Von Vanessa Wedekämper
Wieder flackerten die Bilder vor mir auf. Sie, wie sie am Beckenrand sitzt, lächelnd, mit den Füßen im Wasser. Sie redet mir Mut zu, weil ich Angst habe, vom 5er zu springen … Sie, wie sie den peinlichsten Siegestanz aufführt, weil meine Mannschaft gewonnen hat … Sie, wie sie verzweifelt vor mir steht, weil sie sich die Haare anstatt rötlich, grün gefärbt hat und schmollt, weil ich nicht aufhören kann zu lachen.
Jetzt ist sie weg, für immer und ich werde sie nie wieder sehen. Die Vorstellung ist so irreal und schmerzhaft, dass ich es nicht glauben kann und will. Tracy war nicht nur meine knapp ein Jahr ältere Cousine, sie war auch meine beste Freundin. Wir waren einfach immer füreinander da. Meine Mama legt mir sanft eine Hand auf die Schulter. „Kathy Schatz, wir sollten gehen. Alle anderen sind schon los.“ Noch bevor ich antworten kann, laufen mir wieder Tränen über die Wangen. „Wir können sie doch nicht einfach hierlassen“, flüstere ich. Obwohl ich genau weiß, dass es Unsinn ist, sträubt sich ein Teil von mir, es zu verstehen: Tracys Platz ist jetzt hier, auf dem Friedhof und nicht mehr in unserer Mitte.
Auch ein halbes Jahr später, ist die Wunde, die ihr Tod hinterlassen hat, noch genauso schmerzhaft. Und ich habe gedacht, Wunden heilen mit der Zeit …
Ich schlüpfe in eine andere Hose und ziehe mir die Trainingsjacke über. Fast bin ich der Umkleide und damit auch dem Gestank, von Jahrzehnten alten Sportsocken entkommen. „Kathy warte, hast du nicht Lust, mit uns noch etwas trinken zu gehen? Du warst schon so lange nicht mehr mit“, ruft Sarah, unser Teamkapitän mir hinterher. Jeden Dienstag und Freitag trainiere ich hier mit den Mädels Volleyball. Wobei ‚trainieren‘ in meinem Fall nicht der passende Ausdruck dafür ist. Es ist eher ein unmotiviertes, auf den Ball einprügeln. Früher hatte ich viel Spaß an dem Training und ich war sogar ziemlich gut. Aber dieses „Früher“ ist für mich unerreichbar weit weg, genauso wie die fröhliche Kathy, die ich damals war. Also schüttele ich stumm den Kopf und gehe hinaus.
Hoffentlich fängt es nicht an zu regnen, denke ich und ziehe den Reißverschluss an meiner Trainingsjacke höher. Die grauen Wolken drängen sich schon dicht an dicht, doch noch ist es trocken. Auf dem Weg habe ich zu viel Zeit nachzudenken und meine Gedanken schweifen automatisch zu Tracy und wie unfair das alles ist. Sie hatte es nicht verdient, zu sterben. Wieder füllen sich meine Augen mit Tränen. Schnell stecke ich mir Kopfhörer in die Ohren und starte ein Hörbuch, um mich etwas abzulenken. Aber viel hilft es nicht. Doch dann bricht die Wolkendecke kurz auf und ein paar Sonnenstrahlen scheinen mir direkt ins Gesicht. Ich spüre die vertraute Wärme auf meiner Haut. Und für diesen kurzen Moment vergesse ich die ganze Trauer und meine Wut.
„Schätzchen, dein Dad hat für uns einen Tisch beim Italiener reserviert. Spring schnell unter die Dusche, dann fahren wir los.“ Das ist typisch. Meine Mom fragt mich schon gar nicht mehr, ob ich mitmöchte, weil sie genau weiß, dass ihr meine Antwort nicht gefallen würde „Och Mom, Schule und Training waren so anstrengend. Ich hab keine Lust, jetzt auch noch wegzugehen. Pizza kann ich auch hier essen. Ich will einfach nur…“
Ich will einfach nur … Ja, was will ich überhaupt? Eigentlich will ich nur, dass das alles aufhört … Aufhört, weh zu tun. Aufhört, sich so hoffnungslos anzufühlen.
„… schlafen.“ Beende ich meinen Satz. Prüfend schaut Mom mich an, dann gibt sie mir einen Kuss auf die Stirn und ruft nach meinem Dad.
Während die Tiefkühlpizza im Backofen anfängt zu duften, zappe ich gelangweilt durch das Fernsehprogramm. Es muss doch irgendwas Interessantes geben. Wofür gibt es denn so viele Sender? Dann halte ich kurz inne. Die Serie kenne ich gut. Das war unsere Lieblingsserie. Tracy und ich haben nie eine Folge verpasst. Es fühlt sich wie ein Schlag in den Magen an, dass Tracy jetzt nicht neben mir sitzt. Selbst an Tagen, wo wir die Serie nicht zusammen sehen konnten, haben wir währenddessen immer telefoniert. Schnell schalte ich weg. Aber der Fernseher ist anderer Meinung und schaltet wieder zurück. Das macht er in der letzten Zeit öfter. Irgendwas muss an der Programmtaste kaputt sein. Demonstrativ schalte ich jetzt zwei weiter. Aber auch das hilft nichts. Langsam nervt es. Deswegen springe ich direkt zu einem Film zurück, der beim Durchzappen einigermaßen interessant klang. Und endlich funktioniert es. Ich laufe in die Küche, um meine Pizza zu holen. Doch, bevor ich wieder im Wohnzimmer ankomme, höre ich die vertrauten Stimmen der Serie. Das kann doch nicht sein! Ich gebe auf und schalte den Fernseher aus. Stattdessen mache ich es mir in meinem Schlafzimmer bequem und lausche weiter dem Hörbuch auf meinem Handy. Das war ohnehin viel gemütlicher.
Erst schemenhaft, dann immer deutlicher sehe ich das vertraute Gesicht vor mir. „Tracy!“, rufe ich überglücklich. „Wach auf. Du musst aufwachen!“ Es sieht aus, als würde Tracy mich anschreien, aber es klingt eher wie ein heiseres Flüstern. Wieder füllen sich meine Augen mit Tränen, aber diesmal vor Freude. „Kathy, wach auf oder du wirst sterben.“ Langsam realisiere ich, dass alles nur ein Traum ist. „Aber ich will noch nicht aufwachen. Ich möchte bei dir bleiben“, sage ich und gehe auf sie zu. Tracy nimmt meine Hände in ihre. Und obwohl es ein Traum ist, kann ich ihre Berührung spüren. „Ich bin immer bei dir, aber du musst dich jetzt in Sicherheit bringen.“ Dann verschwindet sie.
Irritiert starre ich in die Dunkelheit. Das Atmen fällt mir schwer. Bei jedem Atemzug kratzt etwas in meinem Hals und zwingt mich zu husten. Erst jetzt bemerke ich den beißenden Geruch nach verbranntem Holz und verschmorten Plastik. Schlagartig werde ich panisch. Es brennt. Unser Haus brennt! Ich springe aus dem Bett und taste nach dem Lichtschalter. Doch der Rauch ist zu dicht, um etwas zu erkennen. „Mom … Dad!“ Ich schreie so laut ich kann, aber das führt nur zu einem weiteren Hustenanfall. Sind sie überhaupt schon wieder zurück? Wie spät ist es? Ich taste auf dem Nachttisch nach meinem Handy. Um das Display zu erkennen, muss ich es dicht vor mein Gesicht halten. Kurz nach Mitternacht. Sie könnten noch unterwegs sein. Dann drücke ich den Notrufbutton. Es klingelt quälend lange Sekunden, bis sich eine erschreckend monotone Stimme meldet.
„Bleiben Sie am Boden … Öffnen Sie auf keinen Fall die Fenster … Versuchen Sie, aus dem Rauch zu kommen … Hilfe kommt!“, sind die Anweisungen des Mannes am anderen Ende der Leitung. ‚Hilfe kommt‘, hallen die Worte in mir wider. Aber wann? Auf dem Boden kniend wähle ich erneut, aber diesmal die Nummer meiner Mom. Mit dem Handy am Ohr taste ich mich voran. Nur das Freizeichen. Jede Bewegung ist anstrengender, als die zuvor. Noch immer nur das Freizeichen. Im Flur scheint der Rauch noch dichter und ich kann nicht einschätzen, woher er kommt. Endlich, ein Knacken in der Leitung. „Hallo Liebling“, sagt sie vergnügt. „Mom“, krächze ich verzweifelt ins Handy. Wenigstens sind die Beiden in Sicherheit. Ich lasse das Handy sinken und krabbele mit beiden Händen weiter. Instinktiv halte ich mich rechts, denn irgendwo hier muss die Treppe sein. „Kathy.“ Ich erstarre. Es ist mehr ein heiseres Flüstern, als eine wirkliche Stimme. Dennoch drehte mich zu ihr um. Tatsächlich. Ganz ruhig und nur einen halben Meter vor mir ist im dunklen Rauch, eine noch dunklere Silhouette. Ich fantasiere schon. Ich muss hier raus! Trotzdem wechsle ich die Richtung und taste mich in zu der Gestalt vor, die immer weiter im Rauch verschwindet. Das Atmen fällt mir mit jedem Atemzug schwerer. Und umso verzweifelter ich versuche, Luft zu holen, umso mehr brennt es in meiner Brust. Dann stoße ich mit den Fingern an etwas Hartes. Die Schlafzimmertür meiner Eltern. Doch die Klinke scheint unerreichbar hoch. Das schaffe ich nicht, denke ich und lehne mich an die Tür. „Nicht aufgeben!“ Wieder diese Stimme. Kaum merklich schüttele ich den Kopf. Ich kann nicht, ich bin so müde. „Du musst kämpfen“, sagt die heisere Stimme, „Ich hatte keine Chance zu kämpfen. Ich wünsche es mir so sehr, aber ich war schon Tod, bevor ich das Auto richtig wahrnehmen konnte. Aber du kannst kämpfen. Du hast dein Leben noch vor dir!“
Tracy hatte wirklich keine Chance gehabt. Ein betrunkener Autofahrer hatte die Kontrolle über seinen Wagen verloren und kam erst auf dem Gehweg zum Stehen. Genau an der Stelle, wo Tracy gestanden hatte. Von einem Moment auf den anderen war sie nicht mehr da. Es gib nur noch die Wut und Trauer, die sie bei uns hinterlässt. Unweigerlich muss ich an ihre Eltern denken…und an meine.
Mit letzter Kraft stemme ich mich an der Tür hoch und drücke die Klinke herunter. Dann falle ich mit der Tür in den Raum. Er hat sich noch nicht so stark mit Rauch gefüllt. Mein Atem brennt noch immer in den Lungen, aber ich habe nicht mehr das Gefühl, krampfhaft nach Luft ringen zu müssen. Ich schließe die Tür und krabbele in eine der hinteren Ecken.
Es dauert nicht lange und das Zimmer wird in blaues Licht getaucht.
Der Schock sitzt auch noch tief, als ich Tage später aus dem Krankenhaus entlassen werde. Ein Kurzschluss in der Elektrik, hatte unten im Flur einen Kabelbrand verursacht, der sich schnell ausbreitete. Wenn ich mich nicht umentschieden hätte und die Treppe hinuntergegangen wäre, hätte ich die Nacht nicht überlebt. Ich weiß nicht, wie es möglich sein kann, ich weiß nur, dass Tracy auch in dieser Nacht für mich da war. So wie schon mein ganzes Leben.
Ich stehe mitten auf dem Volleyballfeld, nur wenige Minuten vor dem Turnieranpfiff. Es ist das erste Mal seit vielen Monaten und ich weiß nicht, wie meine Teamkameraden mich dazu überreden konnten. Unweigerlich blicke ich zur Tribüne. Auf den Platz in der ersten Reihe, auf dem Tracy sitzen müsste. Doch bevor die Trauer mich erwischt, fällt ein Sonnenstrahl durch das Hallenfenster. Direkt in mein Gesicht und ich bin mir sicher, auch bei diesem Spiel wird Tracy mich wieder anfeuern.
V2