Von Eva Fischer

„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“

 

Siebenundzwanzig Augenpaare schauen gebannt nach vorn, wo sich der graue Haarschopf der Lehrerin kaum gegen die Schiefertafel abhebt.

 

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!“

 

Die Dramatik steigert sich und auch die Stimme der Lehrerin schmeichelt wie die des Erlkönigs.

 

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt.

Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“

 

Das sind Worte, die sich tief in die Seelen der 13-Jährigen einbrennen und Ängste schüren.

 

„In seinen Armen das Kind war tot.“

 

Die Lehrerin sieht an den feuchten Augen, dass es ihr gelungen ist, ihre Schüler emotional zu packen. Der Boden ist bereitet für die darauf folgende kognitive Bearbeitung. Doch das hat noch etwas Zeit. Vorerst will sie der Schönheit der Sprache nachspüren, sie in die Münder ihrer Schüler bringen.

 

„Ich gebe euch 15 Minuten. Versucht mal, so viel wie möglich von dem Gedicht auswendig zu lernen! Und absolute Ruhe, bitte!“

 

Sie reicht Mia einen Stapel Blätter mit Goethes Gedicht zum Austeilen.

 

Es ist Frühling. Die kahlen Bäume haben Knospen angesetzt und Mia möchte das Fenster öffnen und hinausfliegen, denn sie weiß, was jetzt kommt. Erlkönigs düsterer Ort wird sich in ihrem Kopf abspielen.

 

Die Schüler halten die Augen gesenkt, bewegen lautlos die Lippen. Der Wettkampfeifer hat ihre Wangen gerötet. Wer schafft die meisten Strophen?

 

Mia spürt, wie die Buchstaben vor ihr sich zu einem einzigen Schwarz verklumpen. Der Zeiger der Uhr erzeugt in ihr Donnerschläge, die Erlkönigs schmeichelnde Stimme übertönen. Sie hält sich die Ohren zu, aber es hilft nicht. Nun hört sie ihr Herz angstvoll pochen. Nicht eine Zeile wird sie sich merken können ! Nicht eine! Wie peinlich ist das denn?

 

Einmal hat Frau Graf sie drangenommen und etwas betreten geschaut, als Mia Tränen in die Augen geschossen sind, weil sie keine Zeile behalten hatte.

Mia gelingt es nur, ein Gedicht auswendig zu lernen, wenn sie allein zu Hause üben kann, vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt.

Doch auch sie würde so gern an diesem edlen Wettkampf teilnehmen, allein ihr „Ross“ startet nicht, lahmt, weigert sich.

 

Die 15 Minuten sind vorbei. Für einen sich Quälenden eine Ewigkeit!

Elvira, ihre Freundin zeigt auf. Sie ist das beste Pferd im Stall und darf nicht als erste drangenommen werden. Das ist ein unausgesprochener Konsens. Die Lehrerin lächelt ihr verschwörerisch zu. Elvira kann warten. Alle Rezitationen vor ihr, unvollständig und stümperhaft ausgeführt, quittiert sie mit einem müden Lächeln, um dann zum Finale Furioso anzusetzen. Sie hat es wieder mal geschafft. Acht Strophen in 15 Minuten. Fehlerfrei. Frau Graf und ihre Mitschüler applaudieren.

 

*

 

Sechs Jahre später

 

„Weißt du schon, was du nach dem Abi machst?“, fragt Mia ihre Freundin Elvira.

„Ich werde Germanistik studieren.“

„Na, eine große Überraschung ist das jetzt auch nicht. Du willst wohl eine zweite Graf werden.“

Elvira braust auf.

„Ich will garantiert nicht so ein verkappter Nazi werden wie die Graf.“

Mia runzelt erstaunt die Augenbrauen.

„Aber die hat dich doch immer in den Himmel gehoben! Das verstehe ich jetzt nicht.“

„Und die anderen dafür in der Hölle schmoren lassen.“

„Das hast du gemerkt?“

„Eure hasserfüllten Blicke sind mir nicht entgangen.“

Mia wird rot.

„Aber…“, stottert sie verlegen.

„Und ihr hattet recht.“ Elvira schaut ihre Freundin durchdringend an.

„Ihr hattet nicht die geringste Chance. Die Graf wusste das. Sie musste euch immer und immer wieder vorführen.“

„Aber du hast doch mitgemacht?“ wendet Mia ein.

„Ich war dreizehn, fast noch ein Kind! Ihr Lob hat mich stolz gemacht. Ich sage doch Nazimethoden. Der Starke wird gefördert. Der Schwache kann sehen, wo er bleibt. Als Lehrerin werde ich mal dafür sorgen, dass jeder Schüler etwas vom Unterricht mitnehmen kann.“

„Du wirst sicher einmal eine gute Lehrerin.“ Mia tätschelt den Arm ihrer Freundin.

„Und was willst du machen?“ fragt Elvira.

 

„Dem Lehrer grauset’s; er reitet geschwind.

Er hält in Armen das ächzende Kind.

Das Schuljahr endet mit Müh und Not.

Trotz aller Hoffnung; das Kind ist tot.“

 

Elvira klatscht in die Hände.

„Na bitte, du hast doch etwas behalten! Allerdings hätten weder Goethe noch die Graf dir Pluspunkte dafür gegeben“, zwinkert sie Mia zu. „Aber mir gefällt’s. Du bist näher am Puls der Zeit.“

„Ich weiß noch nicht, was ich mal mache“, sagt Mia „aber Deutschlehrerin werde ich garantiert nicht.“

 

*

 

Sechs Monate später

 

„Was hätten Sie gerne?“, wendet sich die Kellnerin an den Kahlköpfigen mit der Hornbrille.

„Ich nehme das Rumpsteak mit Fritten. Nicht durchgebraten. Schön blutig innen. Und ein Pils, bitte.“

„Gerne. Und Sie?“

„Ich möchte Spaghetti Vongole und einen Pinot Grigio. Ach ja, und bringen Sie mir noch eine kleine Flasche Wasser.“

„Mit Kohlensäure?“, fragt sie die Dunkelhaarige mit der Bobfrisur.

„Nein, ohne.“

„Sehr gerne.“

 

Die Kellnerin geht weiter zum nächsten Tisch.

„Und was darf es bei Ihnen sein? Nein, lassen Sie mich raten! Kalbsleber mit gebratenen Zwiebeln, Apfelpüree und Kartoffelstampf.“

„Sie haben ein hervorragendes Gedächtnis, Frau Kellnerin“, prustet Elvira los.

„Mensch, Mia! Jetzt muss ich dich schon in deinem Restaurant aufsuchen. Wann hast du Feierabend? Ich wollte mal wieder mit dir quatschen.“

„Ich muss erst meine Bestellungen aufgeben. Dann komme ich.“

„Schreibst du sie nicht auf?“

„Nicht nötig. Die Gesichter verraten es.“

„Und was machst du, wenn eine Dünne Sahnetorte will oder ein Mann Grießbrei?“

„Das merke ich mir erst recht“, schmunzelt Mia.

 

„Warum bekommt man dich nicht mehr zu Gesicht? Hast du einen Freund? Bist du verliebt? Wie sieht er aus? Kenne ich ihn?“ Elvira mustert die Freundin neugierig, als ob Frisur und Schminke ihr etwas verraten könnten.

„Ja, ich bin verliebt. Sehr sogar. Man könnte es eher als unheilbare Leidenschaft bezeichnen“, gesteht Mia endlich. Ihr Blick scheint seltsam entrückt.

 

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!

Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir.

Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand.

Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“

 

„Ach Mia! Ich platze vor Neugierde und du kommst mir mit dem doofen Erlkönig.“

„Aber das ist es ja. Ich bin ihm vollkommen verfallen.“

„Wem?“

„Dem Theater!“

Elvira schluckt, glaubt sich verhört zu haben.

„Ja, und Tom natürlich“, ergänzt Mia.

„Na also, ich wusste doch, dass ein Mann dahinter steckt.“

„Es ist nicht so, wie du denkst“, warnt Mia.

„Am besten kommst du heute Abend um 19 Uhr zu unserer Probe in der Friedrichstraße. Ich muss jetzt auch weiter arbeiten.“

Mia verschwindet mit leichten federnden Schritten.

 

*

 

Sechs Stunden später

 

Elvira klingelt an der Haustür des 4. Stockes einer Altbauwohnung. Ein Mann in Rollkragenpullover und Jeans öffnet ihr. Seine Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Hi! Du musst Elvira sein. Komm rein! » 

Er lächelt sie freundlich an und reicht ihr die Hand.

„Ich bin übrigens Tom.“

Elvira schätzt ihn auf 60. Mia ist gerade mal 20 geworden. Sie geht mit ihrem Begleiter den langen Flur entlang, der in einem riesigen Wohnzimmer endet. Dort sitzen etwa 12 Personen im Kreis, Männer und Frauen, Junge und Ältere.

„Das ist Elvira“, stellt Tom sie vor. „Sie ist Mias Freundin. Sie will mal gucken, was wir so treiben. Vielleicht kriegt sie ja Lust mitzumachen,“ zwinkert er ihr zu.

Ein freundliches „Hi“ ertönt von allen Seiten.

Elvira steuert den einzigen freien Stuhl an.

Jeder der Teilnehmer hat ein Skript in der Hand, aber die meisten kennen ihren Text schon auswendig. Auch ihren Einsatz verpassen sie nicht, springen auf, spielen mit ihrer Stimme wie auf einem Klavier, laut und wütend, schmeichelnd und einfühlsam, weich und hart. Tom  schlägt Korrekturen vor, unterstreicht sie mit seinen Körperbewegungen.

Elvira ist fasziniert von der Choreographie dieses Mannes, seinen Ideen, die jede Szene sichtbar verbessern. Sie beobachtet Mia, die zu jeder Verwandlung fähig ist, die nichts mehr gemein hat mit der eher schüchternen Freundin, mit der sie 9 Jahre lang die Schulbank gedrückt hat.

Das Stück hat sie begeistert. Es geht um die in einem Luxusdampfer eingeschlossene Gesellschaft, ihre Querelen und Platitüden. Flüchtlinge werden in einem Boot vorbeigetrieben. Die Passagiere bemerken sie nicht einmal oder wollen sie nicht bemwerken. Auch dass der Luxusdampfer auf ein Riff aufgelaufen ist, entgeht ihnen.

 

Elvira applaudiert. Die Gruppe verneigt sich wie nach einer richtigen Vorstellung.

 

Mia schlägt eine Kneipe um die Ecke vor, um noch gemeinsam einen Wein zu trinken.

„Vom wem ist das Stück, das ihr spielt?“, will Elvira wissen.

„Wir haben gemeinsam daran geschrieben. Aber der Löwenanteil stammt von Tom. Ein toller Mann! Du hast ihn ja jetzt kennnengelernt.“

Elvira kann ihr nur beipflichten.

„Aber ist er nicht etwas zu alt für das Bett?“, wagt sie einzuwerfen.

Mia lacht laut auf.

„Ach Elvira! Darum geht es doch gar nicht.“

„Sondern?“

„Tom leitet seit 10 Jahren diese Theatergruppe. Seine Aufführungen sind immer ausverkauft und er hat mir Mut gemacht, mich in Berlin an der Schauspielschule anzumelden.

Was meinst du?“