Von Lauretta Hickman

„Guten Morgen“, sagt die Schildkröte in meinem Wohnzimmer.

„Guten Morgen, Friedrich“, grüße ich in Menschenstimme zurück. Wie hat er es diesmal geschafft? Ich pflücke ihn vom Teppich und stecke ihn in mein Bustier. Mit knabbernden Pieksern an meinem Hals beginnt er seinen Flirt mit mir. Während ich die Vorhänge öffne, empfange ich die dringliche Information: „Hunger!“, sowie klare Bilder einer Tomatenscheibe, einem Orangenstück und einem Salatblatt.

Friedrich ist etwa 85 Jahre alt. Er hat unter anderem seine Kiste im Bad, weil ich unbewusst ständig Angst habe, ihn zu übersehen und eines Tages auf ihn zu treten. Ich sende ihm die Frage: Was ist mit deiner Kiste passiert? Und erhalte eine verworrene Botschaft aus Sägemehl, Kacke, Essen und dem halben Handball, seiner Hütte.

In diesem Moment sehe ich das Yin und Yang aus rotem und braunem Fell, das ineinander verknotet im Wollschlauch auf dem ausgemusterten Katzenbaum schläft: Kiki und Miki. Mein Herz zerfließt. Ein uneingeweihter Zweibeiner mag oft das Gefühl haben, gleich töten sie sich – ihre Gefechte sind beeindruckend. Immerhin kurz. Eigentlich haben sie sich gesucht und gefunden. Noch will ich sie nicht wecken.

Gehe durch den Flur, vorbei an meinen zwei Pitbull-Labrador-Nochwas-Mixen, die kompakt auf ihren Flauschbetten fläzen, sie wissen, sie sind noch nicht dran; vorbei an Alejandros Käfig, den ich öffne, in die Küche. Auch hier, Vorhang auf. Oh, das wird ein schöner Tag. Die Morgensonne scheint in den Garten. Endlich, endlich (!), nach vier Jahren Arbeit, blüht und gedeiht er so, wie ich es immer wollte. Meine Laune hebt sich sofort.

Friedrich knabbert wieder und fordert erneut eine Tomate. „Geduld“, schicke ich ihm. „Du weißt doch, wie es hier abläuft.“

Heute ist mir nach „Rührei“. Pfanne auf den Herd, Olivenöl. Kühlschrank: Tofu, Frühlingszwiebeln, Tomatenmark, Mandelmilch für mich. Orange, Trauben, Salat für die anderen. Ich schneide Frühlingszwiebeln, krümle den Tofu in die Pfanne, würze mit Knoblauch, Kurkuma, Kala Namak, Sojasauce, Pfeffer und lasse alles auf niedriger Flamme brutzeln. Setze die Cafetera auf, gieße Mandelmilch in den Topf.

In Menschenstimme sage ich: „Dann lass uns mal das Durcheinander anschauen.“

Im Bad sieht es wild aus. Er hat wieder die Kiste gekippt. Sägespäne, Kacke, Essen sind um die Ballhälfte auf dem Boden verteilt. Ich säubere alles, auch die Katzentoiletten. Hier ist es nicht viel, als Freigänger sind sie seit der Klappe in der Türe wirklich frei. Muss mir was anderes überlegen. Eigentlich ist das ein guter Platz für Friedrich: etwas feucht, Heizung minimal an. Nun denn.

Zwanzig Minuten später frühstücken wir.

Friedrich mümmelt an Tomate und Salat wie der zufriedene Opa, der er ist. Miki und die frisch gewindelte Kiki haben genau (!) die gleiche (!) Portion an Trauben und Erdnüssen erhalten. Besonders Kiki achtet darauf. Affen haben einen ausgeprägten Sinn für „tit for tat“. Und für Ungerechtigkeiten, speziell im kulinarischen Bereich.

Mein Rührei, angereichert mit Basilikum und Tomaten aus dem Garten, ist genau das, was ich jetzt brauche. Dazu war mir heute nach Vollkornzwieback, der von Alejandro auf meiner Schulter ebenso goutiert wird. Sein glänzendes, volles Gefieder freut mich so. Plötzlich schreit er „Que ricooooooo!“ Direkt in mein Ohr. Er hat sich bei mir viele deutsche Worte und Redewendungen abgehört, aber manchmal kommt was Spanisches aus ihm raus. Oder Südamerikanisch? Schwer zu sagen, seine Historie war ja leider löchrig, als ich ihn bekam. Prompt lasse ich die Gabel fallen. Und frage mich ernsthaft, ob er langsam taub wird.

Das animiert Kiki und Miki leider zu ihrem ersten Streit. Durch den Papagei abgelenkt, habe ich nicht gesehen, was passiert ist. Kiki fletscht die Zähne und kreischt, Anblick und Klang gleichermaßen hässlich. Eine Handvoll Affe, mit diesem traurigen Edvard-Munch-Ausdruck – aber wehe, wenn sie wütend sind! Sie wirft erbost mit Erdnussschalen nach Miki. Miki keckert und rettet sich mit reichlich Trauben auf die Vorhangstange. Kiki will hinterher und wirft dabei die Obstschüssel um. Alles kullert auf Tisch und Boden. Aufstehend haue ich auf den Tisch und schreie: „Ruhe jetzt! Was soll denn das? Sofort aufhören!“ Nicht, dass ich wirklich böse wäre. Meine – laute – Stimme ist in dem Moment der stärkste Reiz im Raum. Was manchmal sein muss: alle Aufmerksamkeit zu mir!

Ich stelle mich unter die Vorhangstange und locke Miki: „Spring!“

Das Eichhörnchen springt in meine Hand und bekommt Kopf und Hals gekrault. Währenddessen sammelt Kiki die heruntergefallenen Trauben auf und stopft sie, hektisch um sich blickend, schnell in ihr Totenkopfgesichtchen.

Das Frühstück endet, mit erneut genau abgezählten Trauben und Nüssen, friedlich.

Ich lege Miki ihr Geschirr an, gehe in den Flur, ziehe dort die erwartungsvoll wedelnden Hunde an. Und wir brechen auf zu unserer ersten Runde. Im Garten setze ich Friedrich am Rand des Miniteichs ab. Seine Füße finden im Wasser Halt an den Pflastersteinen, der Panzer brät in der Sonne. Er mag das.

Durch das Gartentor auf den Deich und los. Ach, wie gut das tut. Noch ist es nicht zu heiß, die Morgenluft angenehm, niemand begegnet uns.

Miki entscheidet inzwischen selbst, ob sie springen, klettern, uns in den Bäumen begleiten oder lieber auf meiner Schulter sitzen will. Solange sie das Geschirr anhat, fühlt sie sich sicher. Ich habs aufgegeben. Sie will nicht ausgewildert werden. Den Schreckensschrei werde ich nie vergessen, als

ich ihr draußen das Geschirr ausgezogen und mich umgedreht habe. Hat länger gedauert, sie aus meinen Haaren zu pflücken.

Nach einer Stunde sind wir zufrieden zurück am roten Backsteinhäuschen. Wieder danke ich dem Leben. Und meiner Oma. Aus tiefstem Herzen. Ich darf hier lernen, zu sein, was ich bin. Und es auch leben. Die Hunde kriegen Treats. Minka und Sam liegen puschelig, verfilzt und selig im Flursessel. War wohl eine spannende Nacht. Futterschüsseln alle leer.

Ich setze mich an den Laptop und logge mich in der Plattform ein. Dass auch Astrologen, Kartenlegerinnen und Medien hier ihr Wesen und Unwesen treiben, ist mir egal, inzwischen. Ich muss mir meinen Ruf ohnehin erarbeiten: jedes Profil erhält Bewertungen. Tierkommunikation ist seit einem Jahr dabei, somit ich auch. Sie behalten zwar 50% meines Bruttos. Aber es ist eine gute Einnahmequelle, für die ich nichts weiter tun muss, als mit anrufenden Menschen zu sprechen. Wie viele Katzen ich schon aufgespürt habe – ich weiß es nicht mehr.

Im ersten Kapitel meines neuen Buches: In Bildern hören lernen – die Weisheit der Tiere, Arbeitstitel bisher, holt mich das Telefon aus dem Schreibfluss. Nicht die Plattform. Fremde Nummer. Aber aus der Gegend.

„Hoinka?“

„Guten Tag, Frau Hoinka! Ach, bin ich froh, dass ich Sie erreiche. Mein Name ist von Stettendorf“, sagt eine freundliche, atemlose Frauenstimme. „Wir sind ein Friesengestüt. Seit zwei Wochen haben wir eine vielversprechende Stute aus Belgien. Leider ist sie nicht zu händeln. Aggressiv gegen Menschen und Herde. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Sie frisst auch kaum. Der Tierarzt ist ratlos. ,Erlösen’ steht im Raum. Das will ich aber nicht. Sie wurden mir als Geheimtipp genannt. Können Sie bitte heute kommen?“

 

 

Ruhig sitze ich vor dem Korral, in dem die bebende schwarze Schönheit steht, sammle meine Aufmerksamkeit in Herz und Bauch. Noch bevor ich „Möchtest du mir etwas mitteilen? Ich sehe, fühle und empfange dich“ senden kann, trifft mich ihr Zustand wie ein Hammer. Einen derart hohen Stresslevel habe ich noch nie bei einem Tier erlebt. Ihre Aura – wie ein Bündel Blitze kurz vor der Entladung. Ich verstehe, dass sie aggressiv ist. Einen Menschen in diesem Zustand brächte man in eine psychiatrische Ambulanz. Bilder und Informationen fluten in panisch-chaotischer Abfolge meine Wahrnehmung. Ihr Baby. Sie hatte ein Fohlen. Es sollte getötet werden. Wegen eines „Fehlers“, welchen, bekomme ich nicht genau. Sehe eine schiefe weiße Blesse auf der Stirne, einen weißen Huf. Sie wurden getrennt. Dann

wird mir eine Art Zwischenstation von ihr gezeigt. Und der Transport hierher. Sie ist außer sich vor Sorge. Es fühlt sich tatsächlich an wie verrückt werden. Eindeutig – solange das mit dem Fohlen nicht geklärt ist, wird sie sich nicht beruhigen. Ihr körperlicher Zustand ist schlecht. Extreme Entzündungswerte. Ich verspreche ihr, mich zu kümmern.

Als ich Frau von Stettendorf davon erzähle, wird sie blass. „Das mit den Entzündungswerten stimmt. Wir finden die Ursache nicht, bisher. Auch, dass wir sie von einem Zwischenhändler in Aachen bekommen haben. Ursprünglich stammt sie aus Belgien. Ich glaube Ihnen. Ich setze mich sofort ans Telefon. Melde mich!“

 

 

Eine ausgedehnte Nachmittagsrunde mit den Hunden hilft mir, zu mir zu kommen. Im Wald kann ich tief atmen. Natur urteilt nicht. Sie ist damit beschäftigt, sie selbst zu sein und erlaubt mir so dasselbe. Wieder spüre ich klar, warum ich keine Workshops mehr mit Menschen machen möchte. Bücher, gut. Die Plattform. Aufträge wie dieser, immerhin 1.000 Euro. Dass ich mich inzwischen zu 70% aus meinem Garten ernähren kann, ist ein Segen. Es ist knapp manchmal, ja. Und was ich bin und tue, suspekt. Für viele. Aber es ist meins.

Zuhause ist es friedlich. Die Katzen sind auswärts, Kiki und Miki erneut selig verknäult. Als ich Alejandros Käfig öffne, klingelt das Telefon.

Frau von Stettendorf, sehr aufgeregt: „Frau Hoinka! Sie hatten Recht! Es gab, oder gibt wahrscheinlich immer noch ein Fohlen. Ihre Beschreibung könnte passen. Ein mitleidiger Bauer in Belgien hat es wohl im letzten Moment ersteigert. Mein Mann ist bereits losgefahren. Bitte, bitte drücken Sie uns die Daumen! Wenn das klappt, verdopple ich Ihr Salär. Ich bin Ihnen so, so dankbar. Halte Sie auf dem Laufenden. Wiederhören!“

 

In der Abendsonne sitze ich vor dem Häuschen, Hunde neben mir, Friedrich im Bustier, mit Riesenkarotten aus den Hochbeeten in der Hand fürs Essen. Blüten und Kräuter duften um die Wette.

Genau jetzt möchte ich mit niemandem auf der Welt tauschen.

 

 

V3 9997 Z

 

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Zur Einordnung:

https://www.youtube.com/watch?v=gvwHHMEDdT0