Von Franziska Boege

„Hallo“, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer.

„Hi?“, entgegnete ich skeptisch. „Hatten wir uns nicht gerade darauf geeinigt, dass sie mich für den Rest des Tages in Ruhe lässt und jetzt erst Mal ihr eigenes Ding macht?“, dachte ich. „Was sollte das?“

Die Schildkröte grinste mich an. „Du, ich wollte nur ganz kurz noch fragen, ob ich deinen blauen Erdbeerstrunkentferner ausleihen dürfte?“

Ich verdrehte die Augen. Ich konnte mir schon vorstellen, was sie damit vorhatte. Morgen hatten wir unser nächstes Kennenlerngespräch mit einem potentiellen Mitbewohner. Wir hatten schon seit einiger Zeit ein freies Zimmer und das bedeutete Kennenlerngespräch nach Kennenlerngespräch nach Kennenlerngespräch. Natürlich mussten wir uns auch irgendwann mal für einen neuen Mitbewohner entscheiden, wenn wir keinen Ärger mit der Regierung haben wollten. Aber noch hatten wir die erlaubte Anzahl an Kennenlerngesprächen nicht überschritten und waren damit im grünen Bereich. 

„Wir“ waren ich, der einzige Mensch in unserer WG, die Schildkröte und der Oktopus. Die beiden Letztgenannten taten alles dafür, dass keiner bei uns einziehen wollte. Sie wollten keinen neuen Mitbewohner haben. Bis jetzt hatten sie es erfolgreich geschafft, jeden Interessierten zu vertreiben. 

„Ein weiterer Mitbewohner würde unser eingespieltes Dreierteam komplett durcheinanderbringen“, argumentierte die Schildkröte jedes Mal, wenn das freie Zimmer zur Sprache kam. 

In unserer WG hatten wir jeder ein Zimmer für sich, außerdem ein Wohnzimmer und Küche mit Bad. Küche mit Bad war keine falsche oder ungenaue Beschreibung, für das was wir hatten. Wir hatten wirklich eine Küche mit Bad. Die Dusche und die Toilette waren in der Küche, man sparte dadurch das Waschbecken.

Dass sich die Toilette nicht in einem von der Küche separierten Raum befand, störte außer mir niemanden. Ich meine, meine Mitbewohner kamen aus dem Ozean, da schwamm man buchstäblich in seinen Ausscheidungen. Dass man diese doch gerne vom Ort seiner Nahrungszubereitung und -aufnahme getrennt hielt, war für die beiden kein Konzept.

 

Das dritte Zimmer war also frei. Bis vor kurzem hatten wir noch das Glück den Raum als Lagerplatz vermieten zu können. Weil der Meeresspiegel aber zuletzt immer weiter anstieg, wurde diese Regelung von der Regierung aufgelöst – man musste jetzt jedes Zimmer an ein Lebewesen vergeben. Wir waren froh, dass wir das Wohnzimmer behalten durften. Dieser Aufenthaltsraum war ein Luxus für uns, den sich nicht jeder leisten konnte.

 

Die Schildkröte guckte mich erwartungsvoll an.

„Klar, ist in der Küche“, entgegnete ich. Manchmal wirkte es, als würde sie extra nach unnötigen Fragen suchen, nur um sich länger mit mir unterhalten zu können. Wir hatten eigentlich die Regel, dass man sich die Dinge eines Mitbewohners ohne fragen zu müssen ausleihen könne, solange sie nicht in Benutzung waren. Ich erinnerte sie jetzt nicht an diese Regeln, ich wollte endlich meine Ruhe und jeder zusätzliche Satz barg das Risiko einer endlosen Diskussion. Sie liebte es zu diskutieren und tat es, wo es nur ging. Dass man diskutieren konnte, war neu für sie. Das hatte sie von mir als Mensch gelernt und war begeistert. Sie war sowieso von den vielen neuen Dingen begeistert, die sie sich von mir abguckte. Naseputzen, lachen oder warten zum Beispiel. Ihre neueste Beobachtung war zwinkern. Sie war begeistert, was das für einen Einfluss auf mich hatte, wie es mich zur Weißglut bringen konnte. Wenn ich meine Mitbewohnerin die Schildkröte mit einem Wort beschreiben sollte, wäre es definitiv „nervig“. 

Ganz im Gegenteil zum Oktopus. Er lebte die meiste Zeit des Tages zurückgezogen in seinem Zimmer in einer schwarzen Tintenwolke. Er war nicht nervig. Er war schlecht drauf. Und zwar immer. 

Schlecht drauf, wegen der nervigen Schildkröte. 

Schlecht drauf, weil er Mitbewohner hatte. 

Schlecht drauf, weil der Meeresspiegel so weit gestiegen war, dass sich der Lebensraum von Menschen und Meerestieren dadurch immer mehr überlagerte. 

Schlecht drauf, weil deswegen die Häuser versiegelt wurden, damit kein Wasser eindrang.

Schlecht drauf, weil Häuser jetzt als Rückzugsort für Menschen und Meerestieren herhalten mussten. 

Ihn machte so ziemlich alles schlecht drauf. Aber ein schlecht gelaunter Oktopus, der sich einfach in sein Zimmer zurückzog, war für mich angenehmer als eine nervige Schildkröte. Aber gut. Ich hatte damals nicht die Option mir die Mitbewohner aussuchen zu können. Ich machte das beste draus. 

 

Als Mensch übernahm ich in unserer WG alle Aufgaben, die mit Dokumenten zu tun hatten. Denn Meerestiere und Dokumente verstanden sich nicht. Das wusste ich zunächst nicht und da ich auch kein Fan von Dokumenten war, hatte ich nach unserer WG-Zusammenführung erst versucht, den Oktopus oder die Schildkröte von der Dokumentenverwaltung zu überzeugen. Das ständige Rumgetinte des Oktopus‘ und die massenhaften Rückfragen der Schildkröte ließen mich meine Abneigung Dokumenten gegenüber allerdings überdenken. Ich gab  die Überzeugungsarbeit auf und beugte mich meinem wohl neuen Zuständigkeitsgebiet. Meine beiden Meerestier-Mitbewohner gingen dafür einkaufen und übernahmen sonst alles, was außerhalb unseres Hauses stattfand. 

Wir wohnten in einem Gebiet ziemlich nahe am früheren Strand. Diese Gebiete versanken zuerst im Meer, deshalb war es sehr sinnvoll dort mit Meerestieren zusammen zu wohnen. Sie wussten wie das Leben unter Wasser ablief. Mir all die nötigen Fähigkeiten näher zu bringen, damit ich  mich selbst sicher von Ort zu Ort bringen könnte, war ungefähr so aussichtslos, wie den Meerestieren das Dokumenten-Business zu erklären.

In dem Punkt hatte die Schildkröte schon Recht. Wir waren ein gut eingespieltes Team.

Gut,  „Team“ im Sinne der Aufgabenverteilung. Nicht im Sinne der gegenseitigen Wertschätzung und Fürsorge. Die Schildkröte und der Oktopus konnten sich nicht leiden. Ohne mich wäre die WG schon lange zerbrochen. Ich war der Mensch, das vernünftige Lebewesen unter uns, das neutrale, das schlichtende, das weitsichtige. Der Oktopus war ja schon immer schlecht drauf, da half es nicht wirklich, dass die Schildkröte die meiste Zeit rücksichtslos nervig war. An mir als neutralen Gegenspieler hatte er wenig auszusetzen. So blieb er bei uns wohnen, denn „wenigstens stank ich nicht“ wie er es schon oft erklärte. Und das stimmte, als Lebewesen, war ich doch sehr gepflegt, da gab es ganz andere Kollegen im Ozean. Die wollte man nicht als Mitbewohner haben. Auf wen ich da anspielte? Fische natürlich. Fische waren unerträglich. Erstens stanken sie, außerdem waren sie einfach nur da. Die glotzten einen an und schlackerten mit den Kiemen. Langweilig und stinkend. Das war kein Spaß. Umso ärgerlicher, dass unser Kennenlerngespräch morgen mit einem Fisch stattfand.  

Deshalb auch der Erdbeerstrunkentferner, den sich die Schildkröte leihen wollte. Sie wollte Kuchen backen, wie sie es bis jetzt bei jedem Kennenlerngespräch getan hatte. Aber keinen Erdbeerkuchen, wie man meinen könnte. Nein. Es sollte wie die letzten Male ein Erdbeerstrunkkuchen werden. Deshalb der Entferner. Um die Erbeerstrunke von den Erdbeeren zu trennen und dann einen Kuchen daraus zu backen. Die Schildkröte war auf diese Idee sehr stolz gewesen. Auch die Darreichung hatte sie genau geplant und schon des Öfteren erfolgreich durchgeführt. Sie bot den potentiell neuen Mitbewohnern jedes Mal Erdbeerstrunkkuchen an. Dabei hustete sie das Wort „Strunk“ geschickt weg, sodass nur „Erdbeerkuchen“ zu verstehen war. Natürlich freute man sich über das Angebot und nahm jedes Mal dankend an. Was danach passierte war meist kein schöner Anblick – wenn es auch seinen Zweck erfüllte. Wenn die Erdbeerstrunke der Erdbeerstrunkkuchen einfach ausgehustet wurden, hatten wir die Sauerei zwar in unserem Wohnzimmer, jedoch verabschiedete sich der jetzt nicht mehr Interessierte immer verärgert und zog von Dannen. Wenn der Interessierte jedoch auf Grund seiner Physiologie nicht husten konnte – wie es bei Fischen zum Beispiel der Fall war – verfingen sich die Strunke in den Kiemen, Schnappatmung trat ein und nicht selten liefen die Tiere blau an. Weil wir ja keinen Ärger wollten, waren wir darauf vorbereitet. Zum Glück hatte der Oktopus einige Erfahrung in der Fischpflege gesammelt und kannte sich deshalb aus. Er konnte mit einem beherzten Schlag auf den Kopf bis jetzt jedes Mal dafür sorgen, dass der Strunk im Ganzen raus und der nicht zum Husten fähige Interessierte mit einem Schrecken davon kam. Das waren auch die einzigen Momente, in denen sich die Schildkröte und der Oktopus miteinander freuten. Es gab einen zufriedenes Nicken von beiden und ein weiteres Kennenlerngespräch war aus ihrer Sicht erfolgreich gemeistert.

 

Der nächste Tag fing an wie jeder Tag, an dem ein Kennenlerngespräch stattfand. In der ganzen Wohnung roch es nach frischem Erdbeerstrunkkuchen. Das war kein Kuchenduft im herkömmlichen Sinne. Weil die Strunke eben Strunke waren, machten sie sich nicht besonders gut im Ofen. Es roch nach Pflanze, irgendwie leicht giftig. Weil die Schildkröte aber den herkömmlichen Duft von Kuchen nicht kannte, war sie jedes Mal begeistert was für ein, in ihren Worten, zarter Geruch in unserer Wohnung lag. 

Ich war langsam genervt von der Uneinsichtigkeit der Schildkröte und der immer an Tagen von Kennenlerngesprächen scheinheiligen Zusammenarbeit von Schildkröte und Oktopus. Wie lange wollten sie das noch durchziehen? Immer wieder wurde ich von beiden Überstimmt, wenn ich um eine Planänderung bat.

Es klingelte. Der Interessent war heute früh dran. Der Oktopus bat den Fisch wie immer ruppig herein und zeigte ihm seinen Stuhl. Ich wollte mir das Spektakel nicht wieder antun. Ich wusste ja wie es enden würde. „Ein bisschen Ruhe wäre schön“, dachte ich mir.

Die Schildkröte zwinkerte mir zu, als sie den Erdbeerstrunkkuchen dem ahnungslosen Gast servierte.