Von Michael Kothe
»Wenn das Licht ausgeht, ist es zu spät.«
»Ich weiß.« Sie sprach gedehnt. Zu oft hatte sie diese Worte gehört, doch diesmal setzte sie noch hinzu: »Clemens, ich weiß, dass du sterben musst, wenn ich nicht rechtzeitig helfe.«
»Es geht nicht um mich! Aber wenn der Strom ausfällt, heißt das, dass das letzte bisschen Ordnung zusammengebrochen ist und die Techniker entweder tot sind oder zu denen gehören. Es gibt dann keine Patrouillen mehr, und alle kommen aus ihren Löchern. Dann sind auch nachts so viele unterwegs, dass du es nicht mehr aus der Stadt schaffst.«
»Ja, ja. ZZG!« In dieser Situation klang es unangemessen gelangweilt. Und trotzig.
»Wie bitte?« Besorgt schaute der Wissenschaftler auf Sandra.
»Zombie Zone Germany, die Anthologie des Amrum-Verlages. Nur, dass unsere Zombies nicht trödeln, sondern verdammt fix sind. Ich weiß, was mir blüht.«
»Nimm es bitte ernst!« Clemens seufzte. Seit einer Woche nun lebten sie und Tobias bei ihm in seinem kleinen Privatlabor. In dieser Zeit war sie wie eine Tochter für ihn geworden. Aber sie musste fort, hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Sie war infiziert, ihr Immunsystem hatte Antikörper gebildet und das Virus verändert. Sie konnte Menschen retten! Mit ihrer Mutation würde sie sie resistent machen auch gegen die gefährliche Ursprungsversion. Außer ihnen wusste das niemand, und so würde es nicht nur abenteuerlich, sondern lebensgefährlich, wenn sie die Stadt zu verlassen suchte. In der Apokalypse zu überleben, war schwierig genug, sei es auch nur für die zwei Tage, bis sie ihr Ziel erreicht hätte: Das Labor, das aus ihrem Blut ein Serum herstellen konnte, das er mit seinen bescheidenen Mitteln nicht zuwege gebracht hatte. Dazu aber müsste Sandra endlich ihre jugendliche Unbekümmertheit ablegen! Das war das einzige, was er bei seinen endlosen Gesprächen mit ihr und Tobias über die Rettungsaktion nicht als Erfolg verbuchen konnte.
Als könne er Gedanken lesen, schaltete sich Tobias ein. »Ich bringe sie hin, keine Sorge, alter Mann! Sie beherrscht alles, was ich ihr beibringen kann.«
Clemens rief sich die letzten Wochen ins Gedächtnis. Das Virus war weltweit verbreitet, es weckte den Aggressionstrieb und steigerte ihn bis zum Äußersten: zur Jagd und Vernichtung aller Andersartigen. Nur Ihresgleichen wurden verschont: Zombies. Der Begriff gefiel ihm nicht, zu groß waren die Abweichungen von den Klischees der Filme um ein solches Horrorszenario. Die Infizierten dieser Pandemie behielten ihre physischen Fähigkeiten, nur die Psyche spielte verrückt, wenn sie einen Gesunden erkannten. Sie ließen nicht locker, bis sie ihn eingeholt und angespuckt oder gebissen hatten. So pflanzte sich das Virus fort und ließ seine Opfer irgendwann jämmerlich verrecken. Das einzig Gleiche zu den Filmzombies war die Vernachlässigung ihrer selbst. Selbstachtung, Hygiene und Überlebenswille wurden vom Jagdtrieb ausgeschaltet. Ihm selbst blieben nur wenige Tage, bis er dieses Schicksal teilte.
Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Sandra hatte einen der letzten Müsliriegel ausgewickelt, von denen sich die drei während der letzten Tage ernährten.
»Wenn du fertig bist«, ließ sich Tobias vernehmen, »dann können wir.«
»Klar, ich bin so weit.« Sandra zerknüllte die Folie, warf sie in eine Ecke und erhob sich. Dann zog sie ihre fingerlosen Handschuhe an und blickte auffordernd zu Tobias. »Welche Strecke nehmen wir diesmal?«
An seiner Stelle antwortete Clemens: »Ihr müsst heute im Block bleiben. Draußen patrouillieren sie wieder. Verdammt nochmal! Macht euch das endlich klar: Es sind keine Dorfsheriffs, es ist die Bundespolizei, die die Monster jagt. Und in diesem Viertel überhaupt alles, was sich bewegt! Nach ihrer Meinung gibt es ja hier nur noch Zombies und Plünderer. Außerdem benehmen sich mittlerweile auch Polizisten wie Marodeure.«
Tobias zog die Schultern hoch. »Meinetwegen. Obwohl es auf der Straße spannender wäre.«
»Es ist zu gefährlich. Wieso fängst du immer wieder davon an?«
»Ich will mit ihr unter realistischen Umständen üben. Nur Treppenhäuser, Flachdächer und Balkone sind auf Dauer langweilig. Und für unsere Mission nicht wirklichkeitsgetreu genug.« Tobias atmete hörbar aus. »Ist ja gut! Noch diese eine Übungsstunde, dann ruht sich Sandra aus, und heute Abend geht´s endlich los.«
Sie standen vor dem Laboratorium, das ihrer kleinen Wohngemeinschaft als Zuflucht diente.
»Du voran! Gib mir die Strecke vor, und ich versuche, an dir dran zu bleiben.«
Zur Antwort nickte Tobias. Er war froh, in der Führung Sandras eine Aufgabe gefunden zu haben. Seine Spezialität war Parkour, die rasante Fortbewegung zu Fuß über Hindernisse und auf selbstgewählten Strecken, die gewiss nicht dafür angelegt waren. Abseits der Wege, die die Stadtplaner, Architekten oder auch die Kultur vorgaben.
Tobias zog die Tür ins Schloss und hörte Clemens innen den Riegel vorlegen. Er schmunzelte, war er doch der Überzeugung, der Wohnblock sei frei von Zombies, Polizei und Militär. Aufmunternd sah er Sandra an und spurtete los. Der Laubengang führte ihn an sieben oder acht Wohnungstüren vorbei, bis er in das Treppenhaus mündete. Die ersten vier Stufen abwärts nahm Tobias zu Fuß, bevor er mit einem Hechtsprung übers Geländer setzte und ein halbes Stockwerk tiefer auf der Treppe aufkam. Er wiederholte diese Bewegung weiter unten noch zweimal, bevor er wieder in einen Laubengang hetzte zum nächsten Treppenhaus. Kurz davor flankte er übers Geländer und rollte sich auf dem Flachdach der Garagenzeile ab. Er verharrte kurz und vergewisserte sich, dass Sandra dichtauf folgte. Hören konnte er sie nicht, dafür drang die aggressive Musik des MP3-Players zu laut aus seinen Kopfhörern. Er brauchte das Adrenalin! Von der letzten Garage aus hangelte er sich an einer Feuerleiter zwei Stockwerke nach oben.
Ihrer ursprünglichen Richtung entgegengesetzt hasteten beide um den Innenhof des Wohnblocks. Eine Teilstrecke legten sie in Schwindel erregender Höhe auf dem Flachdach zurück, das reichlich Vorsprünge und Lücken aufwies und dort, wo die Einfahrt zum Innenhof nicht überbaut war, sogar durch eine Schlucht unterbrochen war.
Der Wohnblock war wie alle in diesem Viertel verwaist. Polizei und Militär hatten die Bewohner ausgetrieben und in Quarantänezentren transportiert – oder sie beim bloßen Verdacht auf Infektion gleich erschossen. So waren Tobias und Sandra kaum in Gefahr entdeckt zu werden. Wenn sie heute Abend ihr schützendes Versteck verließen, sah das anders aus. Deshalb hatte Tobias auch darauf bestanden, dass Sandra ihre Angst vor solchen Lücken überwand, wie sie die Einfahrt darstellte.
Atemlos klopften sie nach einer Stunde das vereinbarte Zeichen an die Tür zum Labor.
»Sandra ist gut. Wir werden´s schaffen! Drei Runden haben wir zurückgelegt, die Pausen waren nur kurz. Wir ruhen uns jetzt aus, unsere Vorbereitungen heute Abend dauern nicht lange.«
»Was für Vorbereitungen?« fragte Clemens beunruhigt, als er die Tür ins Schloss drückte und mit dem Sperrriegel sicherte. »Ich hab´ doch alles fertig für euch.«
»Etwas Proviant und einige Energydrinks«, klärte ihn Tobias auf und hielt zwei kleine Rucksäcke in die Höhe. »Mehr brauchen wir nicht, und hier passen ausreichend Müsliriegel rein.«
»Und wo willst du die hernehmen? Die Supermärkte haben geschlossen.« Galgenhumor presste Clemens ein gezwungenes Lächeln auf die Lippen.
»Unten ist der kleine Laden. Vom Hof aus ist er offen, und ich habe alles versteckt. Keiner sucht dort nach Müsliriegeln und Dosen.« Er grinste selbstbewusst.
Sie waren ausgeruht und zuversichtlich. Sandra und Tobias schulterten ihre Rucksäcke. Ein letztes Mal umarmten sie Clemens zum Abschied und schlichen nach unten in den Laden. Die Tür zur Straße ließ sich leicht öffnen. Als sie auf dem Bürgersteig standen, schauten sie schräg an der Fassade nach oben. Obwohl sie ihn nicht sahen, wussten sie, dass ihr Mentor sie beobachten und mit ihnen mitfiebern würde, bis sie aus seinem Blickfeld verschwanden. Bis dahin hatten sie vier Fahrspuren zu überqueren, mussten die Ausfahrt der öffentlichen Tiefgarage überspringen und auf der anderen Seite, die zum Glück reichlich tiefer lag, den Platz mit der Brunnenanlage überwinden. Der Brunnen gewährte die einzige Deckung vor dem Park, in dessen Sicherheit sie dann eintauchen konnten.
Die Gardine schützte Clemens gegen Blicke von außen. Er stand hinter der offenen Tür des französischen Balkons, ständig suchte sein Blick die leere Straße ab. Er war ängstlich und optimistisch zugleich. Vom Gelingen hing das Überleben zahlloser Menschen ab, aber seine Protegés waren durchtrainiert, und die Nacht war ruhig und wie geschaffen für ihr Vorhaben. Die grellen Straßenlaternen garantierten gute Sicht und damit auch Sicherheit für Sandra und Tobias. Jede Gefahr würden sie schon auf weite Entfernung wahrnehmen. Immer wieder schaute er auf seine Uhr. Lange waren die beiden noch nicht fort, dennoch mussten sie in jedem Moment ins Freie treten. Schon hörte er das Schaben der Ladentür, sah unmittelbar darauf Tobias und Sandra über die Fahrbahn hetzen. Gleich würden sie drüben die kurze Böschung hinab rennen und über die Garagenausfahrt springen. Danach folgte eine Strecke ohne Hindernisse. Wenn sie die erreicht hätten, wäre er beruhigt.
Als das Licht ausging, hörte Clemens die beiden Schüsse. Sie klangen dumpf, wie aus einem Gewehr mit großem Kaliber. Das bellende Stakkato einer Uzi-Maschinenpistole ertönte fast gleichzeitig. Erkennen konnte er nichts, solange sich seine Augen nicht an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt hatten.
»Wo wollt ihr hin?« Der Sprecher stand unterhalb des Balkons. Dem beherrschenden Ton nach zu urteilen musste es der Streifenführer sein.
»Die beiden sind in die Ausfahrt gestürzt. Wir müssen sie desinfizieren.«
»Blödsinn,« belehrte die erste Stimme. »Lasst sie liegen. Sie sind tot, und ihr Blut spült keine Hormone mehr in die Zellen. Also sterben auch die Viren innerhalb von 24 Stunden.«
V3