Von Karl Kieser

Magda ist gerade 15 geworden und eine elfenhafte Schönheit. Selbst das freudlose Leben im Waisenhaus hat ihrem unschuldigen, vertrauensvollen Charakter nichts anhaben können. Im landgräflichen Schloss dient sie neuerdings ohne Salär als Küchenmagd.
Die junge Schönheit steht im Mittelpunkt der männlichen Aufmerksamkeit. Das weckt Neid und Niedertracht beim weiblichen Küchenpersonal und das bekommt sie auch zu spüren. Immer häufiger flieht sie weinend aus der Küche und versucht in anderen Teilen des Schlosses ihre Fassung wiederzufinden.

Bei ihren Streifzügen trifft sie auch auf die Baustelle im Reihersaal. Hier soll der Kachelofen erneuert werden. Dazu ist der fast fünf Meter hohe Saal, um den Arbeitsplatz des Ofensetzers herum, mit schweren Tüchern abgehängt.
Meister Borchert ist ein freundlicher Mann. Er winkt Magda herein, als sie zum ersten Mal neugierig hinter den Vorhang lugt. Dabei lernt sie auch den jungen Gehilfen des Ofensetzers kennen. Bernard Diepenbach ist ein gutaussehender Bursche. Er hat Charme und verhält sich erfreulich kultiviert. Plumpe Vertraulichkeiten hat sie hier nicht zu befürchten.
Wäre sie wirklich vorsichtiger, wenn sie mehr über Bernards Wesensart wissen würde? Ihr vertrauensvolles Naturell macht das zweifelhaft.

Eines Tages trifft Magda den jungen Mann allein an. Meister Borchert ist krank und Bernard arbeitet eigenständig in dem rundum abgeschlossenen Bereich.
Ohne den älteren Mann hat das Zusammentreffen der beiden jungen Menschen sofort einen anderen Charakter.
Bernard hat eine mit Rot und Gold prachtvoll bemalte Walnuss als Geschenk mitgebracht und überreicht sie ihr mit großer Geste.
„Das, meine Schöne, ist eine Zaubernuss. Als Unterpfand meiner Liebe wird sie dafür sorgen, dass auch Du mir auf ewig verfallen bist.“

Magda macht mit bei diesem reizvollen Spiel, drückt das hübsche Geschenk theatralisch an ihre Brust und seufzt mit übertriebenem Pathos:
„Oh ja, mein Liebster, ich fühle die magische Wirkung schon jetzt.“
Damit lässt sie die Nuss mit schelmischem Lächeln in ihrer Schürzentasche verschwinden.

Nichts warnt sie, als Bernard nun schwungvoll die Arme um sie legt.
So nah war er ihr noch nie und diese Nähe berauscht ihn. Unter den gestärkten Stoffen fühlt er den anmutigen Körper, atmet verlangend ihren lieblichen Duft. Wie ein Werwolf überfällt ihn jäh die Lüsternheit. Eine brünstige Welle schwappt über ihn hinweg. Er kann nicht mehr klar denken. Sie will es doch sicher auch!

Magda hat zunächst noch gehofft, dass die überraschende Umarmung auch zum Spiel gehört und dass er sie gleich wieder loslassen wird. Als sie jedoch seine Hände an ihrem Po und an den Schenkeln fühlt, beginnt sie sich zu wehren. Wegen ihrer zarten Gestalt gerät ihre Gegenwehr aber so schwach, dass Bernard sie gar nicht richtig wahrnimmt.
Ihre betörende Nähe hat ihn inzwischen in eine wollüstige Raserei versetzt, die er nicht mehr kontrollieren kann.
Unvermittelt liegen beide auf dem Boden. Mit fahrigen Händen versucht er, ihre Röcke hochzustreifen, während das Mädchen sich unter ihm windet und nun auch zu schreien versucht.  
Nein! Schreien darf sie natürlich nicht. Das muss er unbedingt verhindern.

Der Kampf mit nur einer Hand, um an das süße Fleisch zu gelangen, hat seine Tücken. Er ist viel zu hektisch für ein gezieltes Vorgehen.
Plötzlich wird ihm bewusst, dass Magdas Gegenwehr schon seit einiger Zeit erloschen ist. Der anfängliche Triumph über dieses vermeintliche Einverständnis weicht besorgter Bestürzung, denn ihr Körper ist unnatürlich schlaff.

Schlagartig erwacht er aus seinem Hormonrausch. Seine linke Hand, die er immer noch fest auf ihr Gesicht gepresst hält, reißt er entsetzt zurück.
Sie regt sich nicht mehr.

Sie kann doch nicht plötzlich tot sein? Er war das nicht, kann es nicht gewesen sein. Er hat sie doch gern!

Magda sieht sich selbst wie schlafend am Boden liegen. Wie schade, dass ihr junges Leben schon vorbei ist. Sie beobachtet, wie ein tränenüberströmter Bernard in dem halb fertigen Ofen eine Nische schafft und ihren toten Körper liebevoll hineinfügt bevor er die Nische wieder sorgfältig versiegelt. Bernard versteht sein Handwerk. Nichts wird ihre Anwesenheit verraten. Eine Verbindung zum Rauchabzug wird alle Gerüche durch den permanenten Sog der Kaminwirkung in zwanzig Meter Höhe ins Freie verteilen.

Magda wird natürlich vermisst und überall gesucht. Sie hat jedoch schon so oft davon gesprochen, lieber wegzulaufen als die Gemeinheiten in der Küche noch länger zu ertragen, dass man als sicher annimmt, dass sie sich davongemacht hat. Es ist trotzdem ein Skandal, denn man findet absolut keine Spur von ihr.

Bald stellt sie fest, dass sie nicht allein ist. Zwei weitere Mauergeister nehmen Kontakt zu ihr auf. Von ihnen erfährt sie, dass ihre Sorte von Geistern nicht gerade exklusiv ist. Jeder kann zum Mauergeist werden. Man muss sich nur ermorden und einmauern lassen.
Sehr viel seltener sind die Poltergeister und Spukgespenster. Aber die können sich zur Abwechslung wenigstens bemerkbar machen.
Für die Mauergeister dagegen, ist das Dasein extrem langweilig. Sie stecken buchstäblich fest in ihrem Gemäuer und werden nur von Ihresgleichen wahrgenommen. Die Drei aus dem Schloss sehnen sich daher verzweifelt nach Erlösung, für die es nur zwei Möglichkeiten gibt:

1. Die Mauern bersten. Aus diesem Grund haben sie bei größeren Umbauten und bei Kriegshandlungen immer wieder Hoffnung geschöpft. Aber selbst im letzten Weltkrieg, als die Stadt in den Bombennächten weitgehend zerstört wurde, blieb das Schloss unversehrt.

2. Die Untat wird öffentlich bedauert von einem Nachkommen aus der männlichen Linie des Mörders. Diese Chance wird mit wachsendem zeitlichem Abstand leider immer unwahrscheinlicher.

 

Endlose Jahre sind seit dem Beginn dieser Ereignisse vergangen.

 

Horst Tiefenbach und seine Verlobte Melanie besuchen, nach einem Spaziergang durch den Schlosspark, den Hochzeitssaal. Sie planen, sich demnächst in dieser traumhaften Umgebung trauen zu lassen.

Der Reihersaal des Schlosses dient dem Standesamt der Stadt schon lange als würdige Hochzeitskulisse. Das Schloss und einige seiner Säle sind aber auch Museum. Neben der stilvollen Einrichtung des Reihersaales, die nun auch dem Verwaltungsakt der Trauung dient, bewundern die beiden auch den monumentalen Kachelofen an der Stirnseite des Raumes. Ein schmuckloses Schildchen an der Wand gibt Auskunft.

Dieser Kachelofen wurde 1820 von Meister Borchert entworfen und nach seinem Tode von Bernard Diepenbach fertiggestellt. Im selben Jahr, als auch die junge, schöne Magda Bergdorfer spurlos verschwand, nachdem sie in diesem Raum zuletzt gesehen wurde.

Der angedeutete Hinweis, dass diese Ereignisse zusammenhängen könnten, ist von der Kuratorin des Museums durchaus gewollt. Er entbehrt zwar jeder historisch gesicherten Grundlage, soll aber bei den Museumsbesuchern einen gruseligen Verdacht auslösen.
Wie schon so oft zuvor, funktioniert das auch bei Melanie hervorragend:
„Und was ist, wenn die schöne Magda den Raum vor ihrem Verschwinden gar nicht verlassen hat? Vielleicht ist sie immer noch hier und steckt in diesem Kachelofen.“

Horst reagiert leicht amüsiert.
 „Ach Melanie, wenn dieser Verdacht begründet wäre hätte doch längst jemand in den vergangenen 200 Jahren nachgesehen.“

Melanie lässt sich jedoch nicht bremsen. In ihrer romantischen Stimmung dichtet sie auch gleich noch eine Liebesaffäre hinzu und spekuliert munter weiter:
„Welcher von den beiden war es? Ich tippe ja auf den, der den Ofen fertiggestellt hat. Bestimmt war Liebe im Spiel, vielleicht auch Eifersucht. War es Mord oder etwa ein Unglück?“
Und nach einer kurzen, nachdenklichen Pause:
„Sag mal, das wird doch nicht einer Deiner Vorfahren gewesen sein?“

Jetzt ist Horst doch betroffen Die Namensähnlichkeit zu einem der Ofensetzer ist ja auch tatsächlich verblüffend.
„Wenn Deine Fantasien stimmen und es dieser Diepenbach war, der hier eine junge Frau eingemauert hat, dann kann ich das Opfer nur aus tiefstem Herzen bedauern, unabhängig davon, ob das wirklich mein Vorfahr war.“

Wie zur Bestätigung hören sie aus dem Inneren des Ofens einen deutlichen Knacks, gerade so, als ob etwas auseinanderbricht. Beide haben das unheimliche Gefühl, dass ETWAS ein Einvernehmen zu ihren Gedanken ausdrücken will. Erschrocken sehen sie sich an.
Und wieder ein scharfer, aber leiserer Ton, als wenn etwas Hartes, Leichtes herunterfällt, gefolgt von kullernden Lauten.
Angewurzelt, mit aufgerissenen Augen, starrt das Paar auf den Ofen. Noch mehrmals fällt etwas innerhalb des Ofens klackernd herunter und rollt danach weiter. Aus anfänglich  etwa 1,5 Meter Höhe wandern diese Geräusche immer weiter abwärts.
Mit einem letzten Kullern erscheint eine rauschalige Kugel zwischen den Gitterstäben der Luftzufuhr und fällt, nach kurzem Verharren, die letzten 30 cm auf das makellose Parkett hinunter.

Eine Walnuss, an der seltsamerweise Reste von rotgoldener Farbe erkennbar sind.

 

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