Von Adrian Boege

>>Hallo!<<, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer.

Ich ignorierte sie erneut. Genau hiervor war ich gewarnt worden. Neben mir glühten die Reste der selbstgedrehten Zigarette, die ich mit dem gelblichen Pulver präpariert hatte. Ich sollte tot sein. Stattdessen saß ich genervt auf der Couch und versuchte, eine Schildkröte zu ignorieren.

>>Entschuldigen Sie, ich habe mich verlaufen.<< Sie war sehr höflich. 

Bei der richtigen Dosierung schläfst du ein und hörst irgendwann im Schlaf auf zu atmen, hieß es. Nimmst du zu viel, werden deine Atemwege gelähmt, bevor du einschläfst. Dann erstickst du, bekommst aber alles mit. Nimmst du zu wenig, halluzinierst du und verlierst das Gefühl in den Händen. Dann wachst du am nächsten Tag mit einem ordentlichen Kater auf, lebst aber immer noch. So wurde es mir erklärt. In meinem Fall, das Worst-Case-Scenario. 

Als meine Frau starb, war für mich klar, dass ich nicht mehr lange leben wollte. Kinder hatten wir keine und mit den meisten Menschen, die ich kannte, konnte ich nichts anfangen. Das war jetzt fast 2 Jahre her.

Mit einem Seufzen griff ich etwas grobmotorisch nach dem durchsichtigen Tütchen, welches das gelbe, nebenbei bemerkt, äußerst preiswerte und unerwartet legale Pulver enthielt. Da ich schon im Stadium des Halluzinierens war, würde ich nicht mehr viel benötigen, um zu sterben. Ich vermischte also eine kleine Menge mit etwas Tabak und versuchte zu drehen. Die Schildkröte sah interessiert zu. Meine Finger waren etwas taub, sodass mir das Papier aus der Hand glitt und die Mischung zu Boden fiel.

>>Verflixt nochmal!<<, sagte die Schildkröte ehrlich bestürzt. Genervt sah ich sie an. Als sie meinen Blick bemerkte, strahlte sie über beide Ohren. >>Hallo!<<, wiederholte sie mit neuer Motivation. >>Ich habe mich verlaufen. Wissen Sie vielleicht, wie viel Uhr es ist?<< Sie war wirklich ausgesprochen höflich.

Ich sah auf meine Armbanduhr. >>Es ist…<<, begann ich, >> Moment, wie hilft dir die Uhrzeit, wenn du dich verlaufen hast?<< 

Die Schildkröte überlegte angestrengt. >>Ich weiß nicht <<, gab sie zu und lächelte entschuldigend.

>>Wo wolltest du denn hin?<<, fragte ich. Obwohl sie nur ein Teil meiner Halluzination war, tat sie mir irgendwie leid. Wieder überlegte sie. >>Ich bin manchmal ein bisschen vergesslich.<< 

>>Hm<<, sagte ich. Draußen fing es an zu regnen.

>>Wo wolltest DU denn hin?<<, fragte sie nach einer kurzen Pause.

>>Ich… ähm.<< 

>>Hast du dich auch verlaufen?<<

>>Ich… nein. Eigentlich wollte ich…<<, ich sah auf die Zigarette, >>eigentlich wollte ich mich umbringen.<< Jetzt war ich der, der entschuldigend lächelte. Irgendwie schämte ich mich vor ihr.

>>Ach so<<, entgegnete sie wenig beeindruckt. >>Weil du auch aussiehst als hättest du dich verlaufen.<<

Ich sah in den Spiegel, der an der Wand hing. Mit meinem wirren Haar und dem Schlafanzug machte ich wahrscheinlich wirklich einen verwirrten Eindruck. >>Ja, irgendwie hab ich mich auch verlaufen<<, gab ich zu. Ich musste kichern. >>Deshalb habe ich dich wahrscheinlich auch herbei halluziniert.<<

>>Ach so, ja. Ich habe dich wahrscheinlich auch herbei halluziniert deshalb<<, antwortete sie nickend.

Ich schüttelte den Kopf. >>Quatsch. Du bist ja selbst eine Halluzination.<<

>>ICH bin eine Schildkröte!<<, rief sie beleidigt.

>>Entschuldigung.<<

>>So ein Quatsch<<, murmelte sie, >>Halluzination. Vielleicht bist DU eine Halluzination!<<

>>Hm. Vielleicht bin ich das wirklich.<< Der Gedanke gefiel mir.

>>Ich wollte einen Hut kaufen!<<, platzte es plötzlich aus ihr heraus. >>Und du wolltest dich umbringen<< stellte sie fest.

>>Genau.<<

Wieder überlegte sie. >>Was bringt das?<<

>>Was das bringt? Ähm. Naja, dann ist man weg.<<

>>So wie Urlaub?<<

>>Ein bisschen so wie Urlaub, ja. Nur länger.<<

>>Ahja. Wie lange?<<

>>Eigentlich für immer<<, antwortete ich.

>>Also mehr wie umziehen<<, entschied sie.

>>Ja. Mehr wie umziehen. Aber nicht in eine andere Stadt, sondern eher… Das ist wirklich schwer zu erklären.<<

>>Mehr so wie in ein anderes körperloses, geistiges Dasein, weil das Leben im physischen Körper oder zumindest im Kopf so schlimm weh tut das man nicht mehr die Kraft hat jeden Tag alleine gegen die Schmerzen anzukämpfen?<<

Verdutzt sah ich sie an. >>Genau.<<

>>Meine Tante hat sich auch umgebracht<<, sagte sie. >>Jetzt meldet sie sich nur noch ganz selten.<<

>>Weil sie tot ist wahrscheinlich<<, erwiderte ich etwas genervt.

Abschätzend sah sie mich an. >>Wahrscheinlich. Ich meine, sie halluziniert mich nicht mehr so oft an.<<

>>Halluzinieren ist nicht dasselbe wie telefonieren<< bemerkte ich. >>Du verwechselst da was.<<

>>Doch!<<, sagte sie bestimmt.

>>Quatsch. Telefonieren ist real.<<

>>Pfff real<<, lachte sie. Irgendwie kam ich mir dumm vor. >>Real ist überbewertet.<< 

>>Realität ist das Einzige, was wir haben<<, sagte ich; mich verteidigend. 

>>Realität ist vor allem subjektiv.<<

>>Ja. Okay<<, gab ich zu.

Wieder sah ich auf meine Armbanduhr.

>>Ich müsste dann auch langsam<<, sagte ich vorsichtig. Ich wollte sie nicht hinauswerfen, aber Zeit ist Geld und die Schildkröte sah nicht so aus, als ob sie eine Geldbörse bei sich trug. 

>>Ahja. Ich müsste auch mal weiter.<< Plötzlich war die Stimmung zwischen uns komisch. Als hätten unsere Geister sich voneinander entfernt.

>>Wie viel Uhr ist es?<<, fragte sie erneut.

>>Gleich 16 Uhr.<<

>>Ahja.<<, sie sah aus dem Fenster, dann zu mir und dann wieder aus dem Fenster. Ich glaubte, dass sie darüber nachdachte, ob es sich lohnte, in den Regen zu gehen, nur um aus der Situation zu kommen. Ich fühlte mich schlecht, irgendwie unhöflich.

Die Schildkröte schien sich entschieden zu haben. >>Wenn Sie bitte das Fenster öffnen könnten, damit ich nach draußen fliegen kann?<<, sagte sie.

>>Fliegen?<<

>>Naja laufen werde ich bestimmt nicht<<, sagte sie amüsiert und wackelte demonstrativ mit ihrem kurzen Beinchen.

>>Natürlich nicht. Mein Fehler.<< Ich öffnete das Fenster. Die Sonne schien stellenweise schon wieder durch die Wolken und der Regen hatte etwas nachgelassen. Am Himmel sah man einen sanften Regenbogen. Die Schildkröte trippelte ein paar Schritte in Richtung Fenster. Auch sie schien etwas unentschlossen. Die Situation war unangenehm. 

>>Möchtest du vielleicht noch etwas essen vor der Reise?<<, hörte ich mich fragen.

>>Was hast du denn?<<, fragte sie.

>>Ich habe… Bananen?<<

Bananen waren tatsächlich das Einzige, was ich noch zu Hause hatte. Ich hatte geplant, mich heute umzubringen und nicht mehr eingekauft.

>>Banane klingt super!<<, rief sie und hob ihr Beinchen. Irgendwie wusste ich, dass sie einen Daumen hoch gemacht hätte, hätte sie Daumen gehabt.

Ich ging also in die Küche und holte uns beiden je eine Banane. Ihre schnitt ich vorher in kleine Stückchen und legte sie auf einen Teller, den ich vor ihr auf dem Boden abstellte. Dann setzte ich mich wieder aufs Bett und wir beide mampften die süße gelbe Frucht. Zu meiner Überraschung aß sie die Banane komplett auf. Sie brauchte nicht mal viel länger als ich.

>>Mmhh!<< sagte sie, als sie fertig war. >>Das war gut. Vielen Dank!<<

>>Keine Ursache.<<

>>So, na dann!<< Sie visierte das offene Fenster an.

>>Guten Flug<<, sagte ich.

>>Das wünsche ich dir auch. Bis zum nächsten Mal!<<

>>Bis zum nächsten Mal.<<

Sie nickte mir noch einmal zu und flog durch das Fenster nach oben, wo sie schon bald zwischen den Wolken verschwand. 

Für den Fall, dass sie doch zurückkam, wartete ich noch ein paar Minuten am Fenster. Dann setzte ich mich wieder auf die Couch und drehte eine weitere Zigarette. Sie war nicht hübsch, aber ich bekam es hin. Ich steckte sie an und dachte an meine neue Bekanntschaft. Hoffentlich fand sie ihren Weg wieder. Meine Augen wurden schwer und noch bevor ich ganz fertig geraucht hatte, fiel mir die Zigarette aus der Hand. Bevor ich die Augen schloss, sah ich noch, wie sie ein kleines Loch in den Teppich brannte. Es war mir egal. Mit einem wohligen Gefühl im Bauch schlief ich ein. Ich glaube, ich träumte von Kuchen. Dann starb ich.

Als ich die Schildkröte das nächste Mal traf, trug sie einen hübschen kleinen Zylinder.

 

Ende