Von Ingo Pietsch

„Mir ist so langweilig!“ Ina streckte sich und stieß dabei ihre Freundin Jessica an, die neben ihr auf dem Bürgersteig und mit ihrem Handy spielte.

Die Sonne brannte vom Himmel und die Straße war wie leergefegt.

„Wir sollten lieber in den Schatten gehen“, meinte Jessica, die wie immer und bei jedem Wetter ihren viel zu großen Bundeswehrparka trug.

Ina spielte mit ihren akkurat geflochtenen Zöpfen, tat so, als seien es Propeller und wedelte sich Luft zu. „Ja, du hast recht.“ Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. „Schau mal, da kommt Frederik!“

Frederik watschelte auf die beiden zu. Er ging mit ihnen in die gleiche sechste Klasse und außerdem waren sie die einzigen gleichaltrigen in der Straße. Frederik war für sein Alter stark übergewichtig. Er hatte es den Mädchen zwar erklärt, aber sie hatten nur verstanden, dass bei ihm irgendeine Drüse defekt war.

Er trug eine Baumwolltragetasche bei sich und schwitzte genauso wie seinen Freundinnen bei der extremen Hitze.

Er warf seinen Schatten auf die beiden, als er angekommen war und sagte: „Warum sitzt ihr eigentlich in der Sonne?“

„Wissen wir auch nicht. Wir haben uns irgendwann hier hingesetzt und sind ein wenig dösig geworden. Warte mal, vorhin war hier noch Schatten gewesen“, Ina nickte dem Baum auf der anderen Straßenseite zu.“

„OK. Ich habe euch ein paar Knabbersachen und Trinkpäckchen mitgebracht.“

Ina und Jessica packten die Verpflegung aus und machten sich darüber her.

Jessica hielt ihm auch ein Päckchen hin, doch Frederik schüttelte den Kopf.

„Warum bekommst du das ganze Zeug, wenn du es eh nicht isst oder trinkst?“, wollte sie wissen.

Frederik musste grinsen: „Gerade deswegen. Meine Eltern wissen ja, dass ich das Zeug nicht anrühre und für euch kaufe.“

Ina schlürfte ihr Trinken leer: „Du weißt aber schon, dass wir auch so mit dir befreundet sind?“

Frederik wurde rot und wirkte auf einmal etwas unbeholfen, als er umhertänzelte.

„Ja, schon, aber ich bin anders als ihr.“ Er zeigte auf seinen Körper.

Jessica winkte ab: „Und was ist mit uns?“ Sie trug unter ihrem Parker ein weißes, schmuddeliges T-Shirt, Hotpants, zerschlissene Strumpfhosen und Springerstiefel, an denen die Schnürsenkel herunterbaumelten. Ihr Vater war Offizier bei der Bundeswehr und ihre Mutter hatte sie verlassen, weil er es mit seinem Pflichtbewusstsein übertrieben hatte. Das war ihre Art ihm zu zeigen, dass sie ihn hasste. Obwohl sie ihn eigentlich mochte.

Ina war das genaue Gegenteil, Bluse, Rock, Glanzlackschuhe. Alles farblich aufeinander abgestimmt. Auch Ina hasste ihre Eltern dafür, aber sie liebte sie auch, weil dafür, dass sie sich ihnen fügte, alles bekam, was sie wollte.

„Gut, akzeptiert“, meinte Frederik, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte. „Was machen wir jetzt?“ Er balancierte mit seinen großen Füßen auf der Bordsteinkante.

Jessica lächelte: „Kannst du das auch auf der Mauer da hinten?“

Frederik drehte sich um: „Klar.“

Die drei gingen auf die andere Straßenseite.

Frederik hatte Mühe die brusthohe Mauer zu erklimmen. Ina und Jessica kletterten hinterher.

Mit ausgebreiteten Armen schritten sie sie entlang und sprangen am Ende hinunter.

„Das hat echt Spaß gemacht, war aber echt keine Kunst“, sagte Ina und die anderen nickten. Sie sahen sich weiter um, worauf man balancieren könnte.

„Auf dem Spielplatz gibt es doch einen Kletterturm mit einem Schaukelgestell dran.“

Also liefen sie zum Ende der Straße.

In einer Sandkuhle stand der Turm nebst Rutsche.

Der Querbalken der Schaukel hing in gut zwei Meter Höhe und war vom Turm gut zu erreichen. Frederik zögerte, erklomm den Turm aber dann doch als Letzter.

Während Ina schon bei der Hälfte angekommen war, kletterte Jessica gerade umständlich über das Geländer. Sie schaute zurück und erblickte einen bleichen Frederik, der sich an einen Holzbalken klammerte.

„Du musst das nicht machen. Wir halten dich auch nicht für einen Feigling.“ Sie lächelte ihn an und er zog eine Grimasse und nickte. Er nahm die Rutsche, in die gerade so hineinpasste und kam zusammen mit Jessica auf dem Boden auf, die vom Ende des Balkens gesprungen war.

Ina boxte ihn an die Brust: „Ist doch nicht schlimm, ich kann zum Beispiel nicht schwimmen.“ Sie lachte dabei, schaukelte ein paar Mal und sprang dann in hohem Bogen in den Sand.

Sie liefen noch ein paar Runden um den Turm, lachten ausgelassen und Frederik verteilte Süßigkeiten.

„Und jetzt?“, wollte Ina wissen.

Jessica kratzte ihr Kinn. „Was haltet ihr von der Eisenbahnbrücke?“

Inas Augen leuchteten vor Aufregung und Frederiks weiteten sich wegen seiner Höhenangst.

 

Die Eisenbahnbrücke war fußläufig ungefähr zehn Minuten entfernt.

Sie führte über ein ausgetrocknetes Flussbett mit vielen spitzen Steinen und Findlingen, in dem sich noch ein kleiner Bach schlängelte.

Die Brücke war gut zweihundert Meter lang und das Flussbett ungefähr sechs Meter tief.

Frederik spähte die Böschung hinab und setzte sich auf einen Baumstamm. „Meine Eltern haben mir sowieso geboten, ich solle mich von den Schienen fernhalten. Habt ihr keine Angst, dass ein Zug kommt?“

Jessica winkte ab: „Der Güterzug fährt nur alle paar Tage und die Museumseisenbahn nur am Wochenende. Heute ist Donnerstag, also keine Panik!“

Frederik nickte nur und die Mädchen gingen auf den Schienen zum Brückengeländer.

Wenn ein Zug kommen sollte, wäre da nicht viel Platz zwischen Schienen und Geländer.

Jessica stieg als erste hoch. Der Handlauf war breit genug, um darauf zu laufen. Ina schritt neben ihr her, sprang von einer Schwelle zur nächsten und achtete dabei auf Jessica, dass sie nicht das Gleichgewicht verlor.

Frederik konnte gar nicht mitansehen, was die Mädchen da trieben. Er zog sein Handy aus der Tasche und begann sie zu filmen. Er lag halb auf einem warmen Felsbrocken und genoss den Schatten, den Büsche und Bäume zu beiden Seiten der Bahntrasse warfen.

Mit einem Mal begann der Boden zu vibrieren.

Die beiden Mädchen waren schon wieder auf dem Rückweg und ungefähr in der Mitte der Brücke. Ina balancierte jetzt und Jessica passte auf.

Ein rumpelndes Geräusch näherte sich Frederik, dem allmählich dämmerte, was gerade geschah.

Er steckte sein Handy weg, schrie und ruderte wie wild mit den Armen.

Ina und Jessica hielten inne und schauten auf, was Frederik von ihnen wollte.

Da ertönte das Signalhorn der Lokomotive.

Jessica wollte Ina von der Brüstung helfen, doch einer ihrer losen Schnürsenkel verfing sich an einer Schraube. Sie stolperte und stieß Ina vom Handlauf. Gerade noch konnte Jessica Inas Hand ergreifen und krachte mit dem Oberkörper gegen das Metall. Der Aufprall presste ihr die Luft aus der Lunge und sie sah Sterne. Aber sie hielt Ina ganz fest, die jetzt über dem Abgrund baumelte.

Jessica bekam ihren Fuß nicht frei und die Schmerzen in ihren Gelenken wurden unerträglich.

Sie schaffte es mit der anderen Hand Ina ebenfalls festzuhalten, was ein wenig das Gewicht verteilte.

 

Währenddessen wurde Frederik fast von dem Windstoß umgeworfen, als eine riesige Diesellok an ihm vorbeijagte.

Gefühlte unendlich viele Waggons folgten der Lok mit lautem Rattern.

Wieder ertönte das Signalhorn.

Frederik rannte zurück zur Böschung, um besser sehen zu können, was gerade passierte, aber die Brücke beschrieb einen leichten Bogen und der Zug versperrte ihm die Sicht.

 

Jessica hing immer noch fest. Sie zerrte und drehte ihren Fuß, doch der Stiefel war wie angegossen.

 

Frederik war in die Knie gegangen und begann zu weinen. Was sollte er nur zuhause erzählen?

 

Jessicas Hände waren schweißnass und sie konnte Ina nicht mehr lange halten.

Sie sah die Diesellok auf sich zuschießen, wie eine Pistolenkugel. Zwischen Schienen und Brüstung war nicht genug Platz. Und selbst wenn, würde sie mindestens ihren Fuß verlieren und Ina in den Tod stürzen.

 

Frederik schlug die Hände vors Gesicht, als ihn der letzte Waggon passiert hatte.

Er flehte, dass alles in Ordnung war. Dann sah er auf und entdeckte, dass Jessica und Ina verschwunden waren.

Trotz seiner Höhenangst ging er langsam zu der Stelle, wo er die beiden zuletzt gesehen hatte.

Von weitem erkannte er den zerfetzten Springerstiefel von Jessica.

Er lief schneller und hob die Reste vom Boden auf.

„Nein!“, schrie er, dass es nur so widerhallte.

„Was schreist du denn so laut?“, hörte er Jessicas Stimme neben sich, jenseits der Balustrade.

Jetzt erst bemerkte er die Finger, die sich am Handlauf festkrallten.

„Hilfst du uns vielleicht mal?“, fragte Ina energisch.

Er half den Mädchen zurück auf die Brücke.

„Ihr lebt!“, sagte Frederik immer wieder.

„So schnell bringt uns keiner um“, meinte Ina und sah an sich herunter. Ihre Kleidung war verdreckt und zerrissen. „Eventuell nur meine Eltern.“

Alle drei lachten erst verhalten und dann immer lauter.

Sie umarmten einander und schworen, dass sie dieses Geheimnis für sich behalten würden.

Und auf Mutproben würden sie auch in nächster Zeit verzichten.