Von Marie Masse
Die Premiere! Endlich ging es los nach der langen Vorbereitung.
Laura war schon seit der Früh im Theater. In den letzten Tagen hatte sie stundenlang am Pult gesessen, um die verschiedenen Beleuchtungen zu prüfen, hatte die Verkabelungen gesichert, war bei jeder Probe dabei gewesen. Als neue Mitarbeiterin musste sie sich bewähren. Sie ging nicht auf die Bühne und der größte Teil des Publikums vergaß meistens die Wichtigkeit der Arbeit ihres Teams. Aber sie gehörte dazu und das Lampenfieber packte auch sie.
Beim Erfolg würde sie sich mit der ganzen Truppe freuen und anstoßen, und dann allein in den leeren Saal zurückkommen, sich inmitten des Zuschauerraums setzen und einen Moment die durch die Notbeleuchtung entstandene Atmosphäre auf sich wirken lassen. Laura liebte es, der Stille zuzuhören, das grüne Licht der Sicherheitspiktogramme und deren Schatten zu beobachten. Meistens ließ sie die Vorstellung Revue passieren. Zu dieser späten Stunde ging es ihr nie darum, die technischen Aspekte zu analysieren, sondern einfach den Emotionen des Publikums, des Veranstaltungsteams, der Künstler nachzufühlen. Und das könnte sie am besten hier in dem verlassenen Theater. Die Einsamkeit hatte auch etwas Tröstliches, trug gleichzeitig Melancholie und Zufriedenheit in sich.
Oft schaltete sie nach ein paar Minuten leise Musik an. Sie suchte sich immer ein Lied aus, nur ein einziges jeden Tag, das irgendeinen Bezug zur Vorstellung hatte, manchmal in sehr erweitertem Sinn, nur in ein paar Zeilen versteckt. Es war ein liebgewonnener Moment vor dem Heimweg, um sich von der ganzen Aufregung zu erholen.
*
Amelie fieberte seit dem Aufstehen dem Abend entgegen. Zum dritten Mal würde sie mit der NeTa-Company auftreten, einer Truppe, die zeitgenössische Tanzstücke produzierte – NeTa stand für NeuTanz. Wie sonst fühlte sie sich gut vorbereitet und hatte gleichzeitig den Eindruck, alle Schritte vergessen zu haben. Aus Erfahrung wusste sie aber, dass diese in ihren Körper eingespeichert waren. Das Abrufen würde automatisch erfolgen, sobald sie die Bühne betrat, und dennoch von ihr volle Konzentration erfordern, um sich nicht von den Emotionen übermannen zu lassen, sondern um diese zu kontrollieren und passend einzusetzen, denn sie gehörten auch zur Magie einer Choreografie.
Der vor ihr liegende Tag würde hektisch werden, aber auch wie in Zeitlupe ablaufen, wenn man jede Bewegung, jeden Augenblick wahrnahm. Erst am späten Abend würde Amelie die Gelegenheit finden, ihre innere Ruhe zurückzuerlangen. Dafür hatte sie ein wunderbares Mittel gefunden. Sobald die meisten Truppenmitglieder, egal ob Tänzer oder Techniker, die Bühne verlassen hatten und sie selbst teilweise umgezogen war, ging sie auf die Bühne zurück und setzte sich hin. Egal wo die Company gastierte, blieb das Theater meistens noch lang genug auf, dass die junge Frau Zeit hatte, einen Moment allein die Halbdunkelheit und die Ruhe zu genießen.
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Geschafft! Der letzte Applaus war verklungen, das Publikum verließ langsam und plaudernd den Raum. Die Lichttechnikerin sammelte ihre Notizen, alles war nach Plan gelaufen, Künstler wie Techniker konnten zufrieden sein.
Wie erwartet schaffte es Laura, nach einer kurzen Feier hinter den Kulissen, in den Saal zurückzukehren. Sie legte das Handy auf ihren Schoß und lauschte zuerst der Stille. Gerade als sie das ausgesuchte Lied einschalten wollte, erschien eine Gestalt auf der Bühne, die sich nach ein paar zögerlichen Schritten in die Mitte setzte. Die Haltung beim Gehen und die zierliche Figur verrieten, dass auch eine Tänzerin eine Zeit der Besinnung brauchte. Laura kannte inzwischen alle Mitglieder des Ensembles gut genug, um zu vermuten, dass es Amelie war. Was nun tun? Sich bemerkbar machen oder in der Dunkelheit still bleiben? So eine Begegnung passierte ihr zum ersten Mal.
Schließlich entschied sich Laura, das Lied doch anzumachen. Wie würde Amelie reagieren? Gleich bei den ersten Noten hob die Tänzerin den Kopf und schaute überrascht hinauf, zur Musikquelle. Laura war sich nicht sicher, ob sie selbst zu sehen war. Bei der dritten Strophe stand der Schatten auf und fing an zu tanzen.
„Wenn der Vorhang fällt das Licht geht aus
Geh ich allein nach Haus
Make-Up im Gesicht Gedankenspur
Glück ganz pur erfüllte Seele
Dafür lebe ich für den Tanz im Rampenlicht
Eine Liebe die mir unsterblich ist
Ganz egal was auch geschieht
Ich trag‘ dich tief in mir“ ⁽¹⁾
Laura konnte nur bewundern, wie die Worte durch die Bewegungen an Intensität gewannen. Als das Lied ausklang und der Stille wieder Platz machte, sah Amelie hinauf, legte eine Hand an die Brust und sagte einfach „Danke!“, bevor sie schnell die Bühne verließ. Dabei hätte Laura für diese wunderbaren Minuten zu danken gehabt.
*
Amelie hatte viel an die unerwartete Szene des gestrigen Abends gedacht. In ihren Augen wählten die Choreografen im zeitgenössischen Tanz viel zu oft nur englische Songs aus, wenn sie zusätzlich zur Musik einen Text wollten. Viele deutsche Lieder würden sich auch dafür eignen, wenn es nicht einfach ohne triftigen Grund verpönt wäre. Zu diesen zu improvisieren machte Amelie Spaß und half ihr die Worte besser zu fühlen – ein Lied war für sie ein Gedicht, das durch die Wirkung der Musik prägnanter wurde. Wie war es dazu gekommen, dass hinten im Saal jemand dieses Lied, das sie mochte, abgespielt hatte? Sie hatte es einfach genossen und hoffte, auch heute Abend überrascht zu werden.
Nach der Vorstellung zog Amelie einfach ein Trikot über ihren Tanzanzug und eilte zurück auf die Bühne, sobald es dort ruhig war. Wie gestern setzte sie sich in die Mitte. Um sie herum herrschte wohltuender Frieden. Nach ein paar Minuten hatten sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt. Sie war versucht zu spähen, ob oben im Saal eine Silhouette zu erkennen war. Sie ließ es aber bleiben, wollte sich ohne Wenn und Aber auf das Spiel einlassen, wenn etwas passieren sollte. Kurz danach erklangen erste Klaviernoten und sie erkannte die Melodie. Gleich mit den ersten Worten fing sie an zu tanzen.
„Hab‘ den Garderobenschlüssel steckenlassen.
Im Fortgehn seh‘ ich noch einmal
Durch die verwaisten Bühnengassen
In den großen, dunklen, leeren Saal.
Vor ein paar Stunden bin ich hier gestorben
Vor diesem lauernden, kauernden Tier.
Ich hab’s geliebt, ich hab‘ es umworben
Und es war gut und freundlich zu mir.
Jetzt brennt noch eine düstre Arbeitslampe
Nach all der Scheinwerferpracht.
Ich geh‘ noch einmal nach vorn an die Rampe,
Leb wohl, adieu, gute Nacht.“ ⁽²⁾
Als das Lied zu Ende war, kam als Echo zu der letzten Zeile eine weibliche Stimme aus der Dunkelheit herüber: „Gute Nacht, Amelie“. Überrascht, dass die Zuschauerin sie nur durch ihren tanzenden Schatten erkannt hatte, antwortete die Tänzerin mit einem Kopfnicken: „Gute Nacht.“ Sie wusste nicht, zu wem sie sprach. Und es war auch egal. Das Geheimnisvolle gab dem Moment seine Einzigartigkeit.
*
Wie ein Kind, für das ein neuer Freund plötzlich das Wichtigste war, spürte Laura schon in der Früh des dritten Tages eine freudige Erwartung, in die sich eine gewisse Bange mischte. Es kam ihr vor, als hätte sie eine heimliche Verabredung, bei der sie nicht sicher war, ob der Partner überhaupt erscheinen würde. So wie man sich in diesem Fall oft viele Gedanken darüber macht, was man anziehen soll, überlegte Laura fieberhaft, welches Lied sie heute abspielen sollte. Sie hatte Lust, in einer anderen Richtung zu forschen. Es ging auch um Licht und Dunkelheit, hatte aber keine Verbindung mit dem Künstlerleben, war eher etwas Provokantes, eine soziale Kritik. Was könnte Amelie damit anfangen? Würde sie vielleicht einfach weggehen und wäre es sogar das Ende ihrer musikalischen Begegnungen?
Laura beschloss, den Versuch zu wagen. Als sie die Musik einschaltete, blieb Amelie länger als sonst sitzen. Anscheinend kannte sie das Stück nicht und musste sich zuerst davon durchdringen, die Melodie und den Text in sich erklingen lassen. Laura fürchtete schon, dass es ein Fehlschlag würde. Dann machte Amelie doch mit.
„Bekämpft und geschlagen,
Zu Grabe getragen.
Ein letztes Stückchen Heimat
Verliert gegen Goliat.
Wo man früher sein Bier trank,
Baut irgend ’ne Großbank einen riesen Betonschrank.
Und er muss raus.
Der Letzte macht das Licht aus.
Der Letzte macht das Licht aus.“ ⁽³⁾
Diesmal, passend zum Text, ging Amelie bei den letzten Worten einfach hinaus. Laura bedauerte, dass sie nicht beim Lichtschalter saß, um kurz die Notbeleuchtung auszuschalten, die völlige Dunkelheit hätte dazu wunderbar gepasst. Für morgen würde sie sich etwas mit dem Licht einfallen lassen.
*
Eine gewisse Traurigkeit schlummerte den ganzen Tag in Amelie, wie immer bei der Abschlussvorstellung. Diesmal noch stärker, als verlöre sie dabei eine Freundin. Eigentlich eine unbekannte Freundin – verrückt! -, die sie hoffentlich noch heute treffen würde. Für einen letzten gemeinsamen Tanz.
Als Amelie nach dem halben Umziehen zurück auf die Bühne kam, herrschte nicht die übliche Dunkelheit. Ein Spot beleuchtete ihren gewohnten Platz in der Mitte. Sie zögerte kurz. Als gleich Musik ertönte, wusste sie, es war kein Zufall, und trat ins Licht. Für den letzten Tag hatte es ihr die Unbekannte nicht leicht gemacht. Aber Amelie wollte sie nicht enttäuschen und gab ihr Bestes.
„Macht der Letzte noch das Licht aus
Gibt’s ein großes Abschiedsfest
Liegen alle sich im Arm
Und sagen schade eigentlich
Irgendwie haben wir das viel zu spät gesehen
Diese Welt war wunderschön“ ⁽⁴⁾
Amelie blieb am Ende in einer letzten Pose stehen. Plötzlich spürte sie, wie sich zwei Arme um ihre Schultern legten, und sie erkannte nun die Stimme. „Deine Tanzwelt ist wunderschön. Danke.“
⁽¹⁾ Allein im Licht – Helene Fischer
⁽²⁾ Leb wohl, adieu, gute Nacht – Reinhard Mey ,
⁽³⁾ Der Letzte macht das Licht aus – Phoenix West
⁽⁴⁾ Der Letzte macht das Licht aus – Robert Redweik
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