Von Peter Burkhard

„Was schmunzelst du still und nachdenklich vor dich hin?“
„Mir ging nur gerade eine Szene von heute Morgen durch den Kopf.“
„Was denn? Lass mich mitschmunzeln.“
„Es ist nichts Weltbewegendes, Mimi hat mich begrüßt.“
„Sag das nochmals. Sie hat was?“
Sie sagte hallo, als ich frühmorgens ins Wohnzimmer trat.“
Aha. Und wie hast du reagiert?“
„Ich habe zurückgegrüßt.“
Sag mal, spinnst du?“
„Nein, stimmt natürlich nicht“, log ich. „War ein kleiner Scherz, vergiss es. Eine blöde Idee von mir.“

Diese Episode geschah gestern.

Das war nun schon das dritte Mal, dass Mimi mich angesprochen hat. Ob ich deswegen zum Arzt soll? Vielleicht. Immerhin beunruhigt es mich. Erst recht, wenn ich an die flitzenden Schatten denke.
Aber zuerst versuch’ ich’s mit schreiben. Das hat mir schon oft geholfen, ein Problem zu verdrängen. Es quasi aus meinem Kopf wegzuschreiben, mit einer Kurzgeschichte oder einem Essay, was auch immer.
Dazu allerdings brauche ich erst mal einen Koffeinschub.

Mit dem Rücken zum Küchenfenster erdulde ich den Krach der Espressomaschine.
Mich nerven dieses qualvolle Getue und das provokativ langsame Auffüllen einer kleinen Tasse. Auch ohne diese Ablenkung fällt es mir schwer genug, eine Idee zu einem befreienden Text zu finden.
Mein Blick trudelt ziellos durch die Küche, bis er an einer Ananas hängen bleibt, die inmitten einer Mango und einigen Äpfeln thront und auf ihren Verzehr wartet. Gelangweilt rupfe ich eines der spröden spitzen Blätter aus dem Blattschopf der Frucht. Es löst sich leicht. Ein Zeichen, dass die köstliche Tropenfrucht genussreif ist.
Jetzt, beim genaueren Hinsehen, fällt mir auch auf, dass die Oberflächenstruktur dieser Ananas aus lauter aneinandergefügten, nahezu gleich großen Sechsecken besteht.
Der Lärm ist verstummt, das Tässchen voll. Genuss versprechender Duft füllt den Raum.
Derweil ich mich rückenmarkgesteuert und sicheren Schrittes von der Küche in mein Arbeitszimmer bewege, verliert sich mein Denken in den Bereich des Unterbewusstseins. In diesen wenigen Momenten irrt es unkontrolliert umher, verharrt mal hier, mal da, um jählings weiterzuspringen, bis es schließlich mit Gedankenfetzen an Mani Matter wieder in mein Bewusstsein zurückfindet.

Mani Matter?

Zwei, drei Gedankengänge später erschließt sich mir die Logik: Wenn einer sich aufdrängt, dann er.
Mani, eigentlich Hans Peter Matter, kam in den frühen Siebzigern sechsunddreißigjährig bei einem Autounfall ums Leben – remember: the good die young. Schon zu jener Zeit waren mir alle Rockgrößen wesentlich näher als dieser begabte Berner Barde und geniale Textschreiber, und das hat sich zeitlebens nie geändert.
Trotzdem kann ich heute, mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod, Teile seiner Lieder mitsingen oder zumindest deren Melodie mitträllern. Sich seinen tiefgründigen, witzig absurden Texten und den eingängigen Weisen zu entziehen, war lange Zeit schlicht unmöglich.
Das muss es sein: In meinen Erinnerungen an seine geistreichen Lyrics, verflochten mit meinem momentanen Grübeln nach kreativen Anstößen ist er zu finden: Der Grund für meine scheinbar wirren Gedankensprünge.
Einer von Mani Matters kongenialen Texten handelt von einer Person, die ein Streichholz entfacht, um sich eine Zigarette anzuzünden. Das brennende Hölzchen fällt auf den Teppich … Was nach des Liedermachers Logik letztlich zu einem Weltkrieg und ins Verderben der Menschheit hätte führen können, wenn … die Person das Streichholz nicht aufgehoben hätte. Im Lied ‚Dene wos guet geit‘ äußert er eine entwaffnend einfache Kritik an wirtschaftlichen Ungleichheiten, um mit ein paar weiteren Zeilen eines anderen Werks der existenziellen Frage nachzugehen, was ein Sändwitsch ohne Brot wäre.
Einer, den solche Geistesblitze treffen, müsste mir doch auf die Sprünge helfen können. Ich bin sicher, dass ihm selbst zu einer sprechenden Schildkröte eine Erklärung in den Sinn käme oder zumindest eine ausgefallene, skurrile Geschichte. Bloß, Mani ist tot.

Und Lisa Eckhart? –– Vergiss es!

Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, die befreiende Geschichte selbst zu entwickeln.
Also nochmals: Mimi, unsere Schildkröte hat mich begrüßt. Wobei, alles was sie sagte war: „Hallo“.
Nur dieser knappe Gruß. Das mag seltsam, vielleicht unglaubhaft erscheinen, mir bereitet es Sorgen.
Dass mich nur dieses eine Wort – gesprochen von einem simplen Kriechtier – dermaßen verunsichert, hat freilich seine Bewandtnis.
Es ist nämlich nicht das erste Mal, dass mich gewisse Zweifel an meinem Verstand ereilen. Meinte ich doch auch schon beim Schreiben zu später Stunde irgendetwas Flinkes vorbeihuschen zu sehen.
Wären derartige Vorfälle nur einmal passiert, könnte ich sie ignorieren. Aber wenn sie sich häufen …

 

* * *

 

Ich habe mir in den letzten zwei Tagen intensiv den Kopf zerbrochen, um mich schreibend von meinen Selbstzweifeln zu erlösen. Es hat in ähnlichen Situationen schon oft funktioniert. Diesmal nicht.
Darum habe ich heute Morgen gehandelt und Mimi in eine benachbarte Zoohandlung gebracht. Man hat sie dort liebevoll in Empfang genommen und sie schien mir auch nicht unglücklich zu sein.
Jedenfalls ließ sie zum Abschied ein freundliches „Tschüss“ fallen, was die Tierhändlerin, da bin ich mir sicher, gar nicht wahrgenommen hat.

Jetzt bin ich auf dem Weg ins Café Euler. Auf einen Schwatz mit Leonhard, einem befreundeten Psychiater.

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