Von Marco A. Rauch

Ich sitze in meinem Büro und tippe einen Brief. Auf dem Flur dröhnt der Staubsauger, eine Hauswirtschafterin plärrt: »Ins Zimmer 13 kannst du rein, die Frau Wober ist gestorben.«

»Wer ist gestorben?«, ruft eine andere.

Auf einmal hebt sich mein Blick, wandert zu einem Banner an der Wand. Erinnerungen lösen sich aus der Tiefe des Verstandes, treiben langsam an die Oberfläche. Meine Mundwinkel heben sich, ein Gefühl von Déjà-vu hüllt mich ein, trägt mich zurück in die Vergangenheit.

Vor vielen Jahren war ich Zivi in einer Tagespflege. Wir waren vier Zivis und drei Schwestern. Morgens haben wir die älteren Herrschaften mit einem Transporter abgeholt und in die Tagespflege gefahren. Zwischen neun und fünfzehn Uhr wurden sie dort bespaßt, bekamen zu essen und zu trinken. Wir haben ihnen aus der Zeitung vorgelesen, einfache Spiele gespielt, das Essen gereicht oder einfach nur mit ihnen rumgealbert. Für uns waren das die Alten, Mumien ohne Stimme. Die waren keine Herausforderung, außer, wenn wir sie aus dem Rollstuhl aufs Klo heben mussten. Na ja, manche waren schon nervig. Zum Beispiel eine alte Frau, die rief hin und wieder: »Wenn ick dir erwische! Von wejen Katze!« Aber sonst war sie harmlos.

Jedenfalls, da war diese alte Frau namens Käthe. Ihr Leib war füllig, der Gang leicht gebeugt. Sie hatte jeden Tag dieselbe gelbe Strickweste an, einen Rock und ging am Stock. Ihre Haare waren rot gefärbt. Das sah manchmal erbärmlich aus, wenn das nachwachsende Grau das Rot vor sich her schob. Aber der Zustand hielt nie lange an, spätestens am nächsten Montag war alles wieder rot. Käthe galt als schwerhörig, nur selten verstand sie auf Anhieb, was wir wollten. Meistens fragte sie nach, wenn wir sie ansprachen. Ihre Stimme klang dann immer quäkend und ihr Gesicht verzog sich zu einem angestrengten Ausdruck, als müsse sie eine Birne aus dem Darm drücken. Manchmal wurde ihr Gesicht sogar rot dabei. Dann wiederholten wir mit lauter Stimme noch einmal, was wir gesagt hatten. Zum Beispiel: »Wollen Sie Obst zum Nachtisch?«

»Wer ist gestorben?«

»Ob Sie O-hobst zum Nachtisch wollen?«

»Ach soo. Nein.« Das O zog sie lang und das Nein war abgehackt. Ihre Stimme klang brummig tief und so geraspelt, als hätte sie 70 Jahre lang geraucht. Als würde eine uralte, rauchende Bärin sprechen. Manchmal machten wir uns ganz offen über sie lustig und äfften sie nach. Sie konnte es ja nicht hören.

An manchen Tagen gingen wir spazieren. Zwei der drei Schwestern, zwei Zivis, einige der Alten, die noch selbst laufen konnten. Ein paar Andere schoben wir in Rollstühlen. Wir gingen in einen nahegelegenen Park und genossen das schöne Wetter. Käthe Müller war meistens dabei.

»Frau Müller, wollen Sie lieber in den Schatten?«

»Wer ist gestorben?«

»Ob Sie lieber in den Schatten möchten?«

»Ach so. Nein.«

Fünf Minuten später, irgendwann hatte ich ein Gefühl dafür: »Mir is zu warm.«

»Wollen Sie lieber in den Schatten?«

»Wer ist gestorben?«

»Ob Sie lieber in den Schatten wollen?«

»Ja, mir is zu warm!«

Also stand ich auf, sie hängte sich bei mir ein und wir gingen langsam zu einer Bank im Schatten. Das Schmunzeln in meinem Gesicht sprach Bände. Keiner von uns nahm sie ernst, sie hatte eben ihre Macke. Etwas später, vielleicht zehn Minuten, es war nur eine Frage der Zeit, brummelte sie quäkend: »Mir is kalt!« Auch das war eine ihrer Eigenheiten, sie schaffte es als einzige Person, gleichzeitig zu brummeln und zu quäken. Dabei klang sie fast wie ein verlorenes Kind, das etwas feststellt. Etwas, das es alleine nicht ändern kann. »Wollen Sie in die Sonne?«

»Wer ist gestorben?«

»Ob Sie in die Sonne möchten?«

»Ja, mir is kalt!« Kaum gesagt, hatte sie bereits ihre Hand ausgestreckt und ich half ihr kopfschüttelnd hoch. Damals dachte ich, ihr Verhalten ist wie ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, sie will uns mit diesem Hin und Her ärgern. Na ja, wir waren Zivis, wir waren jung und die Welt gehörte uns. Und mal ehrlich: Zivildienst war immer noch besser als »Ja, Sir! Nein, Sir!« So eine wie Käthe konnte mir den Tag nicht vermiesen. Sie war eben eine von den Alten. Irgendwo hatten die doch alle ne Macke.

An verregneten Tagen blieben wir innen und manchmal stellten wir Fragen zu allgemeinen Themen. Die Schwestern nannten das ‚Aktivierung‘. Im Aufenthaltsraum saßen alle um einen großen Tisch herum, vor sich ein Glas und eine Serviette. Käthe saß meist auf ihrem Stuhl, den Kopf gesenkt und hatte die Augen geschlossen. Es wirkte fast, als wäre sie weit, weit entfernt. Wir waren ganz froh darüber, dass sie sich nicht beteiligte. So ersparte sie uns das nervige »Wer ist gestorben?« Keine Ahnung, woher sie das hatte.

Eines Tages, bei so einer ‚Aktivierung‘, stellte ich die Frage in die Runde »Wer war Hauptdarsteller in dem Film ‚So wie wir waren‘?« Ein älterer Mann rief »Eastwood« und schaute siegessicher drein. Ich wollte gerade auflösen, doch urplötzlich brummte Käthe: »Nein, falsch!« Sie wischte sich über die Nase und fügte hinzu: »Das war der Redford!«

Keiner von uns konnte in dem Moment etwas sagen, selbst der Mann blieb mit offenem Mund still. Er hatte seine Hand schon zum Widerspruch erhoben, zitternd stand sie in der Luft. Wir alle mussten einen Moment überlegen, ob wir das nur geträumt hatten. Käthe hatte sich noch nie eingemischt. Schnell schaute ich auf meine Karte. Redford.

Ich sah zu Käthe, sie senkte den Kopf, schloss die Lider und für eine Sekunde sah ich ein Grinsen, auf das ein Gähnen folgte. Danach war es ruhig und wir Zivis warfen uns einen Blick zu, der Bände sprach. Wir alle wussten von da an, mit dieser Frau ist zu rechnen. Ab jenem Tag fand ich es spannend, sie zu beobachten, ihre Gesichtszüge, denn offensichtlich war sie doch nicht so schwerhörig, wie wir alle gedacht hatten.

In den folgenden Monaten kam es immer mal wieder vor, dass sie uns auf diese Weise überraschte. Gerade wenn du gedacht hast, es wäre einmalig gewesen, Bumm! Käthe. Und manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, konnte ich ein schelmisches Grinsen auf ihrem Gesicht erkennen. Nur ganz kurz, sie versuchte es schnell mit einem Gähnen zu überlagern, aber ganz konnte sie es nicht verbergen. Wie eine zufriedene, alte Katze, die für eine Sekunde grinst.

Damals wusste ich nicht, was ich von ihr halten soll, deswegen habe ich mich mit ihrer Tochter unterhalten, als sie mal zu Besuch kam. Dabei erfuhr ich, Käthe war früher Lehrerin gewesen. Sie hatte ihr Leben den Kleinsten gewidmet, den Grundschulkindern. Nicht, dass mich das damals beeindruckt hätte, aber nach und nach führte es mich zu dem Gedanken, dass irgendwann auch Lehrer mal in Rente gehen und ihre Verantwortung für die junge Generation an eben diese abgeben. Denn die junge Generation, wir, taten nun unsererseits unser Bestes, ihr zu helfen. So bekam ich eine Idee vom Kreislauf des Lebens und mein Job eine gewisse Bedeutung. Der Gedanke hat mir geholfen, über ihre Macken hinwegzusehen.

Gegen Ende des Sommers passierte dann das, was uns allen irgendwann bevorsteht. Käthe kam nicht mehr. Ihre Tochter besuchte einige Tage später die Tagespflege, brachte selbst gebackenen Kuchen mit und bedankte sich für die gute Betreuung. Kurz darauf war mein Zivildienst beendet.

Seitdem sind viele Jahre vergangen und ich denke nur noch selten an diese Zeit.

 

Aber manchmal, wenn ich diese Worte höre, wenn jemand fragt »Wer ist gestorben?«, dann sehe ich sie wieder vor mir, die rothaarige Frau mit Rock und Stock. Und ich stelle mir vor, wie sie im Himmel sitzt und versucht, ihr schelmisches Grinsen zu verbergen. Dann ziehen sich meine Mundwinkel nach oben, denn erst später habe ich begriffen, sie ist bis zum Ende Lehrerin geblieben.

 

»Wer ist gestorben?«, hat sie immer gefragt. Das war ihre Art, die Schüler zu erinnern: Menschen können sterben, ihre Lehren überdauern. Nutze das Erbe sinnvoll, dann war ihr Leben nicht umsonst.

Heute bin ich Pflegedienstleiter in einem Seniorenheim. In meinem Büro hängt ein großes Banner mit Käthes Worten. Sie sollen mich immer erinnern: Unsere Bewohner sind keine Mumien ohne Stimme, sondern vorausgegangene Wegbereiter im Kreislauf des Lebens. Und jeder Einzelne verdient eine respektvolle Behandlung.

 

 

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