Von Hubertus Heidloff

  „Wo gehst du noch hin? Es ist doch schon spät“, meinte Harrys Frau Constanze.

„Ich muss noch mal in die Garage und nachsehen, ob der Wagen wieder Öl verloren hat.“  „Beeile dich, dann können wir noch den Krimi im Fernsehen anschauen. Da geht es um entführte Kinder.“

 

Harry murmelte halblaut so etwas wie „kein Interesse“ und verschwand durch die Haustür. In der Garage stand sein Porsche, nicht mehr ganz jung, aber dennoch fahrtüchtig. Mit über 150.000 Kilometern auf dem Buckel und vor acht Jahren gebaut, hätte er schon so einiges zu erzählen gehabt: Wie er Harry und Constanze zum Gardasee gebracht, wie er Rom, Neapel und die Amalfiküste erkundet hatte.

 

Harry dachte an diese Zeiten und verdrückte sich eine Träne. Alles war so schön gewesen, am Anfang der Beziehung zu Constanze. 

Er hatte sie bei einer Wanderung in den Bergen kennen gelernt. Vom Herzogstand, einem der schönsten Münchener Hausberge, genossen sie einen grandiosen Blick auf die Landschaft unter sich. 

Im Restaurant der Talstation hatte Constanze ihn mit ihren Augen, so  klar wie der Kochelsee, wie er meinte, verzaubert. Bereits auf dem anschließenden Weg zum Parkplatz hatten sie sich an die Hand genommen. 

Die Verabredung war abgemacht. Und noch eine. Ein halbes Jahr später war die Hochzeit angesagt. Und heute, wenige Jahre später,  zeigte sie sich so oft mit ihren Stimmungen, meist verbunden mit Schweigen und zurück gezogen sein,  mit Interesselosigkeit, mit Traurigkeit, mit Leere und all den Dingen, von denen sie nicht loskam. Wieder spürte er dieses sentimentale  Kribbeln in seinen Augen. 

 

Nun befand er sich in der Garage. Die Ölkontrolle hatte er nur vorgetäuscht. Den Film wollte er auf gar keinen Fall sehen. Wieder kamen ihm Erinnerungen und ließen Emotionen aufkommen. Er suchte am Wagen nach Grasspuren oder Erdresten, nach allem, was den Wagen beschädigt haben könnte. Gab es irgendwo einen Kratzer oder eine Beule? Nichts von alledem fand er vor. Anstatt jetzt ins Haus zu gehen, nahm er einen Lappen und putze den Wagen, als wollte er ihn morgen zum Verkauf anbieten. 

 

Er musste an die letzte Fahrt mit seinem Wagen denken, als er beinahe einen Baum erwischt hätte, auf den Grünstreifen gekommen war, und das alles nur, weil er sich von so einem Idioten hatte abdrängen lassen. Das durfte er seiner Frau nicht erzählen. 

Sie hätte sich nur unnötig darüber aufgeregt. Das hätte ihrer Seele nicht gut getan.

 

Es war spät geworden, als er zurück ins Wohnzimmer kam. Constanze hockte zusammen gekauert auf dem Sofa, hatte die Arme um die Knie geschlungen und den Kopf auf die Arme gelegt. Der Fernseher war ausgeschaltet.

 

„Was ist los“? fragte er, erschrocken über ihren Anblick, der von Betroffenheit erzählte. „Was hast du“? wollte er wissen.

„Den Film hättest du sehen müssen. Der Fall der achtjährigen Peggy wurde erwähnt. Man berichtete erschütternd darüber, wie es ist, wenn Kinder plötzlich nicht mehr da sind“, zeigte sich Constanze betroffen. 

„Stell dir doch einmal vor, wie es Eltern geht, wenn ihr Kind nicht von der Schule oder aus dem Schwimmbad nach Hause kommt. Die müssen doch verrückt werden vor Angst“. 

 

Harry zeigte sich bekümmert, sagte aber nichts, sondern mischte sich einen Früchtetrank. „Möchtest du auch einen“? fragte er liebevoll seine Frau.

Sie schüttelte nur den Kopf. „Kannst du dich noch an den Fall erinnern, der vor etwa einem Jahr in unserer Nachbargemeinde Elmestal die Zeitungen füllte? Damals ist die neunjährige Tochter, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatte, von einem gemeinen Gangster entführt worden“! 

Natürlich kannte Harry den Fall. Er hatte sich abgewandt und suchte in der Schublade des Schrankes nach einer Zigarettenpackung. Er zündete sich eine an und blies den Rauch in die Luft, um ihm scheinbar gedankenverloren nachzuschauen. Er sagte nichts und hörte zu, als seine Frau weiter erzählte: „Solchen Menschen sollte man keine Chance auf ein Weiterleben in der Gesellschaft geben,

sie gehören ihr Leben lang ins Gefängnis mit anschließender Sicherheitsverwahrung“. Constanze hatte sich nun richtig in Rage geredet. „Diese verdammten Verbrecher“! Harry war froh, seine Frau in einer solchen Phase der emotionalen Erregung zu erleben. 

Er blies weitere Kringel in die Luft. Er schwieg.

Constanze gab ihm einen Kuss und sagte, sie wolle ins Bett gehen.

Harry setzte sich in seinen Schaukelstuhl. Zu vieles drehte sich in seinem Kopf.  „Der letzte macht das Licht aus“, rief sie ihm noch zu, bevor sie im Badezimmer verschwand. 

 

Am nächsten Morgen hatte Constanzes Sprechlaune einer Schweigephase Raum gegeben. Harry zog die Haustür hinter sich zu, setzte sich in sein Fahrzeug und war froh, endlich das Haus verlassen zu können. Immer, wenn Constanze in einer depressiven Stimmung war, wollte er weg. Das lag wie ein schweres Gewicht auf ihm. Er wusste, dass er ihr nicht helfen konnte. Kein Arzt hatte bislang helfen können, weder mit Gesprächstherapien noch mit Medikamenten.

 

Er erreichte das Gebäude, in dem sich sein Büro befand. Er stellte seinen Wagen ab und ging die Strecke bis zum Haus zu Fuß.

In seinem Kopf hatte sich eine Vorstellung festgesetzt. Sie konnte falsch sein, konnte aber auch möglicherweise stimmen.

Er traf seine Mitarbeiter, von denen er einige in sein Zimmer bat.  

„Hört mal bitte zu. Ich möchte, dass alles, was wir bisher zum Fall der kleinen Mandy wissen, auf den Prüfstand kommt. Haben wir den Gürtel genau untersucht, mit dem der Täter das neunjährige Mädchen gefesselt hat. Haben wir den Rucksack des Mädchens genau untersucht? Was ist mit dem Badeanzug? Ich möchte, dass alles noch mal genauestens durchgesehen wird. Jeder noch so kleine Hinweis kann uns helfen, den Täter zu fassen. Was ist mit der Verwandtschaft? Dürfen wir den Vater außen vorlassen? Wohin brachte der Unbekannte das Mädchen“?

Die Mitarbeiter der Sondergruppe  verließen den Raum und begannen wieder von vorne. 

Harry dachte an Constanze. Er wollte den Film zusammen mit seiner Frau nicht sehen. Zu sehr war ihm dieser Fall gewissermaßen aus der Nachbarschaft auf den Magen geschlagen. Er wollte unbedingt den Täter fassen. Nur das beschäftigte ihn beruflich.

 

Am Abend des nächsten Tages lagen neue Erkenntnisse vor. Auf dem Klebeband, welches der Täter für die Füße benutzt hatte, fand sich ein Fingerabdruck. Diesen Abdruck wollte das Team mit anderen vergleichen. 

Vor gar nicht langer Zeit hatte ein Mann in einem benachbarten Schwimmbad versucht, ein Mädchen zu entführen. Stimmten die Abdrücke und eventuell weitere genetische Fingerabdrücke überein, war klar, dass es sich um ein und denselben Täter handeln musste. 

Harry hatte Recht gehabt, diese beiden Fälle in Verbindung zu bringen und alles noch ein weiteres Mal untersuchen zu lassen. Es musste eine Verbindung geben! Endlich hatte er sie; nur eine winzige Kleinigkeit hatte zum Erfolg geführt.

Es war spät geworden. Als Harry an jenem Abend nach Hause kam, brannte im Wohnzimmer noch Licht. Constanze saß wie am Abend vorher im Sessel und starrte auf den Boden.

„Wir haben heute einen Fall gelöst“, berichtete er. Constanze zeigte keine Reaktion.

Er wiederholte den Satz. Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Ihr Blick war leer, so als ob sie seine Aussage überhaupt nicht gehört hätte. Sie schaute durch ihn hindurch.

Wieder fühlte Harry ein Kribbeln in sich aufsteigen. Wieder machten ihm seine Augen zu schaffen. Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie, wie man ein Kind küsst. Harry nahm sie an der Hand, zog sie hoch und brachte sie ins Schlafzimmer. 

 

Er ging ins Wohnzimmer zurück, mischte sich erneut einen Drink und setzte sich noch einige Zeit in den Schaukelstuhl. Endlich löste sich seine innere Spannung.  Seit langer Zeit konnte er wieder einmal lächeln. Wie schön wäre es, wenn sich Constanze mit ihm freuen könnte.

Er löschte das Licht aus und begab sich auch zur Ruhe.

 

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