Von Irmi Feldman

Mit gespitztem Bleistift und neuem DIN A 4 Heft, das er letzte Woche bei ALDI im Sonderangebot gekauft hatte, saß Hermann am Küchentisch. 

Heute würde er dem Schicksal ins Auge blicken und den Stier bei den Hörnern packen, und den blauen Umschlag aufreißen, der ihm schon seit Tagen Kopfzerbrechen bereitete. 

Von so einem dummen Schreibkurs würde er sich nicht unterkriegen lassen. Das wär ja gelacht.

 

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Angefangen hatte alles mit dem Schreibkurs. 

Auf dringendes Bestreben seines Therapeuten hatte Hermann sich zu einem kreativen Schreibkurs an der Volkshochschule angemeldet. 

„Deinen Neurosen wird das gut tun“, hatte sein Therapeut ihn aufgemuntert. „Schreiben macht Spaß.“

Die erste Stunde hatte sich gut angelassen: Die Mitschüler schienen nett; der Lehrer kompetent. 

„Lasst die kreativen Gedanken aus Euch rausfließen“, hatte dieser gesagt. „Schreibt einfach nieder, wovon ihr am meisten Ahnung habt.“

Hermanns Herz jubelte. Er hatte von vielen Dingen eine Ahnung, aber am besten kannte er sich mit Zahlen aus. Zahlen jeder Art: Quotienten, Produkte, Faktoren, und dergleichen. 

Hermann wusste auch Fakten, die die meisten Leute nicht wussten; z. B., dass Alexander der Grosse ziemlich klein war, oder dass 95 Prozent aller Babys lieber am rechten als am linken Daumen lutschen, oder dass man mit einem einzigen Bleistift einen 56 Kilometer langen Strich zeichnen kann; eine Tatsache, die Hermann ganz besonders faszinierte. 

Eifrig fing er an, sein umfangreiches Allgemeinwissen zu Papier zu bringen. Dass alle anderen auf ihren Laptop einhämmerten, störte Hermann wenig. Er war froh, dass er vorsorglich ein ganzes Heft und nicht nur zwei oder drei lose Blätter mitgebracht hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ihm mitten im Schreibfluss das Schreibmaterial ausgegangen wär. 

Schreiben gefiel ihm. Das musste er unbedingt seinem Therapeuten bei der nächsten Sitzung berichten. 

Hermanns überschwängliche Begeisterung schlug allerdings in Panik um, als der Lehrer gegen Ende der Stunde auf die unsinnige Idee kam, aus der Hausaufgabe eine Ziehung zu veranstalten. Jeder Schüler sollte aus einem Korb mit verschiedenfarbigen Umschlägen einen herausziehen. Der Umschlag beinhaltete die Hausaufgabe. Da würde nur ein Satz stehen, und der Satz sollte die Schüler zu einem Aufsatz anregen. 

Hermanns Herz schlug ihm bis zum Halse, und sein Blutdruck war bestimmt über 180, denn Hermann hasste Ziehungen aller Art, weil er dabei immer den Kürzeren zog.

Hermann überlegte, ob er sich weigern sollte, einen Umschlag auszuwählen. Der Lehrer konnte ihn schließlich nicht zwingen. Was fiel dem Lehrer überhaupt ein, die Hausaufgabe so schwierig zu gestalten? Warum konnte der nicht einfach die Aufgabe auf die Tafel schreiben wie jeder andere vernünftige Lehrer? 

Hermann war drauf und dran, sich auf die Toilette zu flüchten, was er in brenzligen Situationen schon des öfteren gemacht hatte, aber dann entschied er sich zu bleiben, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Lehrer samt Korb schon neben ihm stand und ihm somit der Weg zur Toilette versperrt war.  

„Fisch dir einen raus, Hermann!“ Der Lehrer lächelte ihm zu. 

Hermann warf einen Blick auf die Umschläge. Sollte er den roten ziehen? Den grünen? Den gelben? 

Hilfesuchend schaute er zum Lehrer auf, aber der war mit seinen Gedanken und auch Augen schon ganz woanders.   

Hermann schloss seine, griff in den Korb und zog einen Umschlag heraus. Es war der blaue.  

Was, wenn der blaue Umschlag nun ein besonders schwieriges Thema enthielt und der rote oder grüne besser gewesen wäre? Jetzt tat es ihm leid, dass er blindlings einen Umschlag herausgefischt hatte. Man sollte solch wichtige Entscheidungen nicht dem Zufall überlassen.

Niedergeschlagen trottete Hermann nach Hause, wo ihn nicht nur eine schlaflose Nacht, sondern gleich noch ein miserabler nächster Tag erwartete, weil er nicht den Mut aufbrachte, den Umschlag zu öffnen. 

Diese Qual wird jetzt ein Ende nehmen, entschied Hermann am folgenden Morgen. Was immer auch auf der Karte stand, er würde damit fertig werden. 

Und ruck, zuck, riss Hermann den Umschlag auf und zog die Karte heraus, bevor er es sich nochmal anders überlegen konnte.   

Nur ein Satz stand drauf:    

„Hallo, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer.“

Hermann war sprachlos. Was sollte denn der Satz? Der machte doch gar keinen Sinn. Wieder und wieder las er die Karte in der Hoffnung, doch noch andere Informationen darauf zu entdecken. Aber da stand sonst nichts.  

Hermanns gute Laune löste sich im Nichts auf. Die Idee, einen kreativen Schreibkurs zu besuchen, hatte sich nun doch als Flop erwiesen. Das hätte er sich gleich denken können.

Aber wem sollte er nun die Schuld dafür zuschieben? Seinem Therapeuten? Dem Lehrer? Sich selber? Oder einfach seinem Schicksal? Ja, dem Schicksal die Schuld für sein Schreibdilemma in die Schuhe zu schieben, erschien Hermann unter den gegebenen Umständen die beste Lösung zu sein. 

Nachdem die Schuldfrage nun geklärt war, was ihn zwar ein wenig beruhigte, aber mit der Schreiberei nicht voranbrachte, entschied er, den Satz in kleinen Schritten zu analysieren. 

‚Baby Steps‘ sozusagen. 

Diese Methode hatte er von seinem Therapeuten gelernt, der – davon war Hermann überzeugt – hatte sie widerum dem Therapeuten aus dem Film ‚What About Bob?‘ abgeschaut. 

Also: Baby Steps.

‚Hallo‘ – das war nichts Besonderes. 

‚Sagte die Schildkröte‘ – nun, das wurde schon ein bisschen schwieriger, denn Schildkröten sprachen normalerweise nicht. 

‚In meinem Wohnzimmer‘ – das war der Teil, der Hermann am meisten Schwierigkeiten bereitete, denn Schildkröten, selbst die Grössten, könnten ohne weiteres im Wohnzimmer auftauchen, was eine imaginäre Geschichte nun unmöglich machte.  

Warum konnte es nicht ein Elefant oder eine Giraffe oder ein Wal sein, die hallo im Wohnzimmer sagten? 

Solch sprechende Kreaturen, da sie für ein Wohnzimmer viel zu groß waren, hätten wunderbar in eine märchenhafte, ja fantastische Geschichte gepasst. So einen Aufsatz hätte er schreiben können.

Aber keine zehn Pferde würden ihn dazu bringen, eine Geschichte zu erfinden, die einerseits auf realen Vorkommnissen basierte wie z. B. eine Schildkröte im Wohnzimmer, aber andererseits auf unrealen Begebenheiten wie das hallo sagen.

Was für eine dumme Aufgabe! Dass es mit der Kompetenz des Lehrers nicht weit her war, wurde ihm jetzt klar. Endlich verstand Hermann auch, warum der Lehrer diese dummen Sätze in Umschlägen verstecken musste. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Natürlich, der Lehrer hatte sich nicht getraut diese unsinnigen Sätze auf die Tafel zu schreiben. 

Nun, angesichts dieser neuen Entwicklung würde er die Schuldfrage für sein Schreibdilemma nochmal genauer unter die Lupe nehmen müssen. Die Schuld lag eindeutig beim Lehrer, soviel stand fest. Aber was half das jetzt? 

Wütend sprang Hermann auf und marschierte unruhig in der Küche hin und her. Aber weil seine Wut längeren Auslauf brauchte, rannte er für die nächste halbe Stunde im Flur auf und ab, bis er abrupt beim Klo stehen blieb, nicht weil er mal musste, sondern weil er eine blendende Idee hatte.   

Warum nicht darüber schreiben, worüber er nicht schreiben konnte? 

Und schon hatte er seinen Titel: 

„Von der Unmöglichkeit einen Aufsatz über eine im Wohnzimmer ‚hallo‘ sagende Schildkröte zu schreiben.“ 

Perfekt! 

Er würde diesem inkompetenten Lehrer mit präzisen Fakten beweisen, was für eine unsinnige Aufgabe er da gestellt hatte. Hermann fing an zu schreiben, von Schildkröten und Elefanten, von Giraffen und Walen, und deren Wahrscheinlichkeit beziehungsweise Unwahrscheinlichkeit im Wohnzimmer aufzutauchen.

Gedanken und Ideen strömten wie ein Fluss aus ihm heraus. So schnell hatte er noch nie geschrieben. Um dem Aufsatz noch größere wissenschaftliche Bedeutung zu verleihen, berechnete er das Durchschnittsvolumen eines jeden Tieres und präsentierte seine Ergebnisse in Tabellen und Diagrammen. Sodann wiederholte er seine Berechnungen mit leblosen Objekten. Vom Matchbox-Auto bis hin zum Lastwagen und Düsenjet, ja sogar Mondrakete war alles vertreten. 

Stolz schaute er auf seinen Aufsatz, der nun auf neun Seiten angewachsen war. Das sollte ihm erstmal einer nachmachen. Nach dem dritten Probelesen entschied er sich jedoch, seinen Aufsatz als wissenschaftliche Arbeit einzureichen; kreatives Schreiben hin oder her. 

Erschöpft, aber glücklich stieg Hermann ins Bett. Gleich morgen früh, was ja schon heute früh war, würde er sich bei der Volkshochschule nach wissenschaftlichen Kursen erkundigen. 

 

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