von Agnes Decker

 

„Na, dann prost. Auf uns.“ Henning hebt das Glas. Der Tequila Sunrise hat die gleiche Farbe wie die untergehende Sonne über dem Meer. Henning seufzt und nimmt einen tiefen Zug. „Schöner kann man es ja wohl nicht antreffen.“ Er schaut die junge Frau an, die schweigend neben ihm im Liegestuhl ruht. „Und du willst wirklich nicht mit? Bist du dir sicher?“

Die Frau antwortet nicht. Sie wirkt abwesend, in ihrer eigenen Welt versunken.

„He Maja, jetzt komm. Wegen dir sind wir doch eigentlich nur hier.“ Henning hat sich so weit vorgebeugt, dass seine Liege in eine Schräglage gerät.

 „Lass mich. Bitte. Wie oft soll ich es denn noch sagen? Mir ist das Meer unheimlich und ich bin nicht die beste Schwimmerin. Ich bleibe auf dem Boot und schaue dir zu. Ok.?“ Maja schaut ihn an, mit ihrem typischen „Henning, du nervst mal wieder – Gesichtsausdruck“. Die Augenbrauen nach oben und die Mundwinkel nach unten gezogen.

 „Do you want anything?“ Unbemerkt von beiden ist ein Mann hinter sie getreten. Er trägt ein Tablett, von dem eine Flüssigkeit in den noch tageswarmen Sand tropft.

„No, thanks“, Henning wedelt mit der Hand, ohne ihn anzuschauen. Als wolle er etwas Lästiges loswerden.

„You are welcome“, antwortet der Mann und lächelt. Seine nackten Füße hinterlassen tiefe Spuren im Sand, als er zur Strandbar zurückgeht, wo andere Gäste auf ihn warten.

Mit dem letzten Schluck Tequila geht die Sonne unter. Wind ist aufgekommen, treibt die Sandkörner vor sich her und kräuselt die Wellen, die in einschläfernder Regelmäßigkeit über den Strand rollen.

„Lass uns gehen. Mir ist kalt.“ Maja ist aufgesprungen und schaut ihn auffordernd an.

Henning legt ihr sein Badetuch um und drückt sie kurz an sich. Schnell packt er die rundherum verstreuten Habseligkeiten in einen Rucksack. Seite an Seite stapfen sie, die gerötete Haut im schwindenden Tageslicht aufleuchtend, zurück zum Hotel.

Der Mann schaut ihnen hinterher. Eine ganze Weile. Dann räumt er die Gläser weg und klappt die Liegen ein.

 

 

 

 

 

Als Henning am nächsten Morgen aufwacht, fühlt er sich voller Tatendrang. Er hat gut geschlafen. Tief und fest und lange. Nachdem er im Pool seine Bahnen geschwommen hat, ist er noch einmal zu Maja ins Bett gekrochen. „Ihh, bist du kalt“, hat sie gerufen, ihn weggeschubst und ist ins Bad geeilt. Dort ist sie jetzt schon eine Weile.

„Schade. Ich hätte gerne mit dir gekuschelt.“ Henning steht in der offenen Tür und schaut zu, wie sie ihr weißes Shirt über den Kopf zieht. „Und, hast du nochmal darüber nachgedacht?“

Maja dreht sich weg zum Spiegel, und fasst die langen, durch die Sonne fast weißen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Die Haut in ihrem Gesicht schält sich ein wenig, so wie bei einem Möbelstück, bei dem die Farbe abblättert. Hinter ihr sieht er sein eigenes, rundes und stark gerötetes Gesicht. „Mensch, Henning. Akzeptiere es einfach. Es hat nichts mit dir zu tun.“

„Ok“, presst er heraus. „Ok, ok.“ Seine gesamte Enttäuschung schwingt in diesem ok mit. Dabei hat er die Reise so lange geplant. Damit sie endlich mal wieder glücklich wären, jeder für sich und beide miteinander.

Endlich verlässt Maja das Bad, nackt, braungebrannt und nach Sonnenmilch duftend. Henning schaut zu, wie sie in Bikini, Shorts, T-Shirt und Sneakers schlüpft und die bunte Korbtasche über die Schulter schwingt. „Kommst du?“

 

In der Hotelhalle herrscht reger Betrieb. Henning und Maja schauen sich suchend um. Ein Schild mit einem Pfeil unter der Aufschrift „Tortuga-Tours“  zeigt auf die Open-Lounge, das Wohnzimmer des Hotels. Dort haben sich schon mehrere Personen versammelt. Gebannt schauen sie auf den hochgewachsenen Mann, der vor ihnen steht.

 „Hallo“, sagt der gerade. „ I am Eric, your Guide for today.“ Es ist der Mann aus der Strandbar. Verwegen sieht er heute aus. Ein gelbes Shirt mit einer Schildkröte in Regenbogenfarben, khakifarbene Bermuda, zerschlissene Flipflops an den Füssen. Das kinnlange, ausgebleichte Haar mit einem türkisfarbenen Tuch zurückgebunden, das den hellen Augen in dem tief gebräunten Gesicht eine unglaubliche Intensität verleiht.

„Hallo“, sagt er noch einmal. „Gärtner and Stahl from Cologne?“  Beide nicken und er schaut sie lange an, zuerst Maja, dann Henning. „Fine“, sagt er schließlich, und „Let´s go“, dreht sich um und geht zur Tür.  Die  Gruppe  gerät in Bewegung und drängt sich, aufgeregt durcheinander redend, hinter ihm durch die Tür.

Vor dem Hotel stehen zwei gelbe Kleinbusse mit ebenso bunten Schildkröten darauf, wie auf dem Shirt des Mannes. Nach einer kurzen Fahrt, vorbei an weißen Häusern mit schmiedeeisernen Balkonen, von denen sich pink farbige Bougainvilleas ranken, vorbei an Straßencafes, weitläufigen Plätzen mit Bänken unter schattigen Palmen und geschäftigen Menschen, erreichen sie die Marina von Las Palmas. Eric und ein weiterer Mann geleiten die Gruppe auf den bereitstehenden Katamaran, dessen Motor ungeduldig aufheult.

Das Meer glitzert im Licht der schon hoch stehenden Sonne.  Wie ein träger, riesiger Swimmingpool  liegt es da. Dafür sorgt das vorgelagerte Riff. Einer der Gründe, warum es so viele Touristen hierhin verschlägt. Ein anderer ist der Playa Cantares, der kilometerlange Sandstrand, der zu den schönsten Stadtstränden weltweit gehört – von den Einheimischen liebevoll „unsere Copa Cabana“ genannt.

Der Katamaran nimmt Fahrt auf.  Schnell lassen sie Strand und Stadt hinter sich, und steuern die Landspitze an, la Puntilla, die sich am Ende von Las Canteras befindet. Von Wellen umspülte Felsen ragen hier aus dem Meer.

 „We have arrived.“ Während der andere Mann den Katamaran ankert, verteilt Eric die Ausrüstung, und erklärt die Handhabung.

 „Bitte, versuch es doch wenigstens“, flüstert Henning, der dabei ist, sich in den Neoprenanzug zu zwängen. Aber Maja antwortet nicht. „Sie will mich nicht mehr, will uns nicht mehr.“ Henning  wird kalt. Er schüttelt sich. Was denkt er da?

„Ok, you can start“, holt ihn Erics Stimme in die Realität.

Henning streift die Schwimmflossen über und setzt die Taucherbrille auf die Stirn.

„Roque Tortuga, you know“, Eric zeigt mit ausgestrecktem Arm auf einen Felsen, der vor ihnen aus dem Meer ragt. „Der Schildkrötenfelsen“, sagt er plötzlich in akzentfreiem Deutsch. „Schildkröten, du weißt schon, die mit dem Panzer.“ Henning starrt ihn an. Eric grinst und reicht ihm die Hand: „Man sieht sich im Leben immer zweimal.“

 Henning zögert einen Moment. Was soll das? Dann ergreift er die Hand, schwingt die Beine über Bord, steigt die Leiter hinunter und lässt sich ins Wasser gleiten. Die Kälte nimmt ihm für einen Moment den Atem. Er macht ein paar kräftige Schwimmzüge und steuert, wie Eric ihm geraten hat, den Schildkrötenfelsen an. Hier verlangsamt er das Tempo, setzt die Brille auf und nimmt das Mundstück zwischen die Lippen.

Das Meer ist kristallklar. Wie durch die Scheibe eines Aquariums schaut er in die fremde Welt. Sonnenstrahlen lassen das Riff unter ihm glitzern und funkeln. Fische gleiten vorbei, kleine, große, ein Schwarm wechselt die Richtung und verschwindet hinter einem Felsen. Es ist wunderschön. So gerne hätte er das mit Maja erlebt, Hand in Hand durch das Wasser gleitend. In ihr strahlendes Gesicht geschaut, wenn tatsächlich eine Schildkröte vorbeigekommen wäre. Schildkröten sind Majas Lieblingstiere. Überall in ihrer gemeinsamen Wohnung stehen, hängen oder sitzen sie. Aus Keramik, Kunststoff, Plüsch und Stoff. Manchmal schämt er sich, wenn er Arbeitskollegen einlädt und versucht, die Sammelleidenschaft schönzureden, was ihm nicht gelingt. Eher wundert er sich, wie das alles aus dem Ruder gelaufen ist.

Henning schwimmt kraftvoll weiter. Er hat den Felsen fast erreicht, als er neben sich einen Schatten vorbeigleiten sieht. Stand nicht im Reiseführer, dass es Haie gibt? Jetzt hat der Schatten ihn überholt, ist vor ihm. Hennings Herz rast. Er dreht sich um, weit hinter ihm das Boot und die anderen.

Der Schatten umkreist ihn. Ist hinter ihm. Etwas ist auf seinem Rücken, etwas, das ihn nach unten presst. Das Wasser schlägt über seinem Kopf zusammen. Gut, dass Maja nicht mitgekommen ist.“ Henning strampelt, versucht, das Ding abzuschütteln, wird wieder nach oben gerissen.

Vor ihm taucht ein Schnorchler auf und zieht die Maske vom Gesicht. Er schaut in Erics helle Augen, die ihn unverwandt ansehen, während dieser die Arme hebt, sie auf Hennings Schultern legt und  zudrückt.  Er wird mich töten, denkt Henning. Und verwundert: „Warum?“ Immer wieder drückt ihn der andere hinunter. Henning versucht, ihn wegzuschieben. Doch Eric ist stärker, presst ihn jedes Mal, wenn er die Wasseroberfläche durchbricht und nach Luft schnappt, zurück in die Tiefe, hält ihn fest, reißt ihn nach oben. Hoch, runter. Immer wieder.

Henning merkt, dass seine Kraft nachlässt. Ein Gefühl von Gleichgültigkeit erfasst ihn. In seinem Kopf bildet sich Nebel. Erics Gesicht schwebt darin, verschwimmt, wird jünger, ein Kindergesicht. Andere Kinder sind plötzlich da, um ihn herum. „Boris, Mirco, Benni“, will er ihnen zurufen, aber es kommt kein Ton aus seinem Mund. Sie gleiten auf ihn zu, weichen zurück, sobald er sie fassen will. Die Münder aufgerissen. „Sumpfschildkröte“, rufen sie, mit hohen Stimmen; „Soll Gras fressen, Gras fressen…“ Henning fällt, tief und tiefer, spürt einen fremden Körper unter seinem. Jetzt erkennt er ihn. Einen  kleinen Kopf, der zwischen die Schultern geklemmt ist, schlackernde Gliedmaßen, einen großen, grünen, abgeschabten  Rucksack. Wieder die Münder: „Kröti. Hässlich, stinkt nach Leiche, Leiche, Leiche.“ Jetzt dreht er sich um, der Körper unter seinem: „… immer zweimal“, hört Henning ihn schreien.

Dann wird es dunkel.

 

Als er die Augen aufschlägt, ist alles um ihn herum weiß und grell.

„Da bist du ja wieder“, flüstert Maja, die an seinem Bett sitzt. „Ich habe doch gesagt, dass es gefährlich ist. Wenn Eric dich nicht gerettet hätte. Bitte tu sowas nie, nie wieder.“ Sie legt ihre Hand auf seine.

„Ok“, sagt Henning, und zieht seine Hand weg. „Nie wieder“.

 

Version 2

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