Von Erika Hillmann

Ich heiße Kuno. Mein Lieblingsort ist die See. Das Wasser blau wie auf einer kitschigen Ansichtskarte, der Himmel weit, lange Sandstrände. Wenn ich mich nach Entspannung sehne, abschalten will, fahre ich dort hin. Ich liebe diese schwerelosen Stunden wohltuender Ruhe, die Haut von Sommerwärme umsponnen. Möwen schreiten die Brandung auf und ab, schauen wortlos in die Landschaft. Kein Mensch ist zu sehen. Und dennoch höre ich Stimmen. Sie raunen wie eine Welle über den Strand, schwellen an, klingen wieder ab.  

Was soll ich sonst von mir erzählen? Ich lebe allein in dem Doppelhaus. Vier Zimmer, Terrasse, ein kleiner Garten. Zu meinen Nachbarn habe ich kaum Kontakt. Jedenfalls seit dem Helga nicht mehr bei mir ist. Wie auch! Der Job verlangt tagsüber acht Stunden Hochleistung, oft auch mehr. Abends will ich nur meine Ruhe. Hauptsache, niemand nervt. 

Nur für die Radtouren mit meinen Kumpels lasse ich alles stehen und liegen. Wir halten uns fit, schaffen locker 100 km am Tag. Der Abschluss in der Eckkneipe bei Bier und Currywurst Pommes rotweiß ist Pflicht. Dort schmieden wir unsere Reisepläne, wie die Tour quer durch Deutschland vor zwei Jahren. Mittlerweile erscheint mir dies wie ein Film aus einem fremden Leben. Heute muss ich sagen, Radfahren war mein Hobby. Neuerdings stellen sich mir bis dato ungekannte Hindernisse in den Weg. Zum Saisonstart ist das Wetter schlecht. Zu nass, zu kalt, zu windig – einfach zum verrückt werden. Und ich muss mich um den Hund kümmern, der kann schließlich nicht Radfahren. Für den Fahrradkorb ist er zu groß.

 

Dieser Hund ist eine Nummer für sich. Eines Tages sitzt er auf meiner Terrasse. Zuerst ignoriere ich ihn. Bestimmt fehlt er irgendwo. Oder er stört. Was soll ich mit einem Hund, denke ich. Passt nicht in mein Leben. Ich brauche meine Freiheit. Schließlich habe ich mich mühsam an das Alleinsein gewöhnt. Am nächsten Tag kauert er erneut dort, mit hängenden Ohren. Seine Augen schauen unendlich traurig. Fortschicken kann ich ihn so nicht. Ich gebe ihm Futter, etwas Wasser, streiche vorsichtig über sein zotteliges Fell. 

Ich bin unsicher. Warum soll ich den Alltag wieder mit einem Lebewesen teilen? Heute kann ich nicht mehr sagen, was den Ausschlag gab. Jedenfalls, der Hund will nicht mehr fort. Anfangs sträube ich mich dagegen, zerre ihn immer wieder von der Tür weg. Er lässt nicht locker, zeigt sich viel stärker als ich. Er stürmt auf den Wollteppich vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Sein Verhalten spricht eine deutliche Sprache: mich bekommst du hier nicht mehr weg.

Er gewöhnt sich schnell ein, streunt durch die Wohnung. Die spitze Nase erschnüffelt sämtliche Ecken. Allmählich lerne ich seine Eigenheiten kennen. Er liebt Streicheleinheiten. Anfangs ist sein dunkles Fell struppig und glanzlos. Ich beginne ihn zu bürsten. Alle viere von sich gestreckt, räkelt er sich voller Wonne in seinem schwarzen Fell auf dem Wollteppich. In der Frühe steht er vor meinem Bett, betrachtet mein Gesicht. Ich frage mich, ob er die ganze Nacht so verbringt. Er will unter meine warme Bettdecke. Ich hindere ihn nur mit Mühe. 

Der Hund bleibt ungern allein in der Wohnung zurück. Das beunruhigt mich, macht mich geradezu nervös. Auf der Arbeit lasse ich mich ablenken, bringe es kaum fertig, mich längere Zeit auf meine Aufgaben zu konzentrieren. Bei den Stellungnahmen, die ich für das neue Projekt zu formulieren habe, unterlaufen mir einige grobe Fehler. Kuno, sagt der Chef, was ist los? Das passiert dir doch sonst nicht. Ich blaffe meine Kollegin Regina an. Sie schaut erschrocken, irritiert. Einmal, zu Feierabend, wir verlassen gemeinsam das Büro, fragt sie, ob es mir gut geht. Sie fände mich verändert. Blödsinn, ja, warum soll es mir schlecht gehen? Sie lädt mich ein, möchte dass wir noch etwas zusammen trinken. Doch meine Gedanken wandern schon wieder zu dem schwarzen Hund. Ich überlege, womit er sich gerade beschäftigt. Zeitungen, Socken oder die Hausschuhe interessieren ihn nicht. Er hat anderes im Sinn. Er wartet auf meine Heimkehr, sitzt im Fenster, beobachtet jeden meiner Schritte auf dem Weg zur Tür.

Ich verzichte auf die Radtouren. Einladungen von Freunden lasse ich sausen. Es bleibt mir keine Zeit. Was soll ich auch auf den Grillfesten, den Geburtstagspartys. Und reden? Was soll ich mit den Leuten reden? Es gibt keine gemeinsamen Themen. Ich fühle mich überflüssig. Warnungen, ich würde mich zunehmend zu einem Eigenbrötler entwickeln, schlage ich in den Wind. Ich komme zurecht, brauche nichts. Das Joggen muss warten. Die Beine schmerzen, es zwickt in der Achillessehne. Ich habe großen Respekt vor einer langwierigen Verletzung, schonen scheint mir die bessere Alternative. Im Sommer wird es besser funktionieren.

 

Mittlerweile sind wir ein eingespieltes Team, der Hund und ich. Ein altes Ehepaar, das sich in- und auswendig kennt. Das Tier zieht mich immer mehr in seinen Bann. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Immer öfter erwische ich mich dabei, ihn zu beobachten, wenn er mich beobachtet. Wenn ich mein Spiegelbild betrachte, blickt mir ein Hundegesicht entgegen. 

Durch den Hund verändert sich mein Leben. Er entwickelt eine kräftige Statur, beansprucht vollends mein gesamtes Dasein, verzerrt meine Gedanken. Er bewacht das Haus. Still zieht er einen unsichtbaren Zaun drum herum. Allein sein Dasein verhindert ungebetenen Besuch. Dazu muss er weder kläffen noch die Zähne fletschen. Freunde und Bekannte sagen es nicht, aber sie können mit dem schwarzen Hund nichts anfangen. Die Radfahrerkumpel rufen hin und wieder an. Sie fragen mich zwar wegen der Sommertour, aber es klingt nur halbherzig. Mir erscheint es mehr eine Pflichtübung. Sie meiden mich. Und ich lade sie nicht mehr ein. Im Grunde sind sie doch mit sich selbst beschäftigt. Da sind Frau und Kinder, das Vorankommen im Job. In den Gesprächen geht es um die besten Handytarife, Urlaubsreisen mit dem Kreuzfahrtschiff und anderen unwichtigen Kram. Als ich neulich bei Benno vor der Tür stand, machte keiner auf. Dabei bewegte sich doch die Gardine im Küchenfenster. Nein, das ist nicht mein Leben.

 

Am Himmel schwebt ein Vogel, frei, scheinbar schwerelos. Mühelos in seinen Flügelschlägen, dirigiert er eine Sinfonie weißer Wölkchen. Dieses Bild lässt mich eintauchen, süchtig nach Lebensfreude. Meine Gedanken schauen von oben herab, weichen elegant allen Störfaktoren aus, spazieren leichtfüßig, ohne Sinn für morgen. Einen Moment schließen sich die Augen, allein, ohne mein Zutun. Da spüre ich etwas Neues. Bedrohliches naht heran, stört meine Ruhe. Ich bin nicht da. Doch ein diffuser Schatten fällt auf mein Gesicht. Noch einen Augenblick. Nur nicht hinschauen. Ich zucke zusammen. Ach, hier bist Du! Habe Dich überall gesucht, winselt er. Woran denkst du? Nein, nur nicht er. Nur nicht hier. Der Hund darf mir nicht hinterherlaufen. Aus und vorbei mit der Ruhe. Und ich bin nirgends mehr sicher. 

Was ist passiert mit diesem Hund? Was ist geblieben aus der Zuneigung, der Anhänglichkeit. Er übernimmt die Regie über mein Leben. Er ist unberechenbar, fällt aus heiterem Himmel über mich her. Er steht vor dem Kühlschrank, hindert mich, die Tür zu öffnen. Er springt auf den Stuhl, wenn ich essen will. Grollt lautlos, schnappt nach meiner Hand, sobald ich nach der Gabel lange. Nachts fliegt er mit einem Satz auf mein Bett, starrt mich durchdringend an. Mir fehlt die Kraft, ihn abzuschütteln. Angst schnürt mir die Kehle zu. Am nächsten Tag stehe ich neben mir, übernächtigt, gereizt. Neu ist das nervöse Zucken im linken Auge. Niemals werde ich diesen Tag vergessen. Ich will zur Arbeit. Er hindert mich, das Haus zu verlassen. Verbeißt sich an meinem Hosenbein. Unvorstellbar! 

 

Das Leben verliert seinen Sinn. Ich mag morgens nicht mehr aufstehen, habe keinen Appetit. Es fühlt sich alles leer und schal an. Entspannung finde ich nur noch durch Alkohol. Nicht das ich abhängig bin, aber mir zittert das Glas in der Hand, wenn der schwarze Hund neben mir auf seine Chance lauert. Nachts wälze ich schlaflos von einer Seite auf die andere, höre quälendes Knacken im Gebälk, die Maus, die nachts die Straße quert. Dieser zerstörungswütige Köter, der systematisch mein Selbstvertrauen auffrisst, macht mich fertig. Er muss krank sein. Irgendwie gestört, so aggressiv wie er sich gebärdet. Diese Töle! Sie bringt mich zum Ausrasten. Weg damit, fort aus dem Haus. Ich sollte sie aussetzen oder zumindest ins Tierheim bringen. 

 

Nun beunruhigt mich auch noch mein Arzt. Klar, ich habe eine Menge mitgemacht, der Hund sei anfangs eine gute Abwechslung gewesen erzähle ich ihm. Er sieht mich so komisch an, als zweifle er an meiner Darstellung. Er meint, dem Hund würden eine feste Leine und ein Hundetraining helfen. Dann stellt er Fragen über Fragen, sieht mich dabei prüfend an. Schiebt eine Broschüre über den Tisch, spricht von psychischen Erkrankungen. Zerstörerische Gedanken können sich zu riesigen Monstern entwickeln. Die sitzen wie wilde Tiere in der Seele, erklärt er. Ich bin doch nur wegen diesem Herzrasen in der Sprechstunde.

 

Der heftige Wind streicht die Segel. Vor mir das Meer, ruhig bis zum Horizont. Sachte streichelt eine Brise den weiten Strand. Meine Füße graben sich in den Boden. Ich spüre den warmen Sand, die Sonne auf der Haut. Die Broschüre ist zerknittert, Sandkrümel kleben zwischen den Seiten. Einige Sätze bringen mich schwer ins Grübeln. Sie scheinen extra für mich hinein geschrieben zu sein. Die Stimme meines Arztes liegt mir in den Ohren. Seine Fragen nach Freundschaften, Begegnungen, die mir wichtig sind. Bilder ziehen vorbei, meine Helga, die alten Kumpels von der Radfahrtruppe. Das alles gehörte zu meinem Leben, brachte Licht und Freude. Hier, in diesem Moment, fühlt es sich fast so an wie früher. Die Schattenwelt um mich herum verändert sich, bekommt feine Risse. Ich lausche den Wellen meiner Träume von Ruhe und Geborgenheit. 

 

2. Version