Marianne Apfelstedt

Im Ledersessel mit der hohen Lehne sitze ich in der Nische vor dem geöffneten Fenster und warte. Warme Strahlen der Maisonne streicheln meine Wange und wärmen mich. Zwitschernde Vögel feiern den Frühling. Der Gong der Türglocke tönt leise und kündigt den Besucher an. Ich bemerke einen Hauch würziges Aftershave und frische Minze, vermutlich Mundwasser, als sich eine mittelgroße Person mit energischen Schritten nähert. 

 

„Setzen Sie sich doch zu mir ans Fenster, Herr Feder! Ich genieße den herrlichen Frühlingstag.“

 

„Herzlichen Dank für die Einladung. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, und habe ein Diktiergerät für das Interview mitgebracht. Wenn Sie einverstanden sind?“, begrüßt er mich. „Natürlich dürfen Sie unser Gespräch aufzeichnen Herr Feder, deshalb sind Sie ja hier“, stimme ich ihm zu. „Sie können mich Stella nennen.“

 

„Sehr gern, ich bin Hannes. Bei der Ausstellung in Berlin, vor einem Jahr faszinierte mich das Gemälde Regenbogengarten dermaßen, dass ich deine Vita las. Worauf ich neugierig auf die Schöpferin wurde, so entstand die Idee zum heutigen Interview.“

 

„Hoffentlich hast du etwas Zeit mitgebracht“, hake ich nach. Seine warme, sonore Stimme gefällt mir. Ich suche den passenden Kokon für sein Kolorit und entwerfe eine Skizze. „Hmm, etwa 1,70 groß, sportlich und schlank, höchstens 35. Jeansträger, heute mit Hemd und Krawatte.“ Sein Lachen aus voluminösem Brustkorb perlt an mein Ohr.

 

„Ich habe schon davon gehört, dass du perfekt mit anderen Sinnen siehst. Wie kommst du auf Jeans?“, will Hannes wissen.

 

„Mein Ruf eilt mir voraus“, erwidere ich schmunzelnd. „Die Nähte der Bluejeans reiben aneinander. Du hast beim Hinsetzen den Krawattenknoten gelockert und einen Hemdknopf geöffnet“, kläre ich Hannes auf. „Trinkst du eine Tasse Tee mit mir?“ Mit sicherer Hand greife ich die Teekanne. Erspüre das glatte Porzellan, indem die Linke den Henkelbecher der Kanne entgegen schiebt. Mit den Fingerspitzen überprüfe ich den Abstand zwischen Ausgießer und dem Becher. Kurz bevor der heiße Tee meine Fingerkuppe berührt, setze ich die Teekanne ab. Mit drei Schritten Richtung Hannes Feder reiche ich ihm seine Tasse.

 

„Sehr gern, danke. Bei meiner Recherche stieß ich auf Stella Loibl an der Kunsthochschule in München aus dem Jahr 1954. Wollen wir dort an deiner Vergangenheit anknüpfen und mit der Aufzeichnung beginnen?“, fragt Hannes und positioniert dabei sein Aufnahmegerät auf dem Tisch.

 

„1954? Das war mein letztes Jahr an der Akademie der bildenden Künste. Alle Kunsthochschulen des Bundesgebietes stellten in München aus.“

 

***

 

„Stella, komm mit! Die ersten Kunstobjekte sind aufgestellt, lass uns mal nachsehen, welche Skulpturen schon da sind.“ Bernd nahm fürsorglich meine Hand und bahnte uns den Weg zwischen den vielen Menschen hindurch in die Ausstellungshalle. Ich hakte mich bei ihm ein, passte den Schritt seinem Tempo an und wir eilten vorwärts. Wie Farbkleckse wogten Menschenmassen an uns vorbei. Zerflossen im Strudel der Zeit zu Farbe, Bewegung und Geruch. Das musste ich heute Abend auf die Leinwand bannen. Nur was ich direkt vor mir sah, war klar und scharf, zu erkennen. Im letzten Jahr war meine Erblindung unerbittlich fortgeschritten und ich tat mich immer schwerer, diesen Umstand vor den Mitstudenten zu verbergen. Bis jetzt wussten nur die Familie und Bernd um das Fortschreiten der Krankheit. Von alten Bekannten hielt ich mich fern, Mitleid wollte ich nicht, weder in Blicken noch in Worten. Nur vor der Staffelei konzentriert auf Farben und Pinsel verdrängte ich das Voranschreiten der Retinitis Pigmentosa. Der Fokus lag direkt vor mir, es entstanden Bilder mit meiner Wirklichkeit des Sehens. Eine Blumenwiese, im Zentrum klar mit Motiven gestochen scharf, die Ränder weichgezeichnet, wie meine Realität. Auf Anraten von Professor Schubert erhielt ich Einzelunterricht. Er war von der Ausdruckskraft der Farbkompositionen, die ich auf die Leinwand ballte, begeistert. 

 

In diesen frühen Jahren meiner Malerei, nach dem Abschluss an der Kunsthochschule, entwickelte sich aus der tiefen Freundschaft zu Bernd eine Verliebtheit. Im leerstehenden Bauernhaus eines Großonkels, draußen in Alaching, entstanden ein Atelier für meine Bilder und eine Werkstatt für die Skulpturen aus Holz und Stein, die Bernd entwarf. Mein Leben bestand aus langen Spaziergängen, Gartenarbeit und jeder Menge kreativer Malerei in meinem Studio. Die Abende verbrachten wir zu zweit bei einer Flasche Wein und endlosen Gesprächen über Kunst und Erörterung neuer Ideen und Objekte. 1956 heiratete ich Bernd im kleinen Kreis. Anstelle einer Hochzeitsreise verwirklichten wir unsere erste gemeinsame Ausstellung in München. 

 

Mit zunehmender Eintrübung meiner Sehkraft experimentierte ich mit verschiedenen Materialien zum Mischen der Farbtöne. Durch die Zugabe verschiedenster Mengen Sand, feiner Kiesel oder Papier, gelang es mir, die Farben mit anderen Sinnen wahrzunehmen. Ich trug höchsten drei auf, lies sie über Nacht trocknen, um sie am nächsten Tag mit den Fingerkuppen zu sehen. Ich entwarf Skizzen in der wachsenden Dunkelheit meines Lebens im Kopf und bannte grelle Farben und Formen auf die Staffelei. Ich hatte Unmengen an Bildern im Schädel und so wenig Zeit für die Umsetzung auf die Leinwand. Der Fokus schrumpfte Tag um Tag und so verließ ich mich immer mehr auf die Hände und erspürte die selbst gemischten Farben. Wenn Bernd zu mir ins Atelier trat, bat ich ihn, genau zu beschreiben, was er in dem Gemälde sah und wie meine Komposition auf ihn wirkte. Um keine Zeit zu vergeuden, malte ich stundenlang, bis er mich von der Staffelei loseiste.

 

„Schluss für heute, draußen scheint die Sonne. Ich habe den Picknickkorb gepackt.“ Er nahm mir die Pinsel weg und versenkte sie im Wasserglas. Beim Hinausgehen legte ich die Malwerkzeuge auf dem Zelltuch zum Trocknen ab. Zuerst besuchten wir die Haflinger auf der Koppel. Die weichen Pferdenüstern stupsten mir forsch ins Gesicht und entlockten mir ein Lachen, ich fühlte mich lebendig und leicht. Bernd hatte derweil alles ausgepackt und ich fiel hungrig über das Essen her. 

 

Einige Wochen später verschwand diese Leichtigkeit. Eines Morgens erwachte ich und der Fokus war verschwunden. Ich sah nichts mehr. Nachdem das Licht endgültig ausging, erloschen auch die Lebensgeister. Das Dunkel hüllte mich ein, ich vergaß die Farben, wurde lethargisch und fiel in ein tiefes Loch. Tagelang lag ich nur im Bett, verweigerte Essen und dämmerte vor mich hin. Bernd drang nicht mehr durch meinen zusehends verwirrteren Geist. Ich wob einen Kokon, war abgeschottet. Nichts hören, nichts empfinden, nicht sein. 

 

„Verschwinde!“ Kräftige Arme entwanden die Bettdecke, hoben mich empor. Mein kraftloser Körper konnte sich der Kraft und Stärke nicht erwehren. Wie ein welkes Blatt im Wind wurde ich dahintragen, Sequenzen später auf die Füße gestellt. Die nackten Fußsohlen erspürten die Dielen eines Holzbodens und der Nebel des Schlafs lichteten sich. Unsanft riss mein Nachthemd entzwei.

 

„Bleib stehen!“, raunte die vor Schmerz heisere Stimme von Bernd. Der Raum war kühl. Welche Jahreszeit hatten wir? Der Holzboden unter den Füßen war eine winzige Verbindung, eine Realität zur Außenwelt, die Rettungsnabelschnur.

 

„Welche Farbe?“, fragte er. Am Rücken wurde ich vom dicken Pinsel getroffen, als die kühle Feuchte meinen Körper zeichnete, wanderten Ameisen die Hülle entlang, alle Nervenbahnen pulsierten und ich hielt die Luft an. Das Werkzeug wurde zur Skizze im Kopf. Die Borsten strichen über Haut, weiße Haut wie Alabaster wurde zu dunklem Gelb der Sonnenblumen.

 

„Gelb“, hauchte ich. Erinnerungen überfluteten mich. Gelbe Rudbeckien im Garten bei den Septembergeburtstagen, gelbe Forsythien und Tulpen im Frühling, Sonnenstrahlen und Wärme. So arbeitete sich Bernd an meinem Körper durch die Farben des Regenbogens, ich erfühlte sie alle. Grün, Gras im Juli. Blau, Veilchen im März. Indigo, Lupinen im Mai. Violett, Clematis am Zaun. Rot, Rosen im Juni. Orange, Lilien im Sommer. Die nutzlosen Augen wurden feucht, erst einzelne Tränen aus Salz und Schmerz, bald schon ganze Bäche. Entkräftet und auf dem Boden liegend kam ich zu mir, eng umschlungen von kräftigen Armen und Beinen, die wärmten und Kraft spendeten.

 

Diese Stunden wurden zu meinem Wendepunkt. Jetzt erlaubte ich mir die Tatsache zu akzeptieren, dass ich blind war. Bernd gab mir die Kraft, die ich brauchte, um weiter zu existieren und zu malen. Die Leidenschaft für Farben und die Möglichkeit, die Skizzen aus dem Kopf auf der Leinwand zu realisieren, halfen mir, mich mit meinem Leben zu versöhnen. 

 

***

 

In der Hand halte ich die Tasse mit kaltem Tee. Erinnerungen, heraufbeschworen durch meine Worte, stehen als Bilder lebendig im Raum. Hannes holt mich mit leisem Räuspern zurück. Verstohlen wische ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

 

„Stella, wollen wir eine Pause einlegen?“

 

„Eine gute Idee. Mich fröstelt, lass uns hinaus in den Garten gehen.“ 

 

V 2