Von Christian Günther

Frau Müller schaltete den Fernseher mit der Bedienung ein.

Es war Vormittag, Viertel nach elf. Vom Sozialdienst hatte sich eine Mitarbeiterin krankgemeldet, die Seniorengymnastik ausgefallen. Bei den Pflegekräften sah es nicht anders aus, nur eine Schwester und ein Pfleger hielten für über dreißig Bewohner*innen die Stellung.

Zum Glück war sie geistig fit und weitestgehend mobil, und wenn Beine und Rücken einen Tag nicht gewaschen wurden, war das nicht so schlimm. Solange ihr nur das Bücken schwerfiel, war es akzeptabel. Den Rest schaffte sie selber – zwar langsam, aber motiviert, sich die Selbstständigkeit zu erhalten – und im Kohlenkeller arbeitete sie nicht.

Der Fernseher erwachte aus dem Standby und rief automatisch das erste Programm auf. Kai Pflaume begrüßte als Gäste die Originalbesetzung zum „Hubert und Staller“-Duell. Sie kannte diese Serie aus dem Vorabendprogramm, wo das und seit einiger Zeit durch ein ohne ersetzt worden war.

Das Rateduell, eine ihr noch unbekannte Wiederholung.

Da bleibe ich dran, dachte sie und wollte die Bedienung zurück auf den Tisch legen: Geht genau bis zwölf, bis zum Mittagessen.

Da passierte es, unaufmerksam stieß sie gegen die halbvolle Wasserflasche aus Glas, die unaufhaltbar auf den Boden knallte und in unzählige Stücke zerbarst.

So ein Mist! Was mache ich nun? Selber komme ich nicht so weit herunter und auf dem nassen Boden könnte man gefährlich ausrutschen. Die haben eh genug Arbeit, die beiden Pflegekräfte.

Es fiel ihr nicht leicht, dennoch drückte sie auf die Notschelle.

Nicht alle Bewohner*innen waren so leicht wie sie zu versorgen. Da war die Pflege aufwändiger und manche schellten für jeden Pillepup. Zum Beispiel, um die Uhrzeit zu erfragen, obwohl die Uhr für sie sichtbar an der Wand hing.

Ihr Mann war selber pflegebedürftig gewesen. An Demenz leidend und nicht selten ohne Ziel über den Flur oder gar durch fremde Zimmer irrend.

Sie hatte ihn oft besucht, ihn beschäftigt.

Ihm Essen und Trinken angereicht. Nein, gefüttert werden Leute in der Pflege nicht!

Hatte ihm bei Toilettengängen geholfen, um das Pflegepersonal zu entlasten, und bei Bedarf die Vorlage gewechselt. Nein, Pampers heißt das Inkontinenzmaterial in der Pflege nicht!

Schon der Normalbetrieb war schwierig zu stemmen. Die Versorgung von Dementen wie ihrem Mann, von Bettlägrigen und von Mobilitätseingeschränkten, die sich mit Rollstuhl fortbewegten. War sicher nicht leicht, so manchen Wonneproppen da hineinzubekommen.

Regelmäßige Lagerungen, damit sich niemand wundlag. Regelmäßige Inkowechsel, damit keiner in der Nässe lag oder saß. Regelmäßige Versorgung mit Essen und Trinken. Regelmäßige Medikamentengabe nach Anordnung.

Zeit für ein kurzes Gespräch?

Zwischendurch Kontakte zu Angehörigen, nicht selten unangekündigt und nicht selten mit dem Wunsch, umgehend Auskunft zu erhalten. Kommunikation mit Ärztinnen und Ärzten sowie anderen mitwirkenden Berufsgruppen wie beispielsweise Krankengymnastik. 

Notfälle verschoben den Normalbetrieb.

Einmal war eine Bewohnerin vor dem Zimmer ihres Mannes gestolpert und so unglücklich mit ihrem Rollator gefallen, dass sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zuzog. Das hatte die Pflegenden fast eine halbe Stunde gekostet.

Selbst wegen einer Pflegerin war einmal ein Rettungswagen gekommen. Sie wollte in das Zimmer eines Mannes mit Katheter, doch der Beutel war ausgelaufen. Von ihr in der Eile und Hektik unbemerkt, rutschte sie in der Pfütze aus und brach sich den Arm.

 

Sie hatte die Zeit für diese Gedanken, denn bis der Pfleger kam, verging eine Weile. Nach fünf Minuten betrat er ihr Zimmer, noch immer FFP2-Maske tragend und keinen Stress nach außen zeigend. »Frau Müller?«

»Mir ist ein Malheur passiert«, entschuldigte sie sich.

»Das haben wir gleich behoben.«

Er kannte sich im Zimmer aus und wusste, wo Handfeger und Kehrblech lagen. Aus dem Bad entnahm er ein Handtuch. Sorgfältig kehrte er die Scherben zusammen und wischte den Boden trocken, bevor sein Blick auf den Fernseher fiel.

»Hubsi und Hansi«, bemerkte er.

»Sie kennen die?«, fragte Frau Müller überrascht.

»Hab die ersten sechs Staffeln auf DVD.«

»… aber Staller war doch bei der siebten auch dabei?«

Der Pfleger musste grinsen. »… aber Sonja Wirth nicht! Von der Darstellerin hab ich Autogrammkarten, eine mit Widmung und eine nur mit Signatur.«

»Stimmt, die war lange dabei. Inzwischen hat sie schon die dritte Nachfolgerin, aber alle gut. Wie diese Darstellerin hieß, weiß ich aber nicht mehr … oder? Warten Sie mal … Metzger, richtig?«

»Fleischer, Annett Fleischer.«

»Fleischer ist ja so ähnlich wie Metzger, beruflich.«

»Falls ich dran denke, bringe ich sie mal mit, die Karten, oder ich fotografiere sie?«

»Gerne, so etwas sehe ich mir gerne an. Hab früher selber gesammelt. Sie haben aber nicht bloß von ihr welche bekommen?«

»Ich hab von mehreren welche, von einer kamen gar acht Stück! Aus verschiedenen Serien, bei „Hubert und Staller“ nur von Annett.«

»Leider besitze ich meine Karten nicht mehr, besonders Götz George mochte ich. Kannte ihn schon Anfang der 70er als Diamantendetektiv Dick Donald, in Südafrika an der Seite seiner damaligen Frau Loni von Friedl ermittelnd, bevor er Tatort-Kommissar wurde. In Bayern haben mein verstorbener Mann und ich oft Urlaub gemacht, sind gewandert oder Rad gefahren. Mir sind Dialekt und Region bei „Hubert und Staller“ vertraut. Wie Sie vielleicht aus meiner Biografie wissen, komme ich aus Duisburg. Es hat nicht jeder Schimis Art gemocht, aber ich bin da nicht so prüde. Die Karten hätte ich nicht verschenken sollen, als ich ins Heim kam, zumindest seine nicht.«

»Ist halt was sehr Persönliches.« Der Pfleger nickte und deutete auf einen schon vorher anvisierten Splitter, der es bis zur Balkontür geschafft hatte. »Oh, hallo, da ist noch einer!« Er hob ihn auf und legte ihn zu den anderen auf das Kehrblech.

»Hallo, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer.«

»Bitte? Hat Sonja das in einer der Folgen gesagt?«

Frau Müller lachte. »Nein, das habe ich jetzt gesagt, ist nicht bös gemeint. Sie haben mein Malheur trotz wenig Zeit so ordentlich behoben. Dafür danke ich Ihnen, das ist selten in diesen Zeiten. Wir Älteren mögen Stress und Hektik nicht so gerne, die über Achtzigjährigen haben sogar noch einen Krieg erlebt. Wenn ich ganz ehrlich bin, war ich sehr froh, als Sie dieses Mal zur Tür hereinkamen.«

Er war ein wenig verlegen. »Bitte, gerne. Die Scherben entsorge ich draußen in einem speziellen Behälter und bringe Ihnen Ihr Blech gleich wieder zurück.«

So trat er auf den Flur.

 

Ach, da war der Kerl die ganze Zeit!

Die Kollegin stürmte ihm entgegen. »Hey, Speedy?«, fuhr sie ihn an, die Ironie beim Kosenamen war deutlich zu merken. »Was machst du denn die ganze Zeit? Hier ist die Hölle los! Meier, Moser und Schmidtchen müssen zur Toilette gebracht werden, Blutzuckermessung und Insulingabe bei Kramer und Höller. Die Tropfen und BTM für mittags müssen noch vorbereitet werden. Wie sollen wir das bis zur Essensausgabe nur schaffen?«

Mit mehr Ruhe statt Hektik? Die Tropfen und BTM habe ich vor Frau Müller gemacht und Herr Schmidtchen war bereits vor einer halben Stunde zur Toilette. Die Blase ist ein individuelles Organ und leert sich nicht nach einem festen Zeitplan.

»Außerdem müssen wir bei fünfen die Mahlzeit anreichen«, fuhr die Pflegerin fort. »Vor allem die Angehörigen der Berger haben einen guten Draht bei Beschwerden.«

Der Pfleger seufzte. »Tut mir leid, Frau Müller ist eine Wasserflasche heruntergefallen. Das kann doch passieren, oder findest du nicht?«

»Ist in ein paar Sekunden behoben, und fertig!«

Vielleicht sollte er sich im fernen Wolfratshausen bei der Polizei bewerben, vielleicht würden sie endlich einen zweiten Streifenwagen anschaffen, und vielleicht könnten sie ja Sonja Wirth als ausgeglichene Kollegin wieder einstellen?

Mit der früher ausgeglichenen, inzwischen durch die Bedingungen gestressten hier musste er noch die ganze Woche vorliebnehmen. Als Zweierbesatzung … Pardon, als Zweierbesetzung morgens.

Für über dreißig Bewohner*innen.

 

Die Politik meint immer nur, sie würde verstehen. Für ihr „stets bemüht“ viele, viele, viele Jahre lang haben sie definitiv keinen Applaus verdient, und selbst, wenn sie eine Idee hätten: Pflegekräfte wachsen leider nicht auf Bäumen, um sie bei Bedarf abpflücken zu können.

 

Zeit, das Gelernte in der Praxis umsetzen zu können.

Zeit für mehr als »Guten Morgen« und »Tschüss«.

Zeitintensive Anleitung von Pflegebedürftigen, egal ob orientiert oder desorientiert, ob mobil oder eingeschränkt, anstatt schneller Übernahme der Pflege. Denn dieses führt dazu, dass die Anvertrauten ihre vorhandenen Fähigkeiten einbüßen.

Zeit für Berücksichtigung der Vorlieben und der Biografie der zu Versorgenden, egal ob sie gern früh aufstanden oder lieber lang ausschlafen wollten, und sie nicht wie Pakete zu behandeln, die jederzeit bearbeitet werden können.

Zeit für ausreichendes Essen und Trinken, regelmäßige Toilettengänge und Inkoversorgungen, Mobilisationen und Lagerungen.

Zeit zur Fehlervermeidung.

Zeit für Angehörige und ärztliche Visiten.

Zeit für die nicht gänzlich vermeidbare Dokumentation.

Zeit für regelmäßige Pausen.

Die vielfältigen Anforderungen dieses schönen Berufs innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit schaffen und guten Gewissens nach Hause gehen.

Würde menschenwürdige und individuelle Pflege theoretisch durchschnittlich eine halbe Stunde pro Person im ganzen Frühdienst dauern, würde dieses bei dieser Geschichte bereits bedeuten: Über 15 Stunden notwendiger Pflegebedarf, aneinandergereiht und ohne Zwischenfälle, bei nur 14 Stunden zur Verfügung stehender Zeit durch zwei Arbeitskräfte?

Die Politik, die hat Zeit. Viel Zeit.

Nur: Wie soll das zu Verbesserungen der Arbeitsbedingungen führen? Es fehlen bereits massiv Pflegekräfte, und viele wollen aus dem Beruf heraus. Halten und Neugewinnen ist unter den aktuellen Bedingungen schwierig!

 

Woran liegt das nur?

 

Wer kehrt das auf, wenn alles zerbricht?

 

Sind „Schildkröten“ als Pflegekräfte noch zeitgemäß?

 

* * *

 

Anmerkung:

Handlung und Namen der Pflegebedürftigen sind frei erfunden. Der Vergleich zwischen Pflegekräften und Schildkröten ist vom Autor in keinerlei Weise despektierlich gemeint.

 

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