bruder lebt mit seiner Familie auch in der Nähe, aber nicht am Hang. Der Vater hatte die Familie schon vor Jahren verlassen.
In dem kleinen, verschachtelt gebauten Haus wohnte noch ein Onkel mit seiner fünfköpfigen Familie und Vovó, ihre Großmutter.
Ana schickte einmal ein Bild und kreuzte ihr Haus darauf an. Auf dem Foto wirkte es romantisch und Ana war sehr stolz darauf, weil es Wände aus Ziegelsteinen und vor allem ein dichtes Dach aus Wellblech hatte, was nicht selbstverständlich war.
Sophie hatte Ana sofort in ihr Herz geschlossen.
Unsere Beziehung fing damals an zu bröckeln.

*

Sophie erzählte viel von Ana. Wir überlegten sogar, sie zu besuchen, verwarfen die Idee aber wieder, weil wir aus Prinzip nicht mit dem Flugzeug verreisen und Sophie das Geld lieber direkt für Ana und die Verbesserung der Lebenssituation der Kinder dort einsetzen wollte.

Wenn Sophie von Ana berichtete, konnte ich schon fast die Chemikalien, Gerbstoffe und das Leder riechen. Und ich spürte die Energie, die von diesem elfjährigen Mädchen ausging, aber auch die Enge von der sie umgeben war. Die Enge des Hauses, die Enge des Viertels. Und die alltäglichen Anstrengungen waren zu ahnen; Anstehen nach Wasser, wenn die Leitung wieder einmal kaputt war; Strom, der nur unzuverlässig vorhanden war; ständiges Radio und Fernsehgedudel, aus den unzähligen Nachbarhäusern; Konflikte, durch das enge Zusammenleben; Geruch von Alkohol, Fäkalien, Tabakrauch.
Vor allem anderen war da aber die Verbundenheit der Menschen spürbar, ihre Lebensfreude und ihre unermessliche Kreativität, die auf diesem Nährboden vielleicht ganz besonders gut gedeihen kann.

Manchmal brachten Ana, oder ihre Verwandten, auch Arbeit mit nach Hause, dann klebten sie nach Feierabend Schuhsohlen. Oft bei dem schlechten Licht der nackten Glühlampe, die es im Haus gab, falls denn Strom vorhanden war.
Sie waren froh diese Arbeit zu haben.
Viele Familien in dieser Gegend arbeiteten in der Fabrik. Und noch viel mehr, hätten gerne dort gearbeitet.
Es sind meist die ganzen Familien angestellt, eine weitverbreitete Praxis, weil Kinderarbeit eigentlich verboten ist. Eigentlich heißt in diesem Fall, dass die Regierung findet: lieber arbeiten, als stehlen. Kinderschutz und Schulbildung kommen erst danach. Lange danach, wenn überhaupt.

Durch die Heimarbeit war Ana den Klebemitteldämpfen ausgesetzt und anderen Chemikalien, die noch im Leder vorhanden waren, auch als sie schon regelmäßig in die Schule ging.

In meiner Vorstellung vermischten sich die Chemikalienausdünstungen aber auch immer mit den angenehmen Kochgerüchen, von denen Ana im ersten Telefonat so geschwärmt hatte; den Düften nach Bratöl, Nelke, Lorbeer, Knoblauch, Zwiebeln, Reis, Chili, Tomaten, Mandioka.

Im März wurde Ana plötzlich krank. Atemnot. Es ging ihr, sehr schnell, sehr schlecht. Sophie war ständig mit Anas Mutter und den Sozialarbeitern in Kontakt.
Nach 6 Tagen ist Ana gestorben.

                         **

Epilog

Ohne Vorwarnung.
Ganz unverhofft.
Als das Licht ausging.
Ins Endlose gefallen.
Kein Halt in Sicht.

Kein Boden zu spüren.
Kein Ende abzusehen.
Meine Seele betäubt.
Ein dumpfer Schlag.

Ohne sichtbare Verletzung.
Eingesperrt.
Gleichzeitig.
Im freien Fall.

Die Wucht der Erinnerung schmettert mich nieder. Immer wieder. Wie von einer Keule getroffen. Aus dem Hinterhalt. Ein unbekanntes Spiel. Soll einfach aufstehen und weitermachen. Kenne nicht mal die Spielregeln. Werde abermals niedergeschleudert. Ein Alptraum. Komme nicht zur Ruhe. Gedanken stoßen mich wieder und wieder gegen die Wand. Haben mich fest im Griff. Führen ein Eigenleben.

Du wirst verblassen in meinen Gedanken.
Die Erinnerung an dich wird vergehen. Habe Angst davor. Will dich nicht aus meinem Kopf verlieren. Du bist mir alles. Bist mir Vergangenheit und Zukunft. Und Gegenwart.
Du hattest das exklusivste Abo auf die Geschichten meines Lebens. Habe sie zuerst mit dir geteilt. Habe dir mich gegeben. Habe mich dir ganz gegeben. Gegeben. Ganz und gar.
Es war kein Ende geplant. Nicht von mir. Nicht dieses Ende.
Konnte dich nicht stützen. 

Bin ratlos. Etwas ist zerstört. Du kannst es nicht reparieren. Könntest es nicht reparieren. Wahrscheinlich. Irreparabel. Kannst deinen Schatten nicht überwinden. Kannst deine Gutschriften nicht einlösen. Betäubst deine Verletzlichkeiten. Statt sie zu teilen.
Viel Zeit ist vergangen. Zuviel Zeit. Verschwendete Zeit. Zeitverschwendung, darüber nachzudenken. Ohne Aussicht. Ohne Perspektive. Ohne Mut.

Gefangen.
Wie im Mutterleib gefangen, ohne einen Ausgang zu erkennen. Ohne Hoffnung. Ohne etwas tun zu können.
Aber.
Die Wehen kommen, treiben mich mit unbändigem Druck voran. Kann mich nicht wehren. Ohne Kontrolle.
Wieder.
Mein Körper windet sich. Habe Angst. Unbändige Angst. Das vertraute, gleichmäßige Pochen deines Herzens beruhigt mich nicht mehr. Es ist bedrohlich. Dröhnt. Dumpfes rhythmisches Hämmern lähmt alle Sinne. Wird stärker und schneller. Wird schneller stärker.
Stärker.
Der Druck auf meine Ohren ist kaum auszuhalten. Gewaltig. Der Druck auf meine Augen. Nimmt weiter zu. Steigert sich beängstigend. Ins Unerträgliche. Mein Schädel, kurz vorm Platzen. Quälendes, komprimiertes, rhythmisches Gurgeln betäubt mich. Fast.
Plötzlich.
Ein letzter Schub. Der Druck ist gewichen.
Licht. Grelles Licht. Und Stimmen. Sehr laut. Viel zu laut. Viel zu viel Echo. Viel zu viele Höhen und Mitten. Die vertrauten Bässe fehlen. Vollkommen. Unwiederbringlich.
Abrupt.
Ungeahnter Platz. Arme strecken. Beine strecken.
Nicht mehr gefangen.
Kein Anstoßen an weiche Wände.
An feuchte Wände.
An violette Wände.
Letzte Verbindung zu dir wird gekappt. Brutal. Abgeschnitten.
Befreit.
Jetzt kommt Neues.
Ich werde versuchen dich in Erinnerung zu behalten.
Werde es versuchen.
So viele Eindrücke.
Kann nichts versprechen.