Von Franck Sezelli

Am Nachmittag hatte das Wetter mitgespielt. Der leichte Wind war nicht stärker geworden, wie zunächst befürchtet. Renate und Charly, die zum Apéro auf unserer Terrasse waren, sind gerade gegangen.

Während Elisabeth die Teller und Gläser ins Haus trug, legte ich die Tischdecke mit dem Olivenmuster zusammen.

»Vergiss nicht, die Schildkröte reinzubringen«, rief mir Elisabeth zu.

Als wenn ich das gute Stück draußen lassen würde, ein Geschenk von unserer französischen Freundin Danielle, deren Schwester das Keramikreptil für uns gefertigt hatte. Wir hatten schon manche Vasen, Krüge und Skulpturen von dieser Hobbykünstlerin bewundern können. Nun dient die Keramik regelmäßig als  Tischtuchbeschwerer – in unserer windigen Gegend sehr zweckmäßig –  und als schmückendes Accessoire im Wohnzimmer. Gleichzeitig ist sie Erinnerung an unseren Momo, die Schildkröte, die wir bei unserem Umzug mit nach Frankreich gebracht hatten und die Danielle noch kennengelernt hat.

Die paar Minuten vor dem Abendbrot saß ich auf der Couch, wischte neugierig auf dem Handy herum und stieß dabei auf eine Schlagzeile von FOCUS Online: »Schildkröte überlebt Jahrzehnte auf dem Dachboden«. Der reißerische Artikel berichtete von einer Familie in Brasilien, die nach 30 Jahren ihre seinerzeit verschwundene Rotfußschildkröte beim Entrümpeln des Dachbodens in einer Holzkiste gefunden hatte. Sie hatte die lange Zeit ohne richtiges Essen überlebt. Wahrscheinlich haben ihr kleine Insekten und Kondenswassertropfen genügt. Was für eine Anpassungsfähigkeit!

Beim Abendessen erzählte ich meiner Frau von diesem Wunder. »Wenn das nicht ein Fake ist!«, meinte sie kopfschüttelnd.

 

»Fraaanck, Fraaaanck«, rief da jemand mit leiser, aber seltsam durchdringender Stimme. Ich schaute mich um, konnte aber nicht klären, woher der Ruf kam.

»Hörst du das auch?«, fragte ich flüsternd meine Frau.

»Was soll ich hören?«, fragte sie zurück, ohne ihre Stimme zu senken.

Ich legte den Finger auf die Lippen und antwortete: »Da, jetzt wieder. Da ruft jemand leise nach mir.«

Elisabeth schaute angestrengt, lauschte wohl auch. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Da ist nichts!« Sie stand auf und ließ mich im Wohnzimmer allein.

Da war es wieder, »Fraaa-aanck …«, begleitet von einem leisen Keuchen. Und noch einmal, ganz deutlich und etwas lauter: »Fraaa-aanck!«

Ich schaute wieder im Zimmer herum – und da sah ich es. Die Schildkröte auf dem Schränkchen neben dem Fernseher bewegte langsam ihren Kopf. Sie war es! Die Keramikschildkröte rief mich. Deutlich sah ich, wie ihr Maul dabei auf und zu ging. Ja, ich weiß, Schildkröten haben einen Schnabel, keinen Mund oder Maul! Egal! Und Keramikfiguren können nicht sprechen …

Aber unsere Schildkröte, die immer da auf dem Schränkchen steht, wenn sie nicht draußen die Tischdecke vor dem Wegfliegen bewahrt, die bewegte sich. Ich sah es ganz deutlich, starrte sie an. Da bewegte sich auch das linke Vorderbein, dann das rechte. Die Hinterbeine zogen nach. Die Schildkröte kam näher. Ihr Kopf streckte sich weiter aus dem Panzer, schaute nach links, dann nach rechts. Ich sah ihren faltigen Hals, die Zunge schlängelte rot aus ihrem Schnabel. Die Keramikoberfläche glänzte nicht mehr, nein, sie sah echt aus, echt – wie eine richtige lebendige Schildkröte. Ich war völlig erstarrt. Es gab keinen Zweifel mehr: Das war Momo! Momo, der vor zehn Jahren gestorben war und den ich schweren Herzens im Garten begraben hatte.

Momo fixierte mich mit seinen lebhaften Augen. »Das hättest du dir nicht träumen lassen, dass ich eines Tages wiederkomme und Rechenschaft verlange. Ihr habt mich einfach aus meiner Heimat entführt und eingesperrt.«

Ich erwachte aus meiner Trance. Das konnte ich nicht auf uns sitzenlassen. »Wir haben dein Leben gerettet! Das war auf einem Gemüsemarkt in Tunesien, wo du mit anderen in einer Kiste angeboten wurdest. Eine Suppe hätte man aus dir gemacht, wenn unsere Tochter nicht so gebettelt hätte und wir dich dem Händler abgekauft hätten.«

»Woher weißt du das? Vielleicht hätte mich auch eine süße kleine Zuleika gekauft und mich in den maurischen Bergen wieder freigelassen? Schließlich bin ich eine maurische Schildkröte.«

»Bestimmt haben wir dir dein Leben gerettet! Eine Zuleika oder ihre Mutter hätte dich in den Kochtopf gesteckt. Aber mindestens auch eingesperrt, um mit dir zu spielen.«

»Aber was war das dann ein paar Tage später? Ihr habt mich röntgen lassen …«

»So kann man das nicht sagen. Wir mussten dich schließlich irgendwo im Gepäck verstauen vor dem Heimflug. Beim Einchecken wird das Handgepäck eben durchleuchtet. Bestimmt haben die Zöllner dich für ein Fischbrötchen gehalten. Das mit dem Artenschutz haben wir erst später erfahren. Heute könnte uns die Tocher nicht mehr überreden. – Na ja, würde sie auch nicht mehr machen, mit ihren über 40 Jahren.«

»Ihr habt mich dann einfach eingesperrt!«

»Wir haben dir ein sehr großes Terrarium beschafft und haben dich viel laufen lassen. Auf dem Balkon, auch in der Wohnung. Erinnerst du dich, wie du uns immer in die Zehen beißen wolltest, vor allem, wenn wir barfuß waren?«

»Ja, ich weiß. Mein Schnabel braucht auch mal etwas Festes zum Beißen. Sonst wird er zu lang.«

»Unsere Mädchen haben dich auch gern nach draußen auf die Wiese mitgenommen. Du warst nicht dauernd im Terrarium. Einmal bist du sogar ausgerissen, obwohl wir den Kindern immer eingeschärft hatten, gut auf dich aufzupassen.«

»Die dachten, Schildkröten sind langsam. Aber hallo, das stimmt gar nicht! Ich dachte schon, ich bin wieder in Freiheit. Dummerweise haben sie mich wieder gefunden.«

»Oh ja, wir haben dich wie verrückt gesucht. Die Kleinste hat dich dann Hunderte Meter weiter gefunden, unter einem Strauch.«

»Das war ärgerlich! Ich habe mich dort wohlgefühlt.«

»Das hättest du aber nicht überlebt. Spätestens im Winter hätten dir die Krähen den Garaus gemacht.«

»Du weißt offenbar gar nicht, was Schildkröten alles aushalten. Hast du nichts von meiner Kollegin in Brasilien gehört, die 30 Jahre fast ohne Fressen ausgekommen ist?«

»Das ist etwas anderes als ein Winter mit Schnee und Frost! Deswegen dachten wir ja auch, dass es dir im Süden Frankreichs, wieder im Mittelmeerraum, gut gefallen wird.«

»Nun ja, die Temperaturen waren schon gut. Aber langweilig war es manchmal doch. Ich war ja immer allein.«

»Ich habe dir ein schönes Gelände eingezäunt, mit einer Höhle zum Verstecken, mit Steinen und einem Hügel zum Klettern. Und einem Netz über allem wegen der Möwen und streunenden Katzen. Wir hatten immer den Eindruck, dass du dich wohlfühlst.«

»Es hat mir auch gefallen, aber manchmal habe ich mir auch Gesellschaft gewünscht.«

»Entschuldige bitte, das wussten wir nicht. Es hieß immer, Schildkröten sind Einzelgänger.«

»Ja, meistens. Aber manchmal juckt es einen eben … Du verstehst?«

»Ich glaube zu verstehen. Aber woher sollten wir denn ein Weibchen für dich bekommen? Wir waren ja auch noch gar nicht lange in Frankreich, als du eines Morgens bewegungslos am Käfigzaun lagst. Du hattest dich nachts gar nicht in deine Höhle zurückgezogen wie üblich.«

»Und da habt ihr mich einfach so eingebuddelt!«

»Aber nicht doch! Wir haben dich angestupst, dich untersucht. Und dann haben wir tagelang gewartet, dich immer wieder versucht, zum Leben zu erwecken. Ich glaube, über zwei Wochen …«

Die Schildkröte wurde immer größer, bewegte sich auf einmal schnell auf mich zu, sodass ich Angst bekam, sie würde vom Schrank herunterstürzen. Mit lauter, empörter Stimme rief Momo plötzlich: »Siehst du denn nicht, dass ich gar nicht tot bin!«

Schweißgebadet fuhr ich auf und stieß mir den Kopf am Schrank, der unser Bett überbaut. Panisch blickte ich im Schlafzimmer umher, das vom Licht des Vollmonds erhellt war. Neben mir lag Elisabeth und atmete ruhig.

Nachdem sich mein wie wild schlagendes Herz beruhigt hatte, legte ich mich wieder hin.

 

»Ich bereite das Frühstück vor, holst du uns ein Baguette?« Eigentlich musste Elisabeth mich nicht auffordern. Das war unsere morgendliche Routine.

»Na klar, wie immer! Une tradition oder ein normales?«

»Wie du willst!«

Ich schaute zu den Nachbarn gegenüber, die auf ihrer Terrasse schon beim Frühstück saßen, und grüßte sie mit einem freundlichen »Bonjour«. Da passierte es! Ein stechender Schmerz im Fußgelenk, mir entfuhr ein »Merde!«. Beinahe wäre ich gestürzt, konnte mich gerade noch abfangen. Neben dem Gartenweg entdeckte ich ein großes Loch, in das mein Fuß geraten war. Mit einem Durchmesser von ungefähr zehn Zentimetern führte es einen halben Meter schräg nach unten. Was war das? Ohne mir meine Verblüffung anmerken zu lassen, nickte ich den Nachbarn nochmal freundlich zu.

 

Auf dem Weg zum Bäcker versuchte ich, die aufkommenden Gedanken zu verscheuchen.

 

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