Von Henner Ommer

Als mein Radiowecker den ersten Ton von sich geben wollte, hatte ich ihn auch schon ausgeschaltet. Keine Neuigkeiten von NDR-Info, keine Popmusik, kein nochmaliges Umdrehen um einige Minuten Bettwärme zu genießen. Nein, ich lag schon eine Weile wach und dachte an die unangenehmen Dinge, die mir dieser Tag bringen würde. Meine Praxis für Allgemeinmedizin blieb für heute geschlossen. Der Kollege in Lingen war so freundlich und übernahm den Notdienst für die Landgemeinde.

 

Heute wird Karl-Werner Schulze-Kleinekötter zu Grabe getragen. »De mortius nil nise bene«, über die Toten darf man nichts Schlechtes sagen. Trotzdem: Karl-Werner Schulze-Kleinekötter war ein Arschloch gewesen.

 

Fein säuberlich hing die Uniform der Schützengilde Emsland über dem stummen Diener. Die schwarzen Schuhe auf Hochglanz poliert. Ich seufzte. Es verstieß gegen meine Lebensphilosophie von Gleichheit, dass Anne-Maria, meine Frau, mir die Schuhe putzte: Kein Mensch sollte dem anderen Untertan sein. Schuheputzen empfand ich als einen Akt der Untertänigkeit. Aber ich habe ihr das in vierzig Ehejahren nicht abgewöhnen können. Die Prägung einer katholischen Erziehung hatte sie gegen alle Einflüsse einer aufgeklärten Philosophie unempfänglich gemacht. Nun, ich hatte gelernt es zu akzeptieren und stritt nicht mehr mit ihr. Ihre Verwurzelung in die Dorfgemeinschaft an der Ems hatte mir bei der Gründung meiner Landarztpraxis so manches Hindernis aus dem Weg geräumt. Seit Jahrzehnten leitete sie den »Sozialdienst katholischer Frauen – Emsland«. Ihre Arbeit gab ihr einen tiefen Einblick in die Verwerfungen dieser bäuerlichen Gesellschaft. Anne-Maria war im Laufe der Jahre zur Institution und Autorität in der Gemeinde geworden. So traute sich auch mein Todfeind, Karl-Werner Schulze-Kleinekötter, nicht an mich heran. Obwohl er versucht hatte, nach meiner zehnjähriger Abwesenheit, die Gründung meiner Landarztpraxis zu hintertreiben.

Nach dem Medizinstudium in Heidelberg, arbeitete ich als Arzt an einer Klinik in Kassel. Der Tod meiner Mutter, ihre Beerdigung und die Ordnung ihres Nachlasses führten mich zurück an den Ort meiner Kindheit. Dort traf ich Anne-Maria wieder. Sie war mir aus meiner Zeit als Ministrant noch bekannt  und hatte alle Attribute entwickelt, die einen Mann aufregen konnten. Das Leben nahm seinen Lauf. Wie heiß es so weise in der Bibel: »Ein Mann wird Vater und Mutter verlassen, und seinem Weibe nachhangen….(1.Mose 2.24; Matth. 19.5)«. Meine schöne Anne-Maria aber war aus ihrem Dorf nicht wegzukriegen.

 

Landärzte waren schon damals eine rare Spezies und so fand ich mich in der alten Heimat wieder. Karl-Werner Schulze-Kleinekötter hielt sich zurück. Ganz im Gegenteil: Im Gemeinderat tat er so, als wäre er der Initiator meiner Niederlassung gewesen. Meine Mutter vererbte mir einige nicht besonders wertvolle Stücke Ackerland, die verpachtet zur Aufbesserung ihrer Rente ein Scherflein beitrugen. Dass die Landfetzen sich später als strategisch wertvoll entpuppten, konnte ich damals nicht ahnen. Ich benötigte zur Gründung meiner Praxis Geld. Eine hohe Verschuldung bei der Ärzte- und Apothekerbank wollte ich unter allen Umständen vermeiden. So verkaufte ich ein Stück Acker an den von mir verhassten Karl-Werner Schulze-Kleinekötter. Der bezahlte überaus gut und das hätte mich warnen müssen. Einige Zeit später errichtete er genau auf dieser Ackerfläche den ersten Mastbetrieb für Puten und es sollten Weitere folgen. All diese Puten-, Hähnchen- und Schweinemast-Betriebe lagen fernab von Karl-Werners prächtigen niedersächsischen Erbhof, aber in sträflicher Nähe zum Dorf, in dem wir leben.

Als Landarzt gehört man zwangsläufig den verschiedensten Vereinen an. So wurde ich Mitglied der Schützengilde Emsland und avancierte im Laufe der Jahre zum Schützenhauptmann. Karl-Werner Schulze-Kleinekötter hatte als Schützenoberst und mehrfacher Schützenkönig das Sagen im Verein.

Nun war Karl-Werner mit 84 Jahren in die ewigen Jagdgründe gegangen und wir Schützenbrüder waren verpflichtet, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Daher legte ich an diesem frühen Morgen die Uniform an: schwarze Schuhe, weiße Hose, grüne Jacke, schwarzer Zylinder, Zierdegen und die verliehenen Orden und Ehrenzeichen.

Mit meinen zweiundsechzig Jahren graute mir davor, den schweren Protzsarg Karl-Werners auf die von zwei Friesen gezogenene Lafette zu heben. Ich hoffte auf die tragkräftige Unterstützung jüngerer Kameraden, die einen drohenden Lumbago verhindern würden. Mir graute auch vor dem morgendlichen Umtrunk, der mir mehr Sodbrennen als Heiterkeit verursachen würde. Vorausschauend schluckte ich 20 mg Omeprazol zum Frühstück.

 

Die Blaskapelle formierte sich, dahinter die Ministranten mit dem Kreuz. Es folgte der Hochwürden, dahinter Hannelore Schulze-Kleinekötter – die Tochter, das Biest – mit den Verwandten, die Schützenkompanie, mit mir als Flügelmann und die gesamte Dorfbevölkerung.

Es ist ein langer Weg von der katholischen Dorfkirche zum außerhalb liegenden Anger. Meine Gedanken gingen zurück in das Jahr 1953.

An einem heißen Sommertag radelte ich mit meinen Freunden am Ufer der Ems entlang. Wir entdeckten eine Gruppe gleichaltriger Mädchen, die  im Wasser herumtollten. Die Annäherung an das andere Geschlecht findet bei der dörflichen Jugend nicht mit Tanzschul-Manieren statt, wahrlich nicht. Wir pubertierende Jungen hatten nichts Besseres zu tun, als die Holzschuhe der Mädchen in die Strömung der Ems zu setzen. Die am Ufer liegende Kleider hängten wir am rostigen Stacheldraht eines Weidezaunes auf. Mit solchen groben Unfeinheiten ärgerten wir die Mädchen. Diese liefen spärlich bekleidet und zum Teil barfuß nach Hause. Aus Rachen ließen sie uns dafür die Luft aus den Fahrradreifen. Nur Hannelore, die Tochter von Karl-Werner, rannte schnurstracks zum elterlichen Hof und beschwerte sich bei ihrem Vater über unser Verhalten. Bald tauchte Karl-Werner auf. Wir Jungen wussten, mit ihm war nicht zu spaßen. Fluchtartig verließen wir die Fluten. Zu meinem Unglück musste ich dem zornig herbeieilenden Karl-Werner entgegenlaufen, um zu meinem Rad zu kommen. Obwohl beide Reifen platt waren, versuchte ich auf dem Rad zu entkommen. Er bekam mich zu fassen.

Dass man bei Streichen und kleinen Obstdiebereien vom Nachbarn eine »hinter die Löffel bekam«, gehörte zum Erziehungsstil der damaligen Jahre. Eine Beschwerde bei den Eltern führte dann oft zu einer zusätzlichen Ohrfeige. Also vermied man Beschwerden.

 Karl-Werner gab mir keinen »hinter die Löffel«. Er schlug mich zusammen. Das Letzte, was ich auf dem Boden gekrümmt wahrnahm, war mein Fahrrad, das er mit Wucht auf mich niederwarf.

Erst im Krankenhaus Lingen kam ich wieder zu mir, als mein Vater mit seiner »Leica« Aufnahmen von den Verletzungen machte. Er erstattete Anzeige wegen Misshandlung eines Kindes bei unserem »Dorfwachtmeister«. Der wollte die Anzeige nicht aufnehmen. Zu mächtig war der Name Schulze-Kleinekötter. Doch diesmal sollte mein Vater nicht schweigen. Er suchte einen Rechtsanwalt in Lingen auf. Eine Anzeige erfolgte, die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen Karl-Werner Schulze-Kleinekötter. Vor dem Amtsgericht kam es zur Verhandlung, es wurde mir ein Schmerzensgeld von 1.500,– DM zuerkannt und Karl-Werner zu dreißig Tagessätzen verurteilt. Finanziell tat ihm das nicht weh, aber mein Vater hatte mit Erfolg Haltung gezeigt.

 

Die Geschichte hatte ein Vorspiel. Mein Vater, Studienrat für Latein und Gesellschaftslehre am Kreisstadt- Gymnasium, lag schon seit den letzten Kriegsmonaten im Jahre 1944 mit diesem Mann quer. Und das kam so:

Die Bombergeschwader der Alliierten flogen über unser Dorf in Richtung Hannover, Wolfsburg, Braunschweig und später auch Berlin, um dort ihre Bombenlast abzuwerfen. Auf dem Rückflug nahmen sie den gleichen Weg. Von den Bombenabwürfen blieben wir weitgehend verschont. Doch ab und zu entledigte sich eine dieser »fliegenden Festungen« einzelner, nicht zum Einsatz gekommener Bomben über unserem spärlich besiedelten Gebiet. Sie mussten Gewicht und somit Sprit zu sparen, damit sie ihre Flugplätze in England sicher erreichen konnten. Wir hatten keine Luftschutzbunker wie in den großen Städten, sondern suchten Schutz in den umliegenden Waldgebieten. Als Kinder verfolgten wir dieses Schauspiel mit wohligem Grusel. An diesem Tag hatte ich mich in großer Neugier auf das Feld gewagt, um mehr von dem Spektakel mit zu bekommen. Ein Bombengeschwader flog tief über mich hinweg, gefolgt von mehreren Jagdfliegern. Eine Spitfire fiel mit stotterndem Motor zurück.

Ich wurde Zeuge, wie der Pilot aus seiner Maschine sprang. Er hing lange an seinem Schirm in der Luft, während die Spitfire auf den Weiden zerschellte. Ich wollte gerade loslaufen, um Hilfe zu holen,  als ich den damals noch junge Karl-Werner Schulze-Kleinekötter sah. Mit seinem Jagdgewehr in der Hand, rannte er auf den zur Landung kommenden Piloten zu. Bevor dieser sich von seinem Schirm befreien konnte, legte Karl-Werner zum Schuss an.

Verstört rannte ich nach Hause und berichtete meiner Mutter, was ich gesehen hatte. Ich spüre noch heute, wie sich ihre Hand auf meinen Mund legte. Sie nahm mir mit aller Nachdrücklichkeit das Versprechen ab, niemanden, aber auch gar niemanden von diesem Vorfall zu erzählen. Was »Haager Landkriegsordnung« bedeutet, konnte ich im Alter von sechs Jahren nicht wissen. Nur diesen Begriff, den ich aus dem Gespräch meiner Eltern vernahm, hat sich mir bis auf den heutigen Tag eingeprägt. Heute weiß ich ihn mit Inhalt zu füllen.

 

Als unser Pfarrer die Worte »Staub zu Staub, Erde zu Erde und Asche zu Asche« sprach und die kleiige Erde auf den Sarg polterte, war ich mir sicher. Ich konnte mein Wissen um den Mord an dem englischen Piloten nicht länger für mich behalten.

Das Brechen meines Schweigens würde die dominierende Stellung der Familie Schulze-Kleinekötter durchbrechen. Ich würde verhindern, dass Hannelore im Stile ihres Vaters die Region weiter beherrschte.

 

»Denn der Herr wird die Schuld der Väter heimsuchen an den Kindern………..(Ex. 20.5,6). Wie gesagt: Mord verjährt nicht.