Von Andreas Schröter

Ich bin ein nüchterner Typ, kümmere mich um die Steuererklärung, darum, dass das Auto rechtzeitig seine Winterreifen kriegt und dass die Abfalltonnen draußen stehen, wenn die Müllabfuhr kommt. An Gespenster glaube ich – natürlich – nicht, weil ihre Existenz sämtlichen naturwissenschaftlichen, vor allem biologischen, Erkenntnissen zuwiderlaufen würde. Wie sollte ein Gehirn nach dem Tod weiterdenken können, wenn es nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird?!

Und doch kam ich neulich in peinliche Erklärungsnot, als mich mein Kumpel Jürgen nach dem Klassentreffen fragte, warum ich denn nicht über die Robert-Koch-Straße fahre. Schließlich sei das doch definitiv der schnellste Weg zu ihm nach Hause. Ich hatte leichtsinnigerweise angeboten, ihn nach der Feier nach Hause zu bringen.

„Weil die voller Schlaglöcher ist – da hau ich mir ja die Achsen kaputt“, antwortete ich vielleicht eine Spur zu barsch.

„Entschuldige, Andi, aber da ist kein einziges Schlagloch. Die Straße wurde vor drei Monaten komplett saniert.“

„Ach ja, das habe ich gar nicht mitgekriegt. Na ja, jetzt ist es zu spät“, erwiderte ich. Das war natürlich gelogen. Denn selbstverständlich wusste ich, dass die Straße saniert worden war. Ich interessiere mich schließlich für absolut alles, was irgendwie mit der Robert-Koch-Straße und ihrer Umgebung, dem Ostfriedhof, zu tun hat. Aber das brauchte Jürgen nicht zu wissen. Fakt ist: Ich fahre in diesem Leben bei Dunkelheit nie mehr über die Robert-Koch-Straße. Basta! Und ich glaube nicht an Geister! Bitte glauben Sie mir das!

Die erste Auffälligkeit im Zusammenhang mit besagter Straße ereignete sich etwa drei Monate vor meiner abendlichen Fahrt mit Jürgen. Ich hatte mir gerade eines dieser modernen Autos gekauft, das für alles Mögliche Sensoren hat: Wenn es regnet, geht der Scheibenwischer automatisch an, wenn es dunkel wird, das Licht. Wenn die Reifen zu wenig Luftdruck haben, blinkt ein Lämpchen, und wenn Sie sich beim Rückwärts-Fahren einem Hindernis nähern, piept es. Vieles davon ist nervig und überflüssig, wenn Sie mich fragen. Mein Wagen zeigt jedenfalls auch an, wenn der Beifahrer-Airbag aktiviert ist. Er ist es nur dann, wenn auch wirklich jemand auf dem Beifahrer-Sitz sitzt. Nun, als ich an diesem Abend über die Robert-Koch-Straße fuhr, verschwand plötzlich das ansonsten immer leuchtende Signal „Beifahrer-Airbag deaktiviert“ auf dem Display meines neuen Mazdas. Erst als ich die Straße verließ, leuchtete es wieder auf. Mich ärgerte das. Der Wagen war so gut wie neu, und es gefiel mir gar nicht, dass er nun schon die ersten Mucken haben sollte. Denn natürlich saß neben mir niemand.

In den nächsten Tagen beobachtete ich immer wieder diese Anzeige, stellte aber keine Auffälligkeiten fest: Wenn ich allein im Wagen war, was meist der Fall war, leuchtete „Beifahrer-Airbag deaktiviert“. Das änderte sich erst bei meiner zweiten nächtlichen Fahrt über die Robert-Koch-Straße ein paar Wochen später. Das Lämpchen erlosch und begann erst wieder zu leuchten, als ich die Straße hinter mir gelassen hatte. Da ich sowieso einen Inspektionstermin in meiner Werkstatt hatte, sprach ich das Phänomen an, doch der Mechaniker konnte keinen Fehler finden. Die Anzeige war definitiv in Ordnung.

***

Ich vergaß zu erwähnen, dass ich als Lokalreporter bei der Zeitung arbeite. In der Redaktionskonferenz beschlossen wir, unseren Lokalteil ab und zu mit alten Sagen und Legenden zu würzen. Die Leute, so meinte der Chef, stehen auf sowas. Ich war zwar anderer Meinung – ich bin wie gesagt eher der nüchterne Typ – aber sei’s drum. Also verabredete ich mich mit einem Heimathistoriker, von dem wir wussten, dass er auch einige Spökenkieker-Stories auf Lager hatte. Herbert Schultheiß, mittlerweile 85 Jahre alt, war hocherfreut über meine Anfrage. Vermutlich gab es nicht mehr viele, denen er seine alten Spukgeschichten erzählen konnte. Ich richtete mich auf einen langen und zähen Termin ein.

„Ich kann Ihnen so einiges bieten, junger Mann“, begann er, nachdem er mir umständlich von seinem widerlichen Tee eingegossen hatte. Das kannte ich schon: Die Leute überschätzten sich und ihr langweiliges Zeug. „Welche Geschichte wollen Sie zuerst hören: die von den Riesen, die sich einst in der Gegend hier niedergelassen haben, von der Hexe, die man zuweilen nachts mit glühenden Kohlen in den bloßen Händen durch die Felder streifen sieht, vom Satan, der sich manchmal auf die Buckel von arglosen Wanderern setzt oder vom kohlschwarzen Hund, der einen uralten Schatz bewacht?“ Ich fragte mich ehrlich gesagt gerade etwas ganz anderes: Erstens ob es in der dunkeln Bude von Herbert Schultheiß nicht vielleicht eine hellere Lampe gab als die Funzel, die jetzt düster glomm, und zweitens wann um Himmels Willen ich hier wieder rauskäme. „Oder die Geschichte von der armen Petronella“, fuhr er fort. Und weil ich vergessen hatte, was die Alternativen gewesen wären, antwortete ich: „Die arme Petronella“.

„Gut, gerne, also vor ungefähr 300 Jahren – irgendwann im 18. Jahrhundert – lebte hier in der Gegend ein armes Bauermädchen namens Petronella. Ihr Nachname ist nicht überliefert. Petronella, die erst 17 Jahre alt war, verliebte sich in einen Edelmann von damals. Vielleicht einen Grafen oder sowas. Der Graf, gehen wir der Einfachheit mal davon aus, dass er einer war, wies sie wohl nicht gleich zurück. Er ließ sie manchmal in seiner Kutsche mitfahren. Man kennt das ja: Wahrscheinlich war sie hübsch, hatte einen schönen Hintern, und da wollte der Graf eben ein bisschen naschen.“

Ich horchte auf. War Herbert Schultheiß womöglich doch nicht so verknöchert, wie ich angenommen hatte?

„Na ja, jedenfalls war der Graf die junge Dame bald leid“, fuhr der Heimatforscher fort, „er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Der Legende nach hatte seine Frau Wind von dem Techtelmechtel bekommen und ihn vor die berühmte Wahl gestellt. Sie oder ich. Und da diese Frau offenbar diejenige war, die das Geld der Familie besaß, stand die Entscheidung unseres Edelmanns schnell fest.“

Ich fragte mich, was an dieser Geschichte so besonders sein sollte. Verlassene Mädchen gab’s schließlich wie Kondome im Puff. Vielleicht hätte ich mich doch für den kohlschwarzen Hund entscheiden sollen (jetzt fiel mir diese Alternative wieder ein).

„Petronella gab jedoch so schnell nicht auf. Immer wieder sprang sie auf die Kutsche des Grafen und versuchte diese Liebschaft – denn das war es wohl anfangs gewesen – fortzusetzen. Wahrscheinlich war sie etwas naiv und auch ungebildet. Eines Tages wurde es dem Grafen zu bunt. Als sie wieder versuchte, auf die Kutsche zu klettern, stieß er sie mit aller Kraft hinunter. Petronella fiel so unglücklich auf den Hinterkopf, dass sie sich das Genick brach und an Ort und Stelle starb. Der Graf gab seinem Pferd die Peitsche und ward danach nie wieder im Ort gesehen. Petronella wurde auf dem heutigen Ostfriedhof beigesetzt. Angeblich soll nur ihre alte Mutter bei der Beerdigung zugegen gewesen sein. Armes Ding.“

Ich horchte auf. „Auf dem Ostfriedhof?“

Herbert Schultheiß schien erfreut, dass er mir eine Äußerung entlocken konnte, die mein Interesse an seiner Geschichte bekundete.

„Ja, und der Legende nach – und deswegen sind Sie ja schließlich hier, junger Mann – spukt die arme Petronella weiterhin in der Gegend um den Ostfriedhof. Nacht für Nacht wartet sie auf ihren Geliebten, den Grafen, dass er mit seiner Kutsche vorbeigefahren komme und sie aufspringen kann.  Das muss dort sein, wo heute die Robert-Koch-Straße verläuft.“

Jetzt war ich froh, dass der Raum so dämmerig war, denn sonst hätte Herbert Schultheiß sicherlich bemerkt, wie stocksteif ich mittlerweile dagesessen habe.

„Natürlich kommt ihr Graf nicht mehr, und Kutschen sind auch verdammt selten geworden. Deswegen ist Petronella seit, na sagen wir mal 70 oder 80 Jahren dazu übergegangen, auch in Autos zu springen.“

Mein Zustand hatte sich nicht gebessert. Im Gegenteil. Trotzdem brachte ich mit krächzender Stimme hervor: „Aber es fahren doch durch diese Straße tausende von Leuten. Da müsste doch …“

„Haben Sie Halsweh? Trinken Sie noch ein wenig Tee. Der ist gesund. Sie sucht sich nur Männer aus, die eine Ähnlichkeit mit ihrem Grafen haben. Alle anderen lässt sie links liegen. Die Legende sagt weiter, dass sie sich mit jedem ihrer Opfer erst beim dritten Mal vereinigt.“

„Vereinigt? Opfer?“ Der Tee hatte nicht geholfen.

„Nun ja, aber das liegt doch auf der Hand, junger Mann. Als Reporter hätte ich Ihnen ehrlich gesagt mehr Scharfsinn zugetraut. Da Petronella tot ist, kann sie sich natürlich nur im Tode mit den von ihr auserwählten Männern vereinigen. Also muss sie sie töten – Bitte? Haben Sie etwas gesagt? Ich kann sie nicht verstehen.“

Meine Stimme war nun völlig weg.

„Ich habe das übrigens mal recherchiert. Jaja, auch andere Leute als Ihr Journalisten können recherchieren“ – er lachte ein bisschen – „es gibt im Laufe der vergangenen 100 Jahre tatsächlich fünf Männer, deren Verschwinden man nie aufklären konnte. Ich habe herausgefunden, dass sie alle zumindest zeitweilig die Robert-Koch-Straße benutzt haben. Und dass sie sich vom Aussehen her ähnelten. Wenn ich Sie mir so ansehe, sahen Sie alle ein bisschen aus wie Sie.“

„Waren Sie damit bei der Polizei?“, stammelte ich.

„Ach, die Polizei. Die hält mich für einen armen Irren. Genauso wie Sie es vermutlich tun.“

„Nein, ich … Sagen Sie, haben Geister ein Gewicht?“

Er sah mich sonderbar an.

„Naja, ich meine, wenn sie tatsächlich auf dem Beifahrersitz eines Autos Platz nähmen, würde man das merken? Zum Beispiel, daran, dass die Polster eingedrückt sind? Oder dass irgendwelche modernen Sensoren, die auf Gewicht reagieren, das anzeigen?“

Er sah mich immer noch sonderbar an. „Ich bin kein Parapsychologe und ich glaube nicht an Geister, das sind doch alles nur Legenden, aber es gibt schon Geschichten, die behaupten, man könne es etwa einem Sessel ansehen, ob ein Geist darin sitzt oder nicht.“

Ich glaube nicht an Geister, aber ich fahre trotzdem nachts nicht durch die Robert-Koch-Straße. Niemals!