Von Uta Lemke

Annas Kunstgalerie war für ihren guten Geschmack landesweit berühmt. Auch wenn sie nicht gerade die bekanntesten Künstler beherbergte, war sie doch eine Sammlung von berührenden Gemälden, eines schöner als das andere.

Andere Galeristen verkauften auch einige der Ausstellungsstücke, schließlich konnte man von den spärlichen Eintritten allein nicht leben, aber Anna hätte lieber unter einer Brücke wohnen wollen, als eines ihrer Bilder zu verkaufen.

Oft streifte sie durch die endlos erscheinenden Gänge der Galerie und beantwortete mit einer ansteckenden Begeisterung die Fragen ihrer Gäste.

Wenn man sie fragte, was denn nun ihr Lieblingsstück wäre, dann zögerte sie nicht eine Sekunde. Sie murmelte ein verschwörerisches „Folgen Sie mir“ und bestieg die Wendeltreppe, die sich in der Mitte der Galerie befand.

Und ganz am Ende dieser Wendeltreppe hing ein einzelnes Bild. Seine Größe ließ sich schon fast als spärlich bezeichnen, kaum eine DIN-A-4-Seite groß. Aber was die Besucher am meisten verwirrte, war das Bild selbst.

Der exzellenten Auswahl an Ausstellungsstücken zu urteilen hatte Anna einen wirklich guten Geschmack, über den sich kaum streiten ließ. Aber dieses Bild? Konnte man es überhaupt als Kunst bezeichnen? Sicher, in der Epoche der abstrakten modernen Kunst schien alles möglich. Aber das war kein Werk, wie es ein besonders zeitgeistorientierter Künstler gemalt hätte. Es war ein Kinderbild.

Ein paar Abdrücke von in Fingerfarbe getauchten Kinderhänden und darauf ein das ganze Bild einnehmender Smiley.

Die Reaktion der Leute war ganz unterschiedlich. Manche versuchten es mit einem verständnisvollen Lächeln, welches Anna meist als „Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie verrückt sind.“ auffasste. Andere lachten gezwungen und meinten dann: „Guter Scherz. Aber was ist nun Ihr Lieblingsstück?“
Aber die Reaktion, die Anna am liebsten sah, war ein Ausdruck vollkommener Verblüffung im Gesicht und dann die Frage: „Warum?“
Sicher, es war ebenfalls keine positive Reaktion. Aber es gab Anna die perfekte Gelegenheit, um ihre Geschichte zu erzählen:

„Als ich die Nachricht bekam, war ich am Boden zerstört. ‚Trisomerie 21‘, sagte die Ärztin und schaute mitleidig auf meinen Schwangerschaftsbauch. Sie sagte noch ein paar Sätze, aber ihr Sprechen wurde zu einem Rauschen in meinen Ohren. Meine Gedanken kreisten panisch.

Die Diagnose kam wie ein Schlag ins Gesicht. Mein Kind war nicht kräftig und gesund, wie ich mir das in meinen Zukunftsträumen ausgemalt hatte. Bevor es überhaupt geboren war, hatte man es als behindert eingestuft. Nicht alleine lebensfähig. Es würde sein ganzes Leben lang auf meine Hilfe angewiesen sein.

‚Jetzt kann es ja gar nicht mehr schlimmer kommen.‘, dachte ich. Aber wie falsch ich mit diesem Gedanken lag, sollte mir in den kommenden Wochen schmerzlich bewusst werden.

Es fing damit an, dass ich mir eine zweite ärztliche Meinung einholen wollte. Man kann ja nie sicher sein bei solchen Diagnosen. Aber auch der zweite Arzt bestätigte die Diagnose meiner Frauenärztin. Und dann sagte er einen Satz, diesen einen gefährlichen Satz, den keine werdende Mutter jemals in ihrem Leben hören will: ‚Vielleicht sollten Sie darüber nachdenken, ob Sie dieses Kind überhaupt austragen wollen.‘

Ich brach in Tränen aus. Ich konnte gar nicht anders. Ich verstand die Welt nicht mehr. Nicht nur sollte es mir nicht vergönnt sein, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen, jetzt wollte man mir dieses ungeborene Leben schon vorher wegnehmen. Wutentbrannt und entsetzt stürmte ich aus dem Sprechzimmer.

Aber bei diesem Vorfall sollte es nicht bleiben. Als ich mich an meine langjährige beste Freundin wandte und ihr mein Leid klagte, sagte sie ganz vorsichtig und leise, als wollte sie es eigentlich gar nicht sagen: ‚Ich weiß es erscheint dir furchtbar ungerecht und grausam, aber willst du das dir und dem Kind wirklich antun? Wäre es nicht besser, es gar nicht so weit kommen zu lassen?‘

Ich habe jahrelang kein Wort mehr mit ihr geredet. Ich konnte allein den Gedanken nicht ertragen.

Ich suchte Rat bei fremden Menschen, in der Hoffnung, sie hätten vielleicht eine gegenteilige Meinung. Stattdessen fand ich Artikel darüber, wie Kinder mit Down-Syndrom noch stärker diskriminiert werden seit es die pränatale Diagnostik gibt, mit dem Vorwurf, die Eltern hätten ja abtreiben können.

Anfangs war ich so entsetzt über diese Idee, dass es mir gar nicht in den Sinn kam, danach zu handeln. Doch nach und nach bekam ich Bedenken. Würde ich überhaupt in der Lage sein, mich lebenslang um ein behindertes Kind zu kümmern? Würde ich nicht schon an der Erziehung scheitern? Was, wenn die Behinderung im schwersten Grade auftrat? Wenn das Kind nicht mal in der Lage sein würde, ein Bild zu malen?

Die Zweifel bauten sich immer mehr auf und ich wäre zusammengebrochen und hätte getan, was sie alle von mir zu erwarten schienen, wäre da nicht der Vater meines Kindes gewesen. Er schien mir die einzige Gegenstimme zu allen Kritikern zu sein, aber es reichte. Ich druckte mir das Ultraschallbild auf einer DIN-A-3-Seite aus und hing es an die Wand unserer Küche. Und jeden Morgen, wenn ich es sah, versuchte ich ein Lächeln. Versuchte, zu hoffen, mich zu freuen. Schließlich war es immer noch ein Leben. Vielleicht kein ’normales‘ Leben, aber etwas lebte in mir und es würde das Licht der Welt erblicken.

Ein paar Monate später war es so weit. Ich sah auf das Bündel in meinem Arm und ein kleines Gesicht mit großen blauen Augen lachte mich an. Ich spürte seine Wärme, das Leben in ihm und beschloss, dass dieser Moment alles Schlimme wett machte, was noch kommen würde.

Zuerst war es einfach, zu vergessen, dass mein Kind nicht normal aufwuchs. Es lernte, durch die Gegend zu kriechen, es lernte, Dinge anzufassen und in den Mund zu nehmen, es lernte herumzukrabbeln und es lernte, seine ersten Wörter zu sprechen. Nur, wenn ich es mit anderen Kindern seines Alters verglich, merkte ich, wie langsam es sich entwickelte. Während die anderen Kinder schon mit dem Buntstift in der Hand am Tisch saßen und Strichmännchen malten, saß mein Kind in seinem Gitterbett und haute auf einem Kissen rum.

Manchmal sahen die anderen Eltern mich mitleidig an und ich hörte ihre gemurmelten Gespräche. Und immer mal wieder fiel das Wort ‚abtreiben‘ und es jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Aber irgendwie schafften wir es doch durch den Kindergarten und als mein Kind dann endlich in eine Schule kam, wo es nicht allein unter nichtbehinderten Kindern sein würde, war ich fast so erleichtert wie zu seiner Geburt. Endlich würde es nicht mehr als ‚das Zurückgebliebene‘ gelten. Endlich akzeptiert werden. Und endlich würde ich Eltern kennenlernen, die mich nicht mitleidig anschauten, sondern solidarisch.

Natürlich wurde es nicht so einfach. Mein Kind hatte immer noch große Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Kinder können grausam sein, egal ob behindert oder nicht. Mehr als nur einmal hielt ich mein weinendes Kind in den Armen, weil seine Klassenkameraden sich mal wieder darüber lustig gemacht hatten, dass es immer noch keinen Stift halten konnte.

Und wenn ich durch die Räume meiner Galerie wanderte und mir die wunderschönen Kunstwerke darin ansah, wurde auch mir bewusst, dass mein Kind keine Chance hatte, ein Künstler zu werden wie seine Mutter.

Aber manchmal nahm ich mein Kind mit und manchmal zeigte es auf ein Bild und sagte: ‚Blume‘ oder ‚Mensch‘ und grinste fröhlich und dann merkte ich, dass, auch wenn es nie Kunst produzieren würde, ein Künstler war es dennoch.

Es war erst 12 Jahre alt, als es passierte. Es war Winter und ich hatte nicht aufgepasst. Ja, ich mache mich immer noch dafür verantwortlich, wer würde das nicht? Ich hatte mein Kind draußen spielen lassen, mit dem Nachbarskind. Sie hatten eine Menge Spaß, rollten im Schnee herum und machten Schneeengel. Fasziniert von ihrem Spielen bemerkte ich nicht, wie lange sie schon im Garten waren. Es kam, wie es kommen musste: Mein Kind bekam eine Lungenentzündung und musste ins Krankenhaus.

Dann kam der Moment, den ich mir eigentlich schon immer gewünscht hatte, aber nun hatte er irgendwie einen bitteren Beigeschmack. Mein Kind fragte nach Farben und einem Blatt Papier. Es hatte nie etwas gemalt, nie hatte es sich getraut. Zu groß die Angst, die anderen Kinder könnten sein Bild auslachen.

Die Krankenpfleger waren nicht besonders begeistert, aber ich konnte sie dann doch überzeugen, die Fingerfarben aus der Kreativwerkstatt zu holen. Und dann fing es an, patschte mit den Händen in die Farbe und dann aufs Papier und trotz seines geschwächten Zustandes brachte es ein breites Lächeln zustande. Als das Blatt fast vollständig mit seinen Handabdrücken gefüllt war, deutete es auf den Bleistift, der auf dem kleinen Betttischchen stand und dann auf mich. ‚Mal was da drauf.‘, sagte es mit röchelnder Stimme.

Mit einem Blick auf sein wunderbares Lächeln beschloss ich, das erste zu malen, was ich jemals gemalt hatte in meinem Leben: einen einfachen Smiley. Und dann hörte ich die schönsten Worte meines Lebens: ‚Schenk ich dir, Mama.‘

Zwei Wochen später standen wir um einen Sarg herum. Ja, es war nur eine Lungenentzündung. Aber der Körper meines Kindes war nicht stark und die Lungenentzündung schon. Wir haben verloren. 12 Jahre später als andere Menschen mir vorhergesagt hatten, aber jetzt war es trotzdem vorbei. Und es fällt mir unheimlich schwer, das zu akzeptieren, vor allem, weil es meine Schuld ist.

Aber immer wenn ich mir dieses Bild angucke, das erste und letzte was es jemals gemalt hat, dann weiß ich, dass zumindest mein Kind seinen Frieden geschlossen hat. Es hat mir nicht die Schuld gegeben an seinem frühen Tod. Sonst hätte es mich nicht an seinem einzigen Kunstwerk teilhaben lassen. Dieses Bild wird für mich immer ein Symbol der Freude sein. Auch wenn alle Zeichen dagegen sprachen, ist mein Kind doch ein Künstler geworden.

Ja, die Sammlung seiner Werke ist nicht besonders groß, und die meisten Leute würden die Schönheit in seinem Gemälde nie erkennen. Niemand außer mir wird es überhaupt als Kunst bezeichnen.

Aber für mich ist es das schönste Kunstwerk, was je geschaffen wurde.“