Von Maria Lehner

Der Ball in der Hofburg gilt als Höhepunkt der Saison und junge Leute aus bester Gesellschaft sind als Debütanten mittendrin. Schorschi sagt: „Na: Belohnungs-Bier am Balkon?“ Xandi und die beiden Damen nicken. Kurz darauf frösteln alle vier:  Sie haben sich auf einen der Außenbalkone zurückgezogen, nippen am Bier aus der Flasche und wirken jetzt entspannter als noch fünf Stunden zuvor: „Einmal Vortanzen, zwei Proben, eine Stellprobe, die Generalprobe – und so schnell war die Polonaise vorbei“. Therés wirkt erleichtert und aufgekratzt im Gespräch mit Sophie. 

„Na hörts, was sagts ihr zu der grindigen Ballspende?“ Die das fragt, steht in einer Ecke des Balkons im Halbdunkel und spricht komisch: Wer sagt bitte heutzutage noch „grindig“? Sprachen Urgroßmütter so, wenn sie „unappetitlich“ meinten? Da ist eine ältere Dame, wohlbeleibt, mit geschnürtem Mieder und üppiger Aufsteckfrisur. Einen Pelz – riecht er modrig? – hat sie um die Schultern und einen monströsen Fächer in der Hand. Was sie um den Hals trägt, würden Therés und Sophie als „Statementkette“ bezeichnen, denn dass so etwas echter Schmuck sein könnte, übersteigt jegliche Vorstellungskraft. Das Kleid erinnert an den Theaterfundus. 

Einen Spruch hat die drauf: „Na, ihr zwa Schatzerln, dass ihr mir nicht durchs Kanalgitter rutscht, so klapperdürr wie ihr seid. Und die jungen Herren sind a bissl maulfaul, was? A fade Partie!“ Eine absonderliche Erscheinung. Und: Sie r-a-u-c-h-t. Hier. Bei dem strengen Verbot! Noch dazu eine Zigarre!

Etwas bewegt sich neben der bizarren Erscheinung. Sophie presst tonlos hervor: „Sagen Sie, was ist das hier – etwa…!“ Die Frau: „Jojo, meine Burschis, die Zwergbulldoggen, ohne die geh i nirgends hin. I hab sie in meinem Tascherl hereingschmuggelt“.

„Gnädige Frau, wie gefällt Ihnen denn der Ball“, fragt Therés, die sich schnell gefasst hat, distanziert. Eigentlich hatte sie gemeint: „Was macht jemand wie Sie hier?“ Aber die Ballbesucherin hat schon verstanden: „Geh, Bauxerl, i bin ka Gnädige. I bin sogar grad ziemlich ungnädig. Und i bin net freiwillig da, lieber hätt ich es gemütlich in meinem Betterl in Dornbach draußen. Aber – nein: Man hat mich ja aufwecken müssen. Dreimal am Tag hat einer gsagt, dass ich mich im Grab umdrehn tät. Bis ichs getan hab. Aber dann wollte ich auch wissen, warum. Hab mich eh schon so ärgern müssen – nach einer Maske habens mich gfragt, da hab ich sie gleich stehn lassen – sind wir auf einem Maskenball? Und einer wollte einen Grünen Pass sehen. Wo samma denn, im Ausland?! Dem hab ich mit dem grünen Fächer eins übergezogen…“

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„Und was war es, das Sie wissen wollten?“ fragt Schorschi, der sich als Erster gefasst hat. „I bin wegen dem grauslichen Holzkeks da, das sie als Ballspende hergeben. Habts ihr eh noch nix davon gegessen? Bitte tuts net amal die Krähen damit füttern, könnt ihnen schaden. Verheizen könnt mans eventuell…“. 

Der Xandi erinnert sich an das, was er gelernt hat und stellt die beiden Damen, den Schorschi und sich selbst vor. „Ist schon recht“, sagt sie „Sacher. Anna Sacher.“ Sophie, formvollendet: „So, wie die bekannte Hotelierin aus dem neunzehnten Jahrhundert?“ „Na, net so wie! I bins eh!“ knurrt sie. „I hab schon gsagt, Mäderl, dass sie mich so lang haben im Grab auf dem Dornbacher Friedhof umdrehen lassen, bis ich aufgstanden bin, um mir die Sauerei hier selber anzusehen.“ Mit der Sauerei meint sie die Ballspende die man mit „Original-Sachertorte en miniature“ beworben hat. Worauf mehrmals gesagt worden war: „Da tät sich die Frau Sacher im Grab umdrehen“. 

So musste sie vom Dornbacher Friedhof in die Hofburg um zu sehen: Die angebliche Sachertorte hat eine Marmeladeschicht in der Mitte, was schon Fälschung genug ist. „A Schkandal!“ lässt Anna Sacher auf Wienerisch verlauten: „Das Zeug ist mit Margarine gmacht und hat a kakaohaltige Fettglasur; im Teig ist zu wenig Schokolade und die ist viel zu süß. Sowas riech i gegen den Wind. Auch wenn i a Fleischhauerstochter aus der Leopoldstadt bin. Aber die Torte hat mein Schwiegervater erfunden“. Und einen runden Schokoladenaufleger, ein Siegel mit der Aufschrift „Hotel Sacher Wien“ fordert sie auch ein. Den vier Jungen ist endgültig der Appetit vergangen. Langsam wird ihnen etwas kühl auf dem kleinen Balkon. Ah, da kommen die Freunde! Einer lässt die Tür einen Augenblick zu lang offen und eines der Hündchen wuselt in den Ballsaal. Sofort ist der diensthabende Polizist (in Festuniform) zur Stelle: „Ich belehre Sie“, beginnt er, „dass Sie ein Vergehen gegen das Tabakgesetz, die Covid-Maßnahmenverordnung und einen schweren Verstoß gegen die Hausordnung sowie die Brandschutzverordnung begangen haben…“. 

 

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Er will noch die Paragraphen und das Strafausmaß nennen, doch Anna Sacher hat tief Luft geholt und in einer Atempause holt sie zum großen Lamento aus. „Wos glauben Sie, wenn ich jetzt das Gegenrechnen anfang, was das dem Ballbetreiber kosten wird? Schließlich geht’s um unseren guten Namen, der hier verschandelt wird!“ Sie gerät in Fahrt und das Delikt der Beamtenbeleidigung ist flugs verwirklicht. Die Jungen folgen staunend einer Szene, wie sie keine Vorstadtbühne besser hätte bieten können – sogar der Vorwurf Altersdiskriminierung hat noch Platz: „Und mit einer alten frau geht man so um? Hat eahnera Muatta ihnen kein Benehmen beigebracht?!“  Am Schluss ist der Beamte, wie man in Wien sagt, „schmähstad“, das heißt, dass es ihm die Sprache verschlagen hat. 

Frau Sacher nutzt das, um ihm schnell ein Stück von der Damenspende in den Mund zu schieben: „Und dazu sagens nix! Das ist das wahre Verbrechen. Mit meinem guten Namen!“ Er stößt zwischen zwei Hustern „Nussallergie“ hervor. „Was – Nüss sind auch noch drin! Da hau ich doch den Hut drauf!“, donnert Anna Sacher noch, dann marschiert sie hocherhobenen Hauptes mit den Zwergbulldoggen ab. Sophie, Schorschi, Therés, Xandi und die anderen stehen und schauen. Der Polizist befragt sie, nachdem er wieder zu Atem gekommen ist. Er notiert „Sacher Anna. Friedhof Dornbach“. Das wird er in den Bericht schreiben.

Unten steigt die imposante Erscheinung in eines der bereitstehenden Taxis. „Nach Dornbach naus, zum Friedhof“, befiehlt sie, „oba ein wengerl fix, wenn i bitten dürft! Meine Hunderln san ganz müd von der schlechten Luft“. „A propos schlechte Luft“, sagt der Taxifahrer diplomatisch: „Soll ich das Fenster ein bisschen aufmachen?“ Ist das der Geruch von den Mottenkugeln oder sind die Hunde undicht? Sie knurrt ein kategorisches „Na, oba sicha net!“ von hinten und er fährt flach atmend und schweigend seine Strecke hinaus in die Vorstadt. Auf die Idee zu fragen, ob sein Fahrgast zahlen kann, kommt er nicht. Es wundert ihn nicht einmal, was sie nachts auf dem Friedhof will. Nach all dem, was er aber am Fahrtziel zu hören bekommt und erlebt, nachdem sie ausgestiegen ist, will er nur mehr weg: Die geht wie ein Gespenst direkt durch die Tür mit dem Eisengitter, nachdem sie ihm den Fächer mit den Straußenfedern hingeworfen hat und ihm geraten haben: „Jo, dann verklagens mich halt. Zahln tu ich nix. Ich schenk ihnen sogar meinen Fächer als Andenken!“

„Was bist denn gestern gar so spät heimgekommen?“ fragt seine Frau am nächsten Morgen, als er sein Taxi – er darf es daheim abstellen, wenn es spät wird – putzt. Er seufzt missmutig „Ärger hab i ghabt. Aber wart, da hab ich was für dich!“ Er öffnet die hintere Wagentür: Über den Fächer wird sie sich freuen, sie hängt sowas gern daheim auf. „Ja und“, sagt sie – jetzt auch schlecht gelaunt – „was soll das: einen Haufen Lurch bringst mir?“ Damit bezeichnet man in Wien große Schmutzgebinde aus Staub.  Das kommt später in den Fahrtbericht: „Nachdem die Person ohne zu zahlen durch eine schmiedeeiserne Tür gegangen war, blieb ein Objekt zurück, das auf den ersten Blick ein grüner Fächer mit den Initialen „A.S.“ zu sein schien, das sich jedoch innerhalb kürzester Zeit dematerialisiert hat.“

Und die Anna Sacher? Sie dreht sich noch einmal im Sarkophag um und die Hunderln finden auch ihren Platz. Im Einschlafen murmelt sie das, was der Erzherzog früher immer gern gesagt hat: „O tempora o mores“. Sie glaubt sich zu erinnern, dass das so etwas wie „Die Zeiten waren auch schon einmal besser!“ heißt.

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Version 2 (8176 Z)