Von Ann-Kathrin Schwabenthan

Heute ist ein großer Tag, wobei ich mich frage, seit wann ich die Größe von Tagen sehen kann. Manche sind so verschwindend klein, dass ich sie kaum wahrnehmen kann, aber seit einiger Zeit werden sie immer größer und ich habe das untrügliche Gefühl, dass heute der Größte ist.

Die anderen haben so etwas angedeutet, dass für jeden einmal der größte Tag kommt. Viele Superlative, das hätte ich meinen Schülern angekreidet. Doch hier ist ein Ort der Superlativen, glaube ich zumindest, immer. Und jetzt ist mein persönliches Maximum erreicht. Vielleicht als Folge auf das ultimative Minimum, wobei ich mir da nicht sicher bin, so klein hat es sich gar nicht angefühlt, eher ungewöhnlich, eher so anders, dass ich einfach nicht sagen kann, wie groß es war, dieses Gefühl. Vielleicht war es auch mehr die Abwesenheit von jedem Gefühl, ich habe noch die Scheinwerfer gesehen, das Hupen gehört, mir „Ach du heiliger Strohsack“ gedacht und dann. Nichts. Ein sehr großes, umfassendes, ausfüllendes Nichts. Seltsam, dass ich hier so viel über Größen nachdenke, wo ich doch eigentlich mein Leben lang über Wörter nachgedacht habe, dabei sind „groß“ und „klein“ ja auch nur Wörter.

Plötzlich erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem der Ethiklehrer unserer Schule. Wir hatten gerade darüber gesprochen, dass die Kinder heutzutage für alles Beweise haben wollen, dass sie große Konzepte und Ideen nicht mehr als das annehmen können. Ideen, die man nicht immer beweisen kann. Mein Beispiel war Gott, ich hatte gerade „Jugend ohne Gott“ mit einer Klasse gelesen und war in der Diskussion, ob es Gott nun wirklich nicht gab, hilflos herumgepaddelt, sodass ich froh war, als die Glocke mich erlöste. Die beinahe anklagenden Fragen der Schüler hatten unser Verhältnis fast umgekehrt. „Aber da kann man ja viel machen. In der Philosophie sind Gottesbeweise ein großer Bereich“, hatte mein Kollege gesagt und mir zugezwinkert. Dann hat er versucht, mir einen dieser Beweise zu erklären, damit ich ihn mit meinen Schülern behandeln konnte. Wahrscheinlich habe ich nur einen Bruchteil verstanden, aber der Beweis ging ungefähr so: wenn es ein Göttliches Wesen gibt, muss es die positivste denkbare Form jeden Adjektivs sein. Also das liebendste Wesen, das mächtigste Wesen und so weiter. Das war einleuchtend, schließlich bringt niemandem ein Gott etwas, der ein bisschen faul ist, manchmal etwas launisch und keinen Humor hat. Wie sich jetzt daraus die Existenz Gottes beweisen lässt, habe ich vergessen, da wurde es dann sehr abstrakt. Doch jetzt bin ich – bin ich? – an diesem Ort der vielen Superlative, hier ist alles nichts und heute der größte Tag. Vielleicht ist das mein persönlicher Gottesbeweis, wenn es diesen Superlativen-Ort gibt, kann er nur von einem Superlativen-Wesen geschaffen sein, dass dann wiederum Gott ist. Ein interessanter Gedanke, wobei ich mich frage, ob ein Superlativen-Wesen dann gleichzeitig das größte und das kleinste Wesen sein muss? Ach nein, es handelt sich ja um die positivste Form, also ist vielleicht „das Größte“ die positive Form.

„Das Kleinste“ < Ich < „das Größte“ = Gott, schreibe ich in meinen Kopf und lasse es dort stehen. Ich hatte nie viel für Gleichungen übrig, doch jetzt erscheint es mir nahezu logisch.

Vielleicht hätte ich besser Mathematiklehrer werden sollen, bei den ganzen Gedanken über Formeln und Größen. Vielleicht kann ich Größen auch erst jetzt richtig verstehen. Die anderen haben manchmal gelacht über solche Überlegungen von mir. Nur jetzt lacht keiner mehr, vielleicht sind sie in den Keller gegangen? Auf jeden Fall sind sie nicht mehr da. Ich glaube, sie hatten alle schon ihren größten Tag. Ich bin ein bisschen aufgeregt, schließlich bin ich jetzt schon lange in diesem Einerlei aus „groß“ und „klein“ und nichts dazwischen, wobei dann wieder so viel dazwischen ist, ich betrachte meine Hand und sehr nichts, manchmal die Ahnung von Atomkernen und darum kreisenden Elektronen. Ist es nicht faszinierend, dass wir mehr nichts als etwas sind?

Die Kollegen hätten sich gefreut über meinen Wandel, war ich doch sonst immer so fokussiert auf mein Fach und die Wörter und alle meine Bücher. Die vermisse ich am meisten, meine Bücher! Fast kann ich sie vor mir sehen, die langen Regalreihen, in denen ich sie fein säuberlich nach den Autorennamen geordnet habe. Und jede Woche abgestaubt, mit diesem besonderen Tuch, von Swiffers, so ein grünes. Immer freitags bin ich in die Drogerie gelaufen, habe mir ein neues Tuch gekauft, meine Bücher abgestaubt, jeden Einband noch einmal in der Hand gefühlt, das raue Leder, abgegriffene Bindung, weich gewordene Taschenbücher, das papierne Gefühl von Reclam-Büchern. Und dann alle wieder zurücksortieren, die Rücken auf einer Höhe ausrichten, ein letzter Wisch übers Brett und fertig. Den Tipp mit dem Swiffers-Tuch habe ich von Annemarie bekommen, der Buchhändlerin meines Vertrauens.

Ihre grauen Haare hatte sie immer zu einem strengen Dutt zurückgesteckt und sie hatte ein untrügliches Gefühl dafür, was ich gerade lesen wollte. Eine wahre Fee, jede Ausgabe, jeden Band hat sie für mich gefunden. Und das ein oder andere Mal haben wir bis weit nach Ladenschluss noch neben der Kasse gestanden und uns über die Bücher unterhalten, die wir gerade gelesen hatten und Empfehlungen ausgetauscht. Es war richtig zu spüren, wie sehr sie jedes einzelne der Bücher liebte und wie sehr sie es liebte, über sie zu sprechen. Wir diskutierten Stilmittel und Schreibstile, den Aufbau der Handlung oder ob uns inhaltliche Schwächen aufgefallen waren. Irgendwann sind wir dazu übergegangen, uns ein Buch herauszusuchen, dass wir beide bis zur nächsten Woche lasen. Ich hatte schon fast das Gefühl, ein kleiner Teil der Buchhandlung geworden zu sein. Die junge Mutter von Gegenüber oder den leicht gestresst wirkenden Mann, genauso wie die junge Studentin, die in allen Büchern blätterte, aber nur in den seltensten Fällen eines kaufte, kannte ich bald als Stammkunden. Und wenn Annemarie gerade einmal viel zutun hatte, beriet ich selbst den ein oder anderen Kunden, schließlich kannte ich das Sortiment mindestens genauso gut, wie meine eigene Büchersammlung zuhause.

Vor meinem inneren Auge wachsen die Regale aus dunklem Holz nach oben, füllen sie sich langsam mit Büchern. Die verschiedenen Abteilungen tauchen auf, Spannung, Romane, Klassiker. Das Licht wird langsam weicher und wärmer, die Schatten ein bisschen tiefer, aber wohlig dunkel, in keinster Weise bedrohlich. Der Duft von Lavendel und Papier steigt mir in die Nase. Unter meinen Füßen spüre ich den Teppichboden, der alle hastigen Schritte schluckt und eine behagliche Ruhe ausströmt. Dann höre ich die trippelnden Schritte von Annemarie, die mit flinken Fingern den neu eingetroffenen Büchern einen Platz gibt. „Die Kochbücher stehen hinten rechts“, erklärt sie gerade einem Mann mit Hornbrille und zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen. Ihre Stimme hat etwas ebenso tiefes und beruhigendes, wie der ganze Laden. Sie ordnet die Bestseller auf dem Tisch vor sich neu, ich mache einen Schritt auf sie zu. „Ich bin gleich bei Ihnen“, sagt sie über die Schulter.

Und da wird es mir klar, der größte Tag ist mein letzter Besuch, ich darf noch einmal zurückkehren und einen Abend in der Buchhandlung verbringen.

„Guten Abend, Annemarie!“, höre ich mich selbst sagen.

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