Von Marianne Apfelstedt

 

„Schau in das Kaleidoskop. Du kannst es drehen. Was siehst du?“

„Einen Stern, immer wieder einen Neuen.“ Die Pappröhre in ihren Händen dreht sich ein kleines Stückchen weiter. Im Inneren verrutschen die glitzernden Krümel und formieren sich zu neuen Mustern. Die Wangen des Mädchens röten sich und seine Augen glänzen.

„So schön. Was ist in der Röhre?“

„Diamantstaub, von einer Elfe mit silbernen Haaren und honiggelben Augen, genau wie deine.“ Die Frau streicht dem Mädchen eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Bitte erzähl mir eine Geschichte.“

„Welche Geschichte möchtest du denn hören?“

„Erzähl mir von dem Mädchen, dass Lucy heißt, wie ich.“

Die Frau setzt sich neben das Kind mit dem Rücken an das Kopfende des Bettes gelehnt, die Beine überkreuzt, ihre Hände liegen entspannt auf den Oberschenkeln. Lucy rückt näher, kuschelt sich an, streicht mit der Hand über die Kordhose, weil sie das Samtige so mag. Vanille und Blumen. Dieser Duft ist jetzt ganz nah und wenn sie wieder allein ist, hüllt der Duft sie ein wie eine Decke. Geborgenheit.

„Lucy fuhr mit dem Boot auf dem Fluss, der sie in ein fantastisches Land brachte. Dort gab es Mandarinenbäume, die mit ihren weißen Blüten bis zu den Wolken reichten. Auf der Wiese neben den Bäumen wuchsen gelbe und grüne Cellophan Blumen, die waren größer als du. Am Hafen stieg sie aus dem Boot und wechselte in ein Taxi, das dort schon auf sie wartete. Es hatte Flügel aus Zeitungspapier. Kaum saß sie in den weichen Polstern, entfaltete es die Schwingen und hob sich in die Lüfte, um mit Lucy in die Wolken hineinzufliegen. Die Wattewolken verwandelten sich, als das Taxi an ihnen vorbeiflog. Lucy sah einen Wolkenwal, der Glitzerfontänen in den Himmel blies und einen Wolkendrachen mit vier Flügeln, die ihn schnell vorbeitrugen. Zwischen den Wolken entdeckte Lucy eine Insel mit einem Turm darauf, auf diese steuerte das Wolkentaxi zu. Was Lucy dort erlebt hat, erzähle ich dir morgen. Jetzt wird geschlafen mein Augenstern.“

Die Kleine legt sich artig zurück in die Kissen. Den neuen Schatz verstaut sie zuvor in der Schublade des Holzschränkchens, das neben dem Bett steht. Dort bewahrt sie auch das Bild von Julian auf, dass er in der Vorschule gemalt hat. Die Frau küsst das Kind auf die Stirn und atmet tief den Nivea Duft ein. Sie knipst das Licht aus und steht im Rahmen der Tür, lauscht den Atemgeräuschen des kleinen Mädchens beim Einschlafen und summt ihren Lieblingssong. Sie weiß nicht, welche Zukunft auf Lucy wartet, aber sie wird ihr immer Geborgenheit schenken, wie die Henne dem Küken.

Der Traum hüllt das Mädchen unter der Federdecke ein und nimmt sie mit in einen Blaubärblauen Himmel, in dem der Silberstaub der Fee aus den Wolken herunterrieselt und dabei glitzert wie Diamanten. Lucy schwebt durch die Luft mit einem Ballon aus Zellophan und gleitet in ein Feld von gelben Blüten auf denen winzige Schaukelpferde im Wind wippen, bevor sich die Blütenköpfe mit der Sonne verneigen. Sie füttert die Pferdchen mit Marshmallows und tanzt durch das Blütenmeer.

Die Frau geht in die Küche, holt sich eine Coke aus dem Kühlschrank, legt im Wohnzimmer die Platte „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ auf und dreht sich einen Joint. Beim Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ inhaliert sie den Rauch tief in ihre Lungen und sie tanzt mit geschlossenen Augen durch das Zimmer. Auf der Anrichte steht ein Foto von Lucy, mit Zahnlückenlächeln im Blümchenkleid und Gummistiefeln, daneben steht ein Junge. Das Mädchen blond, der Junge mit dunklem Haar. Kinderfreunde.

 

 

Der Strom der Zeit hat 40 Jahre ins Meer des Lebens gespült.
Ein junger Mann betritt das Krankenzimmer. Die Frau im Krankenbett liegt mit geschlossenen Augen auf dem Kissen, das Gesicht umrahmt vom blonden Haar.

„Mom, ich bin es, George.“ Beim Klang seiner Stimme schlägt Lucy die Augen auf.

„Wie schön. Hast du mir etwas mitgebracht?“ Sie richtet sich auf, der Junge umarmt sie und gibt ihr einen Kuss auf die Wange, dann stellt er das Rückenteil so ein, dass Lucy sich anlehnen kann. Er reicht ihr eine Pappröhre, bei der man nur noch erahnen kann, welche Farbe sie einmal hatte. Sie streicht mit den Fingerspitzen darüber und hält sich die Röhre an das rechte Auge.

„Ich habe dieses Kaleidoskop von deiner Granny bekommen, als ich noch ein Schulkind war. Sie hat mir damals erzählt, die Partikel im Inneren sind der Diamantstaub von einer Elfe. Ich habe sie aufbewahrt als Andenken an sie.“

„Ich glaube, du hast sie mir auch mal gezeigt, als ich ein kleiner Junge war.“ Er freut sich, dass diese Erinnerung ihr einen Hauch von Farbe auf das blasse Gesicht zaubert. Lucy legt den Schatz aus Kindertagen auf der Bettdecke ab. Sie stöhnt, als eine Schmerzattacke einsetzt. George holt aus der Schublade eine Tablette, reicht sie seiner Mutter und hält ihr dann einen Becher mit Wasser an die Lippen.

„Möchtest du dich ausruhen? Komm, ich stelle dir die Rückenlehne nach unten.“ Als Lucy wieder liegt, steckt er die Decke fest. Das Nachttischchen schiebt er nah an ihr Bett.

„Hier ist mein iPod, ich habe dir alle Beatles Songs aufgespielt. Magst du einen Bestimmten zuerst hören?“

„Bitte meinen Lieblingssong, Lucy in the Sky, am besten in Dauerschleife.“ Er sucht den Song heraus, legt den iPod auf das Nachtschränkchen, dabei fällt sein Blick auf den Blumenstrauß, der noch am Boden vor dem Schränkchen steht. George stellt die Vase nach oben und legt einen Brief dazu.

Lucy hört den Song, den sie schon unzählige Male zuvor gehört hat, der Sie durch Kindheit und Jugend begleitet hat und ein winziges Lächeln zieht ihre Mundwinkel nach oben. Sie blickt dankbar zu ihrem Sohn.

„Dieser Blumenstrauß ist von Julian Lennon, es liegt noch ein Brief dabei.“

 

 

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