Von Martina Zimmermann

„Jetzt bin ich schon ein halbes Jahr bei dir und genieße das Menschenleben.“ Muriel sitzt in dem tiefen Sessel mit den dicken Armlehnen und schaut verträumt in den Kamin. Sie ist fasziniert, wie die Flammen sich um das Holz züngeln und ihnen Wärme spenden. „Ich genieße jeden Tag und bin so dankbar, diese Chance bekommen zu haben.“ Theytis nickt, er weiß, wie sehr sich Muriel gewünscht hat bei den Menschen zu leben, aber die Zeit läuft. 

Für ein Jahr darf sie bei ihm bleiben, dann muss sie zurück in ihre Welt.  Theytis ahnt das, was sie sich selber nicht eingestehen will. Muriel zuckt zusammen, es darf nicht sein, sie muss sich an das Gesetz halten. Sie weiß, sie kann hier auf dieser Erde nicht länger als ein Jahr existieren, danach würde sie zurück verwandelt in eine Nixe. Die Unterwassergesetze gelten und sollte sie sich in eine andere Spezies verlieben, dann würde ihre Welt vergehen. Sie leben seit tausenden von Jahren mit dieser Bürde. Heros, der Gott des Meeres hat sie dazu verflucht und noch nie hat es ein Problem gegeben. „Noch nie!“ Muriel wiederholt diese Worte als wenn sie es selber nicht glauben kann. „Was habe ich falsch gemacht?“, fragt sie und schaut herüber zu ihrem Freund. „Nichts, du hast nichts falsch gemacht. Konzentriere dich auf dich und auf das, was du noch erleben möchtest. Du hast noch Zeit, mache das Beste daraus, du hast so viele Träume.“ 

Träume, denkt Muriel, genau die hat sie, aber in diesen Träumen erscheint immer wieder diese eine Person. Enno, er ist der Nachbar von Theytis. Sie lernten sich im Sommer kennen, als sie ankam. Die Sonne schien heiß und Theytis wollte ihr zeigen, wie es sich anfühlt, die Sonnenstrahlen direkt auf der Haut zu spüren. Am Strand zu liegen und auf das Wasser hinauszuschauen. Genau die andere Sichtweise, und nicht aus dem Wasser heraus. Sie sollte das fühlen, was sie schon unzählige Male bei den Menschen gesehen hatte, die am Stand in der Sonne lagen.

Es war herrlich. Muriel genoss es so sehr.  Es machte ihr nichts aus, auch die Wärme nicht. Sie fand es wundervoll. Abends grillten sie im Garten, und Theytis hatte seine Nachbarn und Freude eingeladen. Alle waren so freundlich und Muriel hatte sich gefühlt wie noch nie zuvor. So aufgehoben, umgeben von Neuem und freundlichen Menschen, die sie einluden und mit ihr die Freizeit verbrachten. Da hatte sie ihn das erste Mal gesehen. Enno, er ist groß und gut gebaut. Trägt sein glattes, pechschwarzes Haar streng zurück gekämmt. Es verleiht ihm etwas Südländisches. Seine Haut ist braun gebrannt und Muriel denkt sich, er ist wohl der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Sie spielen Tennis, oder gehen Bowlen und zum Tanzen. Sie liebt es, Eis zu essen und Musik aus dem Radio zu hören. Gerade Musik und Tanzen, das fasziniert sie am meisten. Dass ihre Füße sich so im Takt mit dem Partner zusammen bewegen. Sie so präzise steuern können und sich führen lassen von dem Tanzpartner. Sie kann sich hingeben, vor allem aber dann, wenn Enno ihr Partner ist. Sie schwebt in seinen Armen. Von ihm gehalten zu werden, löst ein Gefühl in ihr aus, welches sie nicht einordnen kann. Ihre Knie werden weich und geben leicht nach und oft hat sie Mühe, sich zu konzentrieren. Überhaupt denkt sie viel über Enno nach. Er ist ein fantastischer Mann. Der Nachbar und Freund von Theytis und sie sieht ihn jeden Tag. Wenn Theytis keine Zeit hat, dann unternimmt Muriel etwas mit Enno. Beide kleben förmlich aneinander und genießen es, aber ihre Freundschaft ist endlich. Muriel versucht, diesen Gedanken zu verdrängen, doch er holt sie immer wieder ein. Je länger sie bei Theytis lebt, desto weniger mag sie daran denken, wieder in ihre Welt zu gehen. Sie will nicht weg von Enno. 

Sie liebt ihn und sie glaubt, er liebt sie genauso. Aber, er weiß nichts von ihr, er ahnt nicht, woher sie wirklich kommt. Dass sie eine Nixe ist. Wie sollte sie es ihm erklären? Sie kann es auch nicht, sie darf die Gesetzte nicht brechen. Oder hat sie es schon getan?

Gedanken schießen ihr durch den Kopf. „Was soll ich tun“?, fragt sie Theytis, als es plötzlich an der Türe klopft. „Wer kann das denn jetzt noch sein?“, fragt er und schaut verwundert zu Muriel hinüber, während er aus dem Raum geht, um zu öffnen. Es vergehen einige Minuten, bis sich die Türe zum warmen Wohnzimmer öffnet und eine Schildkröte hineinspaziert kommt. Muriel traut ihren Augen nicht. 

„Hallo“, sagt die Schildkröte und geht dabei geradewegs auf Muriel zu.

„Hallo“, erwidert Muriel höflich den Gruß der Schildkröte und schaut diese fragend an.

„Du wunderst dich sicher, warum ich hier bin“, erklärt diese „Ich heiße Elvira und lebe genau wie du im Meer. Dein Vater schickt mich.“ „Mein Vater?“, fragt Muriel verwundert. „Ist etwas mit meinem Vater?“, fragt sie aufgeregt. Elvira bleibt ruhig und versucht zu erklären. „Die See hat sich verändert. Alles ist dunkler und grauer geworden. Die Sonnenstrahlen kommen nicht mehr zu uns in die Welt. Es ist kalt und es wird von Tag zu Tag schlimmer. Wir werden bald nicht mehr existieren, wenn es so weiter geht.“ „Wie kann das sein? Warum ist das so?“, fragt Muriel aufgeregt. „Was kann ich tun?“

Elvira bleibt ruhig. Sie schaut zu Theytis und er nickt, um sie zu ermutigen. Elvira nickt ebenafalls und dann erklärt sie. 

„Es liegt an dir.“ „An mir? Was habe ich getan?“, fragt Muriel.

„Du hast dich verliebt“, erklärt Elvira. „Unsere Welt bricht zusammen. Du hast dich nicht an die Gesetze gehalten. Du weißt, du darfst dich nur in einen Nixenmann, oder in eine Spezies verlieben, die sich für unsere Welt entscheidet und nur im Wasser lebt.    Deine Liebe zu Enno gefährdet unsere Welt.“

Muriel wird heiß und kalt und Panik steigt in ihr hoch. „Was soll ich tun?“ 

„Du musst zurück, und zwar sofort, sonst kann es zu spät sein“, erklärt Elvira.

Muriel spürt, wie die Traurigkeit sie einnimmt und tief in ihrem Innern will sie nicht weg. Sie möchte bei Theytis bleiben und bei Enno. Bei ihrem Enno. Aber, sie kann nicht. Sie weiß, sie muss zurück, früher oder später wäre der Tag sowieso gekommen. Sie wäre trotzdem noch gerne geblieben. Zerrissen von ihren Gefühlen beugt sie sich. „Was soll ich tun? Und wie komme ich zurück? Es ist noch kein Jahr vergangen und der Menschenmond leuchtet noch nicht, um mich zurück zu verwandeln? So kann ich unter Wasser nicht existieren!“

„Komm mit mir, ich werde dich an eine Stelle führen, an der du deine eigentliche Gestalt zurück bekommst, aber du musst jetzt mitkommen, sofort.“

Muriel nickt, Theytis stimmt ihr ebenso zu und meint: „Ich begleite euch, ich lasse dich noch nicht alleine und sobald es geht, komme ich nach. Du weißt ja, ich kann in beiden Welten leben.“ Muriel schaut dankbar und fragt. „Warum kann ich das nicht? Ich möchte nicht fort, von hier und von Enno, ich liebe ihn.“

„Ich weiß, aber ich kann es nicht ändern“, sagt er genauso verzweifelt. Dann verlassen die drei das kleine Häuschen. Tränen kullern über ihre Wange, als sie an Ennos Haus vorbei gehen. Sie weiß, sie wird ihn nie wiedersehen. Wie ferngesteuert läuft sie mit zu diesem Fels, genau an dem, wo sie zu einem Menschen verwandelt wurde. Hier wird es nun stattfinden. Sie wird wieder zur Meerjungfrau, aber schon ein halbes Jahr früher als geplant und unglücklich. So hatte sie es sich nicht vorgestellt. 

Muriel legt sich auf den Fels und plötzlich scheint der Mont auf sie hinab. Sie ist so verwundert, dass ihr die Worte fehlen. Ihre Augen sehen das, was sie schon einmal erlebt hat. Ihre Beine verwandeln sich in ihre Flosse zurück und aus ihr wird wieder die Nixe. 

Mit Schwung springt sie ins kühle Wasser, dann dreht sie sich noch einmal um und winkt Elvira und Theytis zu, bevor sie tief hinunter taucht um zu ihrem Vater und allen andern, die ihr lieb sind, zu gelangen.  

„Vater, ich bin zurück“, ruft sie um sich bei seinem Anblick sofort in seine starken Arme zu legen. „Was habe ich getan? Ich wollte das nicht“, erklärt sie weinend. „Ich wusste nicht, dass es euch dadurch schlecht geht.“

„Ich weiß, mein Kind“, erklärte der Vater ruhig. „Wir wussten es alle nicht. Unsere Bedingungen hier unten wurden immer schlechter und keiner konnte es sich erklären, dann holte ich den Rat der weisen Schildkröte ein. Sie wusste, warum es so ist. Du hast, ohne es zu wollen, unsere Gesetzte gebrochen und dadurch wurde unsere Welt fast zerstört. Du hast dich verliebt. Jetzt, wo du wieder hier unten bist, wird alles so werden wie früher.“

Muriel nickte, sie fühlte sich schuldig, alle so in Gefahr gebracht zu haben, trotzdem  war sie unendlich traurig. 

 Schon am nächsten Tag, schien die Sonne wieder wie gewohnt und die Bedingungen wurden genauso wie früher. Muriels Freundinnen fragen, „wie war es? Erzähl uns von der Welt der Menschen.“ Sie waren so gespannt auf ihren Bericht und Muriel wusste, sie kam nicht drum herum und so erzählt sie von ihren Erlebnissen. Alle hören fasziniert zu und jede will beim nächsten Menschenmond gewinnen und für ein Jahr bei den Menschen leben. Während alle anderen in Gedanken bei den Menschen sind, wird Muriel immer trauriger. Ihr Leben kommt ihr so sinnlos vor und sie fragt sich: „Warum kann ich nicht mit Enno leben? Warum nicht?“, schreit sie heraus in die See. „Du kannst es doch“, vernimmt sie eine Antwort und als sie denkt, sie traut ihren Augen nicht, sieht sie Enno mit Theytis auf sie zu schwimmen. Beide haben eine Flosse, genau wie sie. „Wir können zusammen sein“, ruft Enno. Er schwimmt auf sie zu und nimmt sie in den Arm. „Ich bleibe bei dir hier unten. 

Ich konnte in beiden Welten existieren, genau wie Theytis, aber das durfte ich niemandem sagen, genau wie du es mir nicht sagen durftest. Aber um deine Welt nicht zu gefährden, musste ich mich entscheiden.  Das habe ich getan!“

Muriel kann ihr Glück nicht fassen, sie strahlt ihn an.

„Jetzt beginnt das Abenteuer unseres Lebens.“