Von Andreas Schröter
Eine Millisekunde, nachdem ich probeweise mein rechtes Auge einen äußerst schmalen Spalt weit geöffnet hatte, bereute ich diese Aktion bereits. Sonnengott Helios musste nur auf diesen Moment gewartet haben, um mir seinen gleißend hellen Lichtstrahl quer durchs Auge mitten ins Hirn zu schießen – wo er explosionsartige Schmerzen hinterließ.
Wo war ich? – aber was noch wichtiger war: Wer war ich?
Konnte es sein, dass wir gestern unser „Kanalratten-Treffen“ hatten? Also das jährliche Treffen von sechs alten Schulfreunden, die sich damals bescheuerterweise „KaKa – die kanariengelben Kanalratten“ genannt hatten? Aber warum in meiner Wohnung, in der ich mich – vielleicht – befand?
Gewappnet für Helios‘ Angriff, wagte ich es etwa zwei Stunden später erneut, ein Auge zu öffnen. Der Zorn dieses bestimmten Gottes hatte offenbar etwas nachgelassen, sodass ich auch das andere Auge öffnete. Der Anblick, der sich mir bot, war – nun ja – unschön. Mein Wohnzimmer, auf dessen Teppich ich wohl lag, war übersät mit leeren Bierflaschen. Einige waren zu Bruch gegangen und hatten sich in dutzende scharfkantige Scherben verwandelt, die jemand in alle Winkel des Raums gekickt haben musste. In der Spüle, die ich von meinem Standort – nein, „Liegeort“ – ebenfalls sehen konnte, türmten sich die Teller, zum Teil mit (großen) Lebensmittelresten. Und weil ich gar nicht geplant hatte, meine Freunde vom Ratsstübchen noch zu mir nach Hause zu bitten, hatte ich auch vorher nicht groß saubergemacht – mit der Folge, dass man nun am Schimmelgrad auf dem Geschirr ablesen konnte, welche Teller am längsten dort standen. Es gab außerdem leere und halbleere Chipstüten und etwas, das aussah wie Pizzabelag. Aber warum klebte er an meinem Fernseher? Und was war das für ein bräunlich-beiger Fleck auf dem Boden neben der Tür? Etwa Kotze?
Fragen über Fragen, und hier gleich noch eine: Wo waren die verdammten anderen Kanalratten? Hatten sich wohl vom Hoff gemacht, als sie gemerkt hatten, in welchem Zustand die Wohnung war. War ja klar. Vielleicht wurde es Zeit, sich andere Freunde zu suchen.
Fast noch mehr als der Zustand der Wohnung – dagegen konnte man die Augen zumachen – störte mich das Getrappel in der Wohnung über mir. Dann fiel mir ein, dass heute der „Sehtag“ war, eine Art Tag der offenen Tür für alle kleinen – und Möchtegern-Künstler in unserem Ort. Und in dem Haus, in dem ich eine Mietwohnung bewohnte, gab’s gleich zwei von diesen Verrückten. Die Frau über mir drehte sich sieben Mal im Kreis (genau sieben Mal, weil das ihrer Ansicht nach eine „magische Zahl“ war), sodass sie jegliche Orientierung verlor, schaffte es in diesem Zustand aber trotzdem noch, einen Riesenpinsel in einen Farbeimer zu tauchen, hielt ihn in die Luft und drehte sich weiter. Das Ergebnis: Farbklekse in der Größe von Kuhfladen verteilten sich in ihrer Wohnung. Sie wolle damit die Kunst ihrer Intellektualität und Kopf-Bezogenheit berauben, hatte ich einmal in einem Artikel über sie in der Zeitung gelesen, und ihr Entstehen ganz einem „Akt der Unkontrolle überantworten“. Wie krank im Kopf kann man sein, hatte ich damals gedacht. Aber ich sah die Männer mit ihren Hüten und Schals und die Frauen mit ihren hennarot gefärbten Haaren vor meinem geistigen Auge durch die Wohnung dieser „Künstlerin“ tapsen und ihre gekünstelten Ohs und Ahs ausstoßen. Vor allem hörte ich sie.
Das war nichts für mich. Ich musste hier raus, wie mir auch meine anschwellenden Kopfschmerzen klarmachten. Zumal es Zeit fürs Frühstück wurde. Ich korrigierte mich nach einem Blick auf die Uhr: fürs Mittagessen. Es war drei Uhr nachmittags.
Im Hausflur traf ich exakt die Typen, an die ich vorher gedacht hatte. Sie wollten nicht nur zu der Frau über mir, sondern auch zu meinem direkten Nachbarn, dem zweiten „Künstler“ in unserem Haus. Der bastelte Schmetterlinge, packte sie in einen Glasrahmen und stellte sie in seiner Wohnung aus. Das Besondere daran war jedoch das Material, mit dem er die lieblichen Tierchen fertigte: seine eigenen Schamhaare. Irgendwann hatte er mich mal gefragt, ob ich bei der Gewinnung seines Rohstoffes zugegen sein wolle. Wollte ich definitiv nicht. Die Zeitung meinte dazu: „Soundso stellt die flirrende Erotik des Schmetterlings nicht nur bildlich dar, sondern unterstützt diese Aussage auch anhand des Materials seiner Werke.“ Ich frage mich, was an den Schamhaaren meines Nachbarn erotisch sein sollte.
Ich hatte mal von einer Künstlerin gehört, die zeigte in sieben Glaswürfeln (schon wieder sieben!) ihr Essen – also ein Beispiel von dem, was sie innerhalb einer Woche an jedem Tag gegessen hatte. Und im selben Glaswürfel befand sich ein Haufen Scheiße, den sie nach exakt diesem Essen produziert hatte. „Ein Beitrag zum alltäglichen Wandel und zum Wechsel der Aggregatzustände, derer wir uns nur allzu selten bewusst sind“, hieß es dazu irgendwo. Ich war froh, dass sich diese Künstlerin nicht in unserem Haus befand. Der Gestank wäre wahrscheinlich bis ins Treppenhaus gezogen.
Nun ja – ich aß bei McDonald’s zwei Blocks weiter einen Big Mäc, bei dem ich Schwierigkeiten hatte, ihn im Magen zu behalten, und trank drei Tassen Kaffee hintereinander. Danach war der Gedanke, mich um meine ramponierte und vermüllte Wohnung kümmern zu müssen, zwar immer noch grässlich, aber zumindest hatten sich meine Kopfschmerzen ein winziges Bisschen gelegt.
Als ich zum Haus zurückkam, musste ich feststellen, dass der ganze Flur auf meiner Etage voll mit Menschen war. Was wollten die bloß alle von dem Heini mit den Schamhaar-Schmetterlingen? Doch dann stellte ich weiter fest, dass sie gar nicht zu ihm wollten, sondern sich offenbar vor meiner offenen Tür drängelten. What the fucking hell …??? Hatte ich vorhin in meinem Duselkopp vergessen, die Wohnungstür richtig zu schließen? Unter exakt sieben gemurmelten „Entschuldigung“ verschaffte ich mir Zutritt zu meiner Wohnung, in der sich weitere mindestens 80 Kunstinteressierte befanden. Irgendjemand hielt offenbar gerade eine Art Rede: „… Und deswegen verleihen wir den Sehtag-Kunstpreis 2018 an den Mieter dieser Wohnung. Ihm ist es auf einzigartige Weise gelungen, die ganze Zerrissenheit unseres urbanen Lebens so darzustellen, dass ein jeder sofort versteht, unter welchem Druck, unter welcher inneren Anspannung der Protagonist stehen mag, der hier auf diese imposante Weise gezeigt werden soll. Ein eindrucksvoller Kommentar zu den ach so modernen Zeiten, in denen das Geld und das Funktionieren in Job, Partnerschaft, Familie und Freizeit einen Zustand in uns Menschen erzeugt, der sich ähnlich einem Dampfkessel auf offener Flamme manchmal Bahn brechen muss – und dann etwas hinterlässt, das nicht mehr bloß ein Pfeifen wie bei dem erwähnten Dampfkessel ist, sondern etwas, das wir hier sehen und nur bewundern können.“ Beifall brandete auf.
Und ich begann, meine Wohnung mit anderen Augen zu sehen.
Mein Künstler-Nachbar sah mich, schob mich in Richtung des Redners und flüsterte mir dabei zu: „Ich hab dich noch schnell auf die Liste der teilnehmenden Ateliers gesetzt, als ich dieses Werk vorhin gesehen habe.“
„Nun“, fragte mich der Redner, „wie lange soll Ihre Wohnung denn als Ausstellung erhalten bleiben, damit auch die Kunstfreunde sie sehen können, die heute keine Zeit haben zu kommen?“
„Äh“, sagte ich und sehnte mich nach einem coolen Hut und einem Schal, „lange!“ Und weil sich weiterhin alle Augen auf mich richteten und die Besucher offenbar eine noch längere Rede erwarteten, fügte ich hinzu: „Ich möchte meinen Eltern danken, ohne die ich niemals das geworden wäre, was ich heute bin.“ Dann lächelte ich und schüttelte viele Hände. Nur das Blitzlichtgewitter der Fotografen ließ mich an mein Aufwachen vor einer gefühlten Ewigkeit denken (Helios war offenbar auch zum Gratulieren gekommen). Damals war ich in jeder Hinsicht noch ein ganz anderer Mensch gewesen.
Wir hatten jetzt drei Ateliers in unserem Haus.