Von Mona Ullrich
Agnes lief in der Sonne. Wegen der großen Hitze trug sie nur eine leichte rote Weste, die Taschentücher und Geld und Zigaretten enthielt. Sie musste immer wieder die Brille von ihrem schweißnassen Gesicht nehmen und putzen, damit sie gut genug sah.
Sie lief schnell und fühlte sich dabei wie ein fliegender Vogel. Die Straße Unter den Eichen entlang, ein lustvoller Flug auf dem breiten Fußgängerweg. Sie hätte das noch zwei Stunden machen können. Sie hatte nicht das Bedürfnis nach Rast, nach einer Zigarette.
Sie lief weg von einem Leben, in dem sie gelitten hatte. Es war ein gutes, aber ständig gefährdetes Leben gewesen. Eine schwere Erkrankung hatte sie von Daniel, ihrem Liebsten, abhängig gemacht. Sie hatte nicht allein aus dem Haus gehen können, nur an Daniels Arm, und Daniel hatte auch eingekauft und geputzt.
Dann musste er aus beruflichen Gründen für zwei Tage verreisen, und Agnes war entsetzt. Was sollte da aus ihr werden? Sie brauchte Daniel doch! Sie weinte und bettelte, aber Daniel sagte: „Ich muss da hin. Das bin ich meinen Mitarbeitern schuldig. Es geht um die Zukunft unseres Projekts.“
Agnes hatte Angst. Das ist kein Zustand, in dem es sich aushalten lässt. Sie brach aus. Sie nahm sich ein Zimmer in einem Hotel und beantwortete Daniels Anrufe nicht. Sie konnte ihm nicht verzeihen.
Sie brauchte viel Zeit für den Alltag, selbst für das Kämmen, aber sie kam zurecht. Sie freute sich morgens auf das Frühstück am Hotelbüfett. Sie entspannte sich.
Sie war also nicht mehr abhängig? Nicht mehr verletzlich?
Sie beschloss, diesen Zustand zu halten und auszuweiten. Sie kaufte sich ein neues Kleid, sie ging allein spazieren, sie besuchte Bars und Kinos.
Und sie trieb Sport. Das kam ganz unauffällig in ihr Leben. Sie ging auf ihren Spaziergängen sehr rasch, und eines Tages hoben sich ihre Füße weiter vom Boden, streiften ihn nur noch, und sie flog. Das war wie im Traum.
Seither lief Agnes. Seither schien ihr ihr Name, auf den sie stolz war, endlich zu passen: Agnes Frey.
Einen Mann wie Daniel wird man nicht so leicht los. Daniel wollte immer wieder wissen, wie es ihr ging- sie war doch seine Liebste! Er schickte ihr eine wunderschöne Kunstpostkarte mit einem für sie ersonnenen Gedicht.
Eine Frau wie Agnes ist empfänglich für Liebe. Sie bewahrte das Gedicht in der Schachtel auf, die alle ihre wertvollen Besitztümer enthielt, auch mehrere Gedichte von Daniel. Sie rief bei ihm an und bedankte sich.
Daniel besuchte sie in ihrem Hotel und ließ sich Zimmer und Frühstücksraum zeigen. Er sah sie immer wieder an, als erkenne er sie nicht wieder. „Vielleicht bist du erst jetzt ganz gesund!“ meinte er.
Da dachte sich Agnes, sie könne das teure Hotelleben aufgeben und wieder bei Daniel einziehen. Sie nahm sich fest vor, künftig auf ihre Selbständigkeit zu achten. Sie würde laufen, sie würde arbeiten, sie würde für sich selbst einkaufen.
Daniel freute sich so, dass er sie mit einem Rosenstrauß neben ihrem Bett empfing. Ein großartiges Zeichen der Liebe. Sie tat auch eine von den Rosen in ihre Schachtel. Aber sie wusste, dass sie diese Begrüßung sowieso nie vergessen würde.
Den ganzen Vormittag verbrachte Agnes mit Laufen und irgendwelchen Alltäglichkeiten. Nachmittags saß sie an ihrem Schreibtisch über ihrem Roman, bis Daniel heimkam. Dann aßen sie, und Agnes legte Wert darauf, ihr Essen selbst zu richten.
Einige Monate vergingen so. Der Sommer kam und war hell und heiß. Agnes lief weiter. Sie ließ sich nicht von ihrem Sport abbringen. Das Laufen war für sie Beginn und Zeichen ihrer Selbständigkeit gewesen.
War sie wirklich gesund? Sie konnte die Hitze gut aushalten. Sie fühlte sich wohl.
Aber da war etwas, das war stärker als sie. In den ersten Tagen des September wurde sie, wenn sie eine von Berlins breiten Straßen überqueren musste, immer wieder von Schwindel befallen, so dass sie kaum noch voran kam. Es war entsetzlich. Der Schwindel saß in ihrem Kopf, in ihren Schläfen. Sie versuchte sich selbst zu überreden, weiterzulaufen, aber irgendwann ging es nicht mehr. Ihr grauste vor diesem Schwindel.
Sie musste Daniel gestehen, dass sie wieder krank war. Daniel sagte tröstend: „Dann gehen wir eben zusammen.“
So kam es, dass Agnes wieder an Daniels Arm ging. Sie hielt sich fest. Sie war wieder abhängig, denn ohne Daniel wäre sie nirgends mehr hingekommen.
Sie musste jeden Tag auf den Abend und seine Heimkehr warten, denn nur dann hatte er Zeit für einen Spaziergang.
Sie hatte auf einmal viel Zeit. Wenn Daniel das Haus verlassen hatte, setzte sie sich in ihren Lieblingssessel mit einem wärmenden selbstgehäkelten Tuch um die Schultern und rauchte. Sie stellte fest, dass dieser Zustand etwas Besonderes war. Sie war nicht unglücklich, und sie wünschte sich nicht ihre verlorene Freiheit zurück.
Sie hätte nicht sagen können, warum sie so ruhig war. Sie war ganz weich und abwartend.
Dann kam der Drang zu schreiben. Sie wusste noch nicht was. Sie begab sich an ihren Schreibtisch, räumte den Roman beiseite und setzte ein paar Worte auf das Papier. Es folgten weitere Worte. Mehrere kurze Texte entstanden so. Sie ließ sie liegen und rauchte.
Als sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, stellte sie überrascht fest, dass sie Gedichte geschrieben hatte. Und dass sie etwas Besonderes waren. Was hatte da aus ihr gesprochen?
Sie überarbeitete die Texte und formte mit ihrer Hand Bilder und Gedanken. Sie versank tief in der Welt der Dichtkunst.
Sie hatte immer geglaubt, sie könne nur Romane schreiben. Sie hatte sich getäuscht. An diesen Herbstmorgen entstand eine ganze Mappe voller Gedichte. Sie schrieb auf die Mappe: „Freiheiten. Von Agnes Frey.“
Als diese Arbeit mit einem großen und klangvollen Gedicht auf einen Mörder und sein Schicksal beendet war, gab sie die Mappe Daniel zu lesen.
Daniel war ihr Testleser. Trotz seiner großen Gutmütigkeit war er streng, wenn es um Geistiges ging. Dass Daniel ihre Gedichte mochte, war eine wichtige Bestätigung.
„Was wohl mit mir war?“ fragte sie ihn. „Mir ist, als hätte mich ein Gott beim Knöchel gepackt und hingeworfen, damit ich meine Freiheit gegen diese Gedichte eintausche.“