Von Ute Scharmann

Vorbemerkung:

Alljährlich in der Nacht zum 30. Dezember verwandeln sich die Museumsräume im Ostflügel von Schloss Benrath in die Wohnräume, der Familie von Ardenne zu Ende des 19. Jahrhunderts. 

Im nahegelegenen Düsseldorf hatte das Ehepaar von Ardenne Emil Hartwich kennengelernt. Zwischen Elisabeth von Ardenne und Emil Hartwich entwickelte sich eine Liebesbeziehung in deren Folge beide beschlossen, ihre jeweiligen Ehepartner zu verlassen. Als Armand von Ardenne von der Beziehung seiner Frau mit seinem Freund Emil Hartwich erfuhr, forderte er diesen zum Duell. Im Verlauf des Duells wurde Hartwich tödlich verletzt. 

Theodor Fontane ließ sich durch die Meldungen über das Duell und dessen Vorgeschichte zu dem Roman Effi Briest inspirieren. 

 

Der 30. Dezember 2019 ist ein besonderer Tag; der Geburtstag des großen märkischen Dichters jährt sich zum 200. Mal.

*

 

Elisabeth von Ardenne ließ ihren Blick zum wiederholten Male durch den Raum schweifen. Alles war an Ort und Stelle, alles war perfekt, die Feier konnte beginnen – wie jedes Jahr.

„Meinst du er kommt diesmal?“, wandte sie sich an ihren Mann.

„Du hoffst immer noch?“ 

„Ja, du weißt es doch. Ich will ihm sagen, wie anders ich war, dass ich nicht dahingeschwunden bin wie seine Effi, sondern ein neues Leben begonnen habe, dass ich schließlich 98 Jahre alt geworden bin, …dass alles ganz anders war…“

„Manches aber nicht alles“, gab ihr Mann zu bedenken.

Beim 12. Schlag der Wanduhr hatte sich der Raum gefüllt. Wie jedes Jahr waren alle gekommen: die alten Briests, Vetter Dagobert, Crampas und seine schüchterne unscheinbare Frau, Gieshübler mit seinem Spitzenjabot und das ganze übrige Romanpersonal. 

Elisabeth stellte mit Resignation fest, dass sie sich wieder wie jedes Jahr unaufhaltsam in Effi verwandelte. 

 „Diese Gans“, dachte Elisabeth. Wie hatte Fontane ihr das antun können? Immer wieder hatte sie seinen Roman gelesen. Die Geschichte der jungen Effi, die als Siebzehnjährige mit dem doppelt so alten Baron Innstetten verheiratet worden war und die sich wenig später in Major Crampas verliebt hatte. Crampas, weniger steif und weniger Erzieher als Innstetten aber gleichzeitig noch älter als ihr Ehemann. 

*

Effi schmiegte sich an den alten Briest und lächelte ihrer Mutter zu. „Wie schön, dass ihr kommen konntet und Dagobert mitgebracht habt. Dagobert, du bist und bleibst mein liebster Vetter.“

„Der einzige, will ich meinen, schöne Cousine.“

Er küsste ihr die Hand, die sie ihm rasch entzog.

„Dagobert, sei ein Schatz und sag´ der Majorin ein paar nette Worte. Sie steht da so verloren zwischen Zimmerpalme und Buffet.“

„So milde heute, Cousinchen?“ Dagoberts Lächeln blieb unerwidert, Effis Blick ging bereits an ihm vorbei zum Kamin, wo Crampas mit zwei Herren im Gespräch stand.

„Dann also los, zur grauen Maus“, dachte Dagobert und machte sich auf den Weg zu Frau von Crampas, die sich bei seinem Näherkommen abwenden wollte, dann aber doch erfreut in ein Gespräch ziehen ließ. Ja, die Dezembertage seien ungewöhnlich mild gewesen und die Kinder hätten das Schlittschuhlaufen sehr vermisst. Er versorgte sie mit einem Glas Bowle. „Aber verderben Sie sich nicht den Geschmack auf den Champagner, ich sehe die Pyramide ist schon aufgebaut, der Oberförster wird sie wie immer zelebrieren.“ 

Er prostete ihr zu, sein Blick glitt über den Rand des Glases auf ihr zartes Gesicht, blieb an ihren grau-blauen Augen hängen. Augen, die ihn in eine Tiefe zogen, die er noch kaum erlebt hatte. Eine graue Maus? Eine schüchterne Maus? Oder nicht vielmehr eine Frau, deren ruhiger Blick von einem Tiefgang sprach, weitab von dieser gesellschaftlichen Scheinwelt, in der sie sich hier befand? Er wollte etwas sagen, aber alles kam ihm läppisch vor in Gegenwart dieser Frau. 

„Wenn ich etwas für Sie tun kann…“, 

Er verbeugte sich leicht. Eine Phrase, die ihm da über die Lippen gekommen war; es klang wie eine Phrase und doch…er hätte in diesem Moment alles für sie getan. Sie lächelte.

„Ich darf Sie nicht länger für mich beanspruchen. Ich werde mich ein wenig zu Frau von Grasenabb gesellen. Die Ärmste, sie hört so schlecht und man lässt sie alleine.“

Er geleitete sie zu dem Sofa, auf dem die alte Dame bereitwillig zur Seite rückte und Platz machte. 

Dagobert von Briest zog sich mit einer Verbeugung zurück, die Begegnung mit dieser ruhigen tiefgründigen Frau hatte ihn beeindruckt. „Wenn ich etwas für Sie tun kann…“ 

Seine Worte, ihr Lächeln… Er fragte sich, ob er eine Chance hatte, das Unglück abzuwenden. 

Innstettens Pistolenkasten hatte auf dem Garderobentisch gelegen, griffbereit sozusagen. Vielleicht könnte er die Kugeln aus Innstettens Pistole nehmen? Würde Crampas schießen? Wie würde das Duell dann ausgehen? Würde Innstetten fallen oder würden beide am Leben bleiben? 

Dagobert verlies den Salon und versuchte den Weg zurück zur Garderobe zu finden. Verwirrt blieb er stehen. Musste er die rechte Tür oder den Gang auf der linken Seite nehmen? Er hatte die Orientierung verloren. Vitrinen und Ausstellungsstücke an den Wänden schienen eher in ein Museum zu gehören als in das Wohnhaus seiner Cousine. Die Tür zum Salon war hinter ihm, er hörte die Stimmen und ging zurück. Vielleicht sollte er versuchen, den Mann umzustimmen? Aber würde ihm das gelingen? Dagoberts Verhältnis zu Innstetten war gespannt. Er mochte diesen steifen Beamten nicht. Wie hatte man die fröhliche Effi an seine Seite verbannen können? Innstetten seinerseits war Dagobert immer mit größter Reserviertheit begegnet. Vermutlich war er eifersüchtig auf ihn, vom ersten Tag an. Leider zu Unrecht, Effi hatte in ihm, Dagobert, immer nur den unterhaltsamen Kavalier gesehen, den Begleiter, der gerne einsprang, wenn es für irgendein Unternehmen keinen anderen Begleiter gegeben hatte. 

Besser nicht die Zeit mit Innstetten vertun. Er würde mit dem alten Briest sprechen, sicher könnte dieser Innstetten umstimmen. Briest musste doch Einfluss auf den Schwiegersohn haben und er musste ein Interesse daran haben, das Unglück abzuwenden.

Dagobert sah sich nach dem Onkel um. Dieser stand mit zwei älteren Herren vor einem der großen bodentiefen Fenster. Als er zu ihnen trat, versuchte man ihn in ein Gespräch über die jüngsten Ereignisse in Berlin hineinzuziehen. „Onkel…“, versuchte er sich bemerkbar zu machen, fand aber zunächst kein Gehör.

„Oh, ich weiß Dagobert, die Politik ist nicht die Sache der jungen Offiziere…und doch…“

Erst jetzt nahm Briest wahr, dass Dagobert sich in einem Zustand größter Erregung zu befinden schien. Eine Erregung, deren Ursprung er, Briest, ahnen mochte aber mit deren Ursache er nicht konfrontiert werden wollte. Aber Dagobert ließ nicht nach.

 „Onkel bitte, auf ein Wort…“

Entschuldigend wandte Briest sich an die anderen Herren: „Es scheint, ich werde benötigt. Familiengeschichten?“ Die Frage galt Dagobert, der ihm voran in eine der ruhigen Ecken des Salons ging.

„Onkel, Sie müssen es verhindern!“ Dagoberts Stimme drohte sich zu überschlagen.

„Verhindern? Was könnte ich verhindern?“

„Sprechen Sie mit Innstetten. Bitte, rasch, es ist nicht mehr viel Zeit.“

„Mit Innstetten? Innstetten weiß, was er tut.“

„Ich bitte Sie, sprechen Sie mit ihm. Sollen die beiden die Pistolen aufeinander richten, soll er diese Satisfaktion haben. Aber das muss reichen!“

„Die Kugel wird treffen!“

„Sie muss nicht treffen!“

„Dagobert, du bist Soldat. Du weißt, dass Kugeln treffen.“

„Nicht jede muss treffen. Onkel, es geht nicht nur um Effis Unglück, es geht nicht nur um Crampas Leben, es geht um seine Frau, um seine Kinder. Eine Witwe, Waisen… Onkel, verhindern Sie es, ich bitte Sie.“

Briest nahm einen Zug aus seiner Zigarre und ließ seinen Blick über die Gesellschaft gleiten. Er sah Frau von Crampas auf einem der Kanapees sitzen, neben ihr eine sehr alte Dame. Beide schwiegen.

„Du denkst an sie, Dagobert?“ Und als der Neffe nickte: „Keiner hat noch je an sie gedacht.“

„Bitte Onkel!“

Einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Frau von Crampas auf dem Sofa, Innstetten, der eben an den Oberförster herantrat, Crampas, dessen gute Laune von Minute zu Minute zu schwinden schien und Effi, die neben Gieshübler stehend die Augen auf Crampas gerichtet hatte. 

Aber dann war es auch schon zu spät – Innstetten bat um Aufmerksamkeit für den Höhepunkt des Abends, die Champagnerpyramide.

„Herr Oberförster gehen sie ans Werk. Das ist wie immer ihre Aufgabe.“

Die Champagnerflaschen wurden angereicht und die sprudelnde Flüssigkeit ergoss sich unter vielen Ahs und Ohs vom obersten Glas in die darunter stehenden. Wie immer ging kaum ein Tropfen daneben. Die Gläser wurden herumgereicht. Briest prostete dem Neffen zu.

„Dagobert, hätte ich mit Innstetten geredet, es hätte nichts geändert.“

„Vielleicht hätte er auf Sie gehört. Vielleicht hätten Sie das große Unglück aufhalten können.“

„Vielleicht…aber wer sind wir?“ Briest blickte sich im Raum um, die Anwesenden erschienen schattenhaft.

„Wer wir sind? Sie meinen…“ 

Dagobert kniff die Lippen zusammen, sein Blick wurde starr, in dieser Minute schien er gealtert zu sein, der junge übermütige Leutnant war nicht mehr zu erkennen.

„Ja Dagobert, so ist es. Wir können nichts ändern. Wir sind nur Figuren in einem Roman… und nicht einmal das sind wir… wir sind die Geister dieser Figuren.“

 

Und dann der Schrei: „Wo ist mein Mann? Wo ist Baron von Innstetten?“

Frau von Crampas war aufgesprungen und auf Effi zugeeilt. Als der Schuss fiel, war Dagobert nicht schnell genug, um zu verhindern, dass Frau von Crampas ohnmächtig zu Boden glitt