Von Eva Schmidt

Klara beschleunigte auf 170 km/h. Ihr Magen kribbelte. Autobahnfahren im Frühling war etwas besonderes: die Geschwindigkeit, der Wind durch die leicht heruntergelassene Scheibe, die Radio- Musik und der Flieder- und Raps-Duft von den Feldern. Sie liebte Flieder und Raps. Und den Frühling. Ihre Seele fühlte sich wie frisch gewaschen. Es war Nachmittag und die Sonne schien vom blauen Himmel. Einige Wölkchen zogen umher, wie vergessene Schafe.

Heute war ein guter Tag, ein sehr Guter. Klara lächelte. Die Beschleunigung ihres Fahrzeugs spiegelte ihre Wandlung in den letzten Monaten wider. Sie hatte jemand anders werden müssen, und manchmal hatte sie gedacht, unterwegs sterben zu müssen, so wie …
Als eines ihrer Lieblingslieder gespielt wurde, ein fröhlicher Song, drehte sie den Regler hoch und sang mit. Vor einigen Wochen noch hätte sie nicht gedacht, heute singen oder lächeln zu können. Da hatte alles ganz anders ausgesehen.

Das war, bevor ihre Oma zu ihr gekommen war. Und vor den Diamanten. Ihre Oma, die vor elf Monaten an einem Schlaganfall starb.
Sie hatte es nicht leicht gehabt, ihre Oma. Ihr Leben war wie das vieler Menschen, die in den 1920ern in Deutschland geboren wurden, von Entbehrungen und Enttäuschungen geprägt. Sie hatte Klara Geschichten aus der Nachkriegszeit erzählt, von Gewohnheiten und Hoffnungen, vom Mangel an Nahrung, Frieden und Sicherheit. In ihren Erzählungen hatten sich Abgründe aufgetan.

Ihre Oma war eine bescheidene Frau gewesen, vielleicht zu bescheiden, eine humorvolle und warmherzige Frau, die jeder schnell ins Herz schloss. Ihre Gespräche hatten schleichend begonnen, und waren genauso intensiver geworden. Anfangs dachte Klara, keine Geduld zu haben, den alten Geschichten zuzuhören. Doch sie hatte ihrem Opa, als er starb, versprochen, sich um ihre Oma kümmern, die nach seinem Tod so mutlos war. Und Klara liebte ihre Oma.
Die Sache war nur: verstaubte Erzählungen zu hören, Geschichten die nicht mehr wichtig waren, wie Klara meinte, die keinen Einfluss mehr hatten, solchen Geschichten konnte sie nicht lange folgen. Das dachte sie, naiv und mit nichts als prokrastinierten Studienarbeiten, facebook und Youtube im hektischen Kopf.
Doch sie erkannte bald, welchem Irrtum sie aufgesessen war. Die Erzählungen prägten sie. Ihre Oma erzählte sehr bildhaft und gefühlvoll; die Geschichten wurden in Klara lebendig und beide Frauen kamen sich näher, wurden Freundinnen. Oft konnte Klara sich hineinversetzen, als wäre es ihr selbst zugestoßen. Und erst nach dem Tod ihrer Oma erfuhr sie, warum das so war, denn sie erzählte es ihr.
Als der Tod ihrer Oma etwa zehn Monate her war, steckte Klara tief in der Trauer. Sie war bei ihren Großeltern aufgewachsen, hatte ihnen näher gestanden als ihren Eltern. Und nun waren sie beide tot. Oma und Opa, einer nach dem anderen, und ein Loch gähnte in Klaras Herzen und in ihrer Zukunft. Wo sollte sie noch Geborgenheit suchen? Wirklichen Trost? Es hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, und sie war nicht stark genug, sich aufzufangen. Die Einsamkeit wurde stärker und immer häufiger griff Klara auf Medikamente zurück.

An einem Morgen vor einigen Wochen schließlich war Klara gerade vom Küchentisch aufgestanden, hatte den letzten Schluck Kaffe ausgetrunken und Butter, Brot und Käse weggeräumt. Es war ein trister Morgen gewesen, und sie war auf dem Sprung zur Arbeit und zu spät dran. Sie fluchte, denn fast jedes Mal verbrannte sie mit ihrem Smartphone die Zeit ohne es zu merken, und musste dann hetzen. Da hatte sie im Augenwinkel einen Umriss wahrgenommen …
Sie hielt inne. Auf dem Stuhl, auf dem Max beim Frühstück saß, wenn er bei ihr schlief, war ein Schemen, der ein bisschen aussah wie die Auren, die früher als Teenager ihre Migräneanfälle angekündigt hatten. Die Schmerzen würde sie nie wieder vergessen. Doch Migräne hatte sie seit

Jahren nicht mehr gehabt, und weder spürte sie beginnende Kopfschmerzen, noch sah sie Prismen. Konnte es die Trauer sein? Konnte ein knappes Jahr Trauer zu lange sein? Nein, befand Klara. Sie versuchte, den Umriss zu untersuchen, wischte sich die Augen, doch er blieb. Sie erstarrte, als sie in dem Schemen das Abbild ihrer Oma erkannte. Undeutlich und durchscheinend, aber zweifellos ihre Oma.

In aufrechter Haltung daß sie da, ganz anders als früher, und sah Klara neugierig an. Genauso wie früher. Sie lächelte ihr faltiges Lächeln, das Klara so vermisste. Zuneigung vertrieb den Schrecken und weckte Erinnerungen, die sie seit Monaten verdrängte.
Klara entspannte sich unter diesem friedlichen Lächeln, vergaß ihre Arbeit und glitt auf den Stuhl zurück. Sie stützte ihre Arme in die Frühstückskrümel, ohne es zu merken. Tränen traten ihr in die Augen, als sie in die grüngrauen Augen ihrer Oma sah. Klara freute sich unbändig, sie wieder zu sehen, egal wie das möglich war. Und wenn sie verrückt wurde, war es das wert.

„Mein Klärchen.“, sagte ihre Oma, ohne die Lippen zu bewegen. Ihre Stimme war warm und ruhig. „Oma …“, stotterte Klara.
„Es tut mir leid, dass es dir so schlecht geht.“
„Oma“, Klara seufzte zitternd und sah die alte Frau traurig an. „Oma … “, dann fielen die Tränen auf den Tisch.

Sie legte das Gesicht in ihre Arme und weinte wie selten zuvor. Ein Ventil war geöffnet worden und Klara hatte Angst vor sich selbst, vor der Kraft ihrer Trauer. Zwei Arme legten sich um ihren Rücken, still und zärtlich. Es tat gut, doch Klara glaubte nicht, dass die Berührung ihren Schmerz lindern könnte. Ihre größte Angst war Wirklichkeit geworden: die Konfrontation.

„Klara, mein Kind. Verstehe bitte endlich, dass die Dinge sind, wie sie sind, und dass es keinen Weg zurück gibt.“
Klara schluchzte leise.
„Wir machen uns Sorgen um dich, Opa und ich.“

Klara schniefte, versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus.
„Es tut mir leid, dass ich so plötzlich weg war, dass Opa und ich nicht mehr für dich da sein konnten.“
Sie strich Klara liebevoll über den Rücken. Ihre Hand war warm.
„Aber versuche zu akzeptieren, dass, obwohl du nicht immer verstehen kannst warum etwas geschieht, es trotzdem gut ist, es einen Sinn hat.“
„Warum seid ihr weggegangen!“, platzte es aus Klara heraus.
„Klara!“, ermahnte sie ihre Oma, wie als Kind, wenn Klara vergessen hatte, Gäste oder Verkäufer zu grüßen.
„Ich bin hier, um dir zu erklären, warum. Opa und ich lieben dich nämlich sehr, mehr denn je.“, sie machte eine Pause. „Und wir sind immer bei dir.“
„Wirklich?“, Klara sah auf, das Gesicht nass und rot.
„Ja! Wenn du wüsstest, was wir alles mitbekommen, wie gern wir bei euch sind. Und wie gern wir verfolgen, was ihr tut und wie ihr euch entwickelt.“
Klaras Verzweiflung kühlte ab und sie fühlte sich leichter. Es war wie ein Wunder. Ihre Angst, vor Kummer zu sterben, war zwar noch da, aber deutlich schwächer.
„Ihr fehlt mir so!“, Klara hatte das Gefühl, einen Felsen von ihren Schultern zu heben: „Und ich liebe euch.“, Sie sah auf den Boden.
„Ich brauche euch.“, flüsterte sie.
„Klara.“, ihre Oma strich ihr über das feine, blonde Haar, sicherer als früher, denn sie zitterte nicht mehr.
„Du machst das gut, und du wirst es schaffen. Du hast soviel geschafft. Und Opa und ich sind so stolz auf dich.“
Klaras Tränen rollten wieder, stillere Tränen, friedvolle Tränen. Der Krieg war ausgesetzt.

„Kannst du dich noch an die Geschichte von meinem Pflichtjahr entsinnen? Als ich als Kind von

zuhause weggeschickt wurde, um bei Fremden zu arbeiten?“ Klara nickte stumm.
„Was ich erlebt habe, reicht für zwei Menschenleben.“
„Ja“, antwortete Klara tonlos.

„Auch du hast viel zu tragen, meine Klara. Das ist hier so. Und es ist so, damit wir wachsen. Wir alle, gemeinsam.“
„Und dafür all das … Leid?“
„Ja, Klara. Du wirst es einmal verstehen. Bis dahin bitte ich dich, mir zu vertrauen. Vertrau mir, meine Kleine. Ich weiß, dass du es kannst. Ich liebe dich, und Opa liebt dich.“

Klara fühlte Trost und Wut gleichermaßen, ihre Gedanken rasten. Sie hatte nicht die Kraft, das zu schaffen! Warum verstand das keiner? Was passierte, wenn man alles hier nicht tragen konnte? „Mein Herz, deine Empfindsamkeit ist ein Geschenk, an dich und alle um dich herum.“, erklärte ihre Oma, als hätte sie ihre Gedanken gelesen: „Setze sie ein.“

Klara drehte sich um, sah die Erscheinung ihrer Oma und vergaß für einen Moment, dass sie gar nicht hier sein konnte. Sie fühlte nur die Liebe, die sie für sie empfand.
„Nur deshalb kann ich hier sein und mit dir sprechen. Und denk bloß nicht, dass ich mich nicht genauso freue, dich zu sehen, wie du dich über mich freust!“, ihre Oma blinzelte verschwörerisch und strich über Klaras Hand. Es fühlte sich warm an, fast normal.

„Was du verstehen musst, meine Klara, ist, dass wir, du und ich, eins sind. Wir können nicht voneinander getrennt sein. Nie. Wir sind immer zusammen.“
Zwei kleine Diamanten erschienen vor Klaras geistigem Auge und schwebten durch die Küche aufeinander zu. Dabei glitzerten sie wie Wellen in der Sonne. Unvermittelt flossen sie ineinander, und verschmolzen. Es wurde warm in Klaras Bauch und sie verstand.

Ich bin nicht nur Klara, ich bin auch Magdalena, meine Oma.

Sie fühlte es. Sie waren nicht voneinander getrennt, waren es nie gewesen, und auch der Tod konnte nichts daran ändern.

Dieser Tag war nun schon Wochen her und Klaras Trauer hatte sich seitdem verwandelt. Sie fühlte Frieden, einen Grund zu trauern gab es nicht mehr. Ihre Oma war nach diesem Ereignis wieder verschwunden. Und doch war sie es nicht, denn Klara konnte ihre Großeltern seitdem in ihrer Nähe fühlen. Wenn sie ihren Opa bei sich fühlte, sah sie Papier vor ihrem inneren Auge, ein altes Buch zum Beispiel, oder sie hörte raschelndes Zeitungspapier. Er hatte immer viel gelesen. Und ihre Oma, die hatte Schmucksteine geliebt.

So wie Klara.

– in Liebe für meine Oma Magdalena

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