Von Peter Burkhard

„Eines Tages bringe ich ihn um.“ „Sprich nicht so“, erwiderte seine Ehefrau und dachte für sich: „Wenn du’s nur endlich tätest!“

Die beiden Rentner Norbert Hahn und Axel Streit bewohnten, zusammen mit ihren Gattinnen, zwei übereinanderliegende Eigentumswohnungen, die Hahns oben, die Streits im Erdgeschoss. Herr und Frau Streit besassen zudem ein kleines Stück Rasen, welches an einen viel begangenen Wanderweg grenzte. Entlang der Grenze, zwischen Grundstück und Weg, hatte Herr Streit seinerzeit Bambus gepflanzt, welcher einzig dazu diente, die freie Sicht der Fussgänger auf seine Wohnung zu verhindern. Rechts neben ihrem Sitzplatz wuchs ein prächtiger, zirka vier Meter hoher Feigenbaum, welcher, sehr zum Verdruss des Ehepaars Hahn, bis vor deren Küchenfenster ragte. Die beiden Paare konnten einander nicht ausstehen. Die gegenseitige Abneigung ging soweit, dass die Parteien, durch das Wohneigentum zur Nachbarschaft verdammt, sich das Leben schwer machten, wo es nur ging.

Herr Hahn und seine Frau störten sich nicht nur an den Ästen des Baums vor dem Küchenfenster. Genauso verhasst war ihnen der kleine Kläffer der andern, welcher seine Geschäfte ungestraft auf deren gepflegtem Rasen verrichten durfte. „Eine Schande ist das“, empörte sich die Hahn jeweils, wenn sie dem Hund zugesehen hatte, wie er sich erleichterte. Am meisten aber, ärgerten sich die zwei über den Bambus, weil er ihnen die Sicht auf den Wanderweg nahm. Um ihre Widersacher ihrerseits zu schikanieren, hängte Herr Hahn, gedrängt durch seine Angetraute, zwei Vogelhäuschen an die Balkonstore, von denen ihre gefiederten Freunde Unmengen an Futterresten, Körnern und Vogeldreck auf die Blumenbeete darunter fallen liessen. Zudem hatte er an der Decke seines Balkons die Attrappe einer Video-Kamera installiert, welche, dank ihres rot blinkenden Lämpchens, ihren Zweck vollauf erfüllte.

Einen ersten Höhepunkt erreichten die Streitereien, nach einer Serie bissiger Briefe vom Erdgeschoss. Norbert Hahn trat in die Küche und wedelte mit dem neusten Schreiben: „Der nächste Angriff! Hör dir das an, … verlange ich ultimativ, dass Sie die widerrechtlich installierte Videokamera umgehend entfernen, sonst …“ Er rückte die Brille zurecht und wollte Luft holen, doch seine Frau fiel ihm ins Wort: „Vergiss es! Natürlich lässt du die Kamera wo sie ist, soweit kommt’s noch!“ Und so blieb die Attrappe wo sie war.

Axel Streit wusste sich in seiner Not nicht anders zu helfen, als sämtliche Ersatzreifen, die sein Peiniger in der gemeinsamen Tiefgarage gelagert hatte, eines frühen Morgens, heimlich auf die Strasse zu befördern, was, wie nicht anders zu erwarten, dessen Rache hinaufbeschwor. 

„Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“, brummelte er, nicht ganz unpassend, als er kurze Zeit später den Feigenbaum unter seinem Küchenfenster mit einigen toten Vögeln behängte, die den letzten Winter nicht überstanden hatten und die er wohlweislich in einer Schachtel aufbewahrte. Die beiden Ehefrauen standen ihren Männern in nichts nach. Frau Hahn liess einmal, rein zufällig natürlich, verdorbenes Fleisch vom Balkon fallen, als der verhasste Wischmopp unter ihnen durchs Gras tollte. Immerhin, der kleine Hund überlebte die Attacke, nach kurzer aber heftiger Leidenszeit.

So wogten die Streitigkeiten über Jahre hin und her. Hie und da führten die Zustände im Haus auch zu eheinternen Reibereien, unter denen der feinfühlige Herr Streit besonders litt. Einmal, nach einem solchen Ehezwist, meinte er zu seiner Frau: „Solange von uns vieren noch mehr als eine Person in diesem Haus lebt, herrscht Krach! Erst wenn mindestens drei gegangen sind, wird wieder Frieden einkehren in diese Mauern, es ist ein Graus.“ „So ist es“, erwiderte seine bessere Hälfte süffisant, „und solltest du es sein, der als Allerletzter geht, dann denk gefälligst daran, der Letzte macht das Licht aus.“ Ihre spitze Entgegnung entlockte ihm ein eher mutloses Lächeln, doch dann umarmte er sie.

Frau Hahn wurde sechs Jahre nach ihrem Mann in den Ruhestand versetzt. Dank der neu gewonnenen Freizeit machte sie es sich zur Gewohnheit, auf ein Kissen gelehnt, aus dem offenen Fenster den Wanderfreunden zuzuschauen, welche an schönen Tagen zuhauf vor ihrem Haus vorbei pilgerten. Oft begleitete sie die Wanderer in ihren Gedanken und ging mit ihnen ein Stück des Weges, um dann ernüchtert wieder zurückzukehren, in die kleine Welt ihres Fensters. Dann wischte sie sich traurig ein paar Tränen aus den Augen, wohl wissend, dass sie ihren Mann nie dazu bewegen könnte, mit ihr auf Wanderschaft zu gehen. Dem Ehepaar Streit blieb das Tun der verachteten Nachbarin über ihnen, nicht verborgen und sie freuten sich diebisch, wenn sie sahen, dass der Bambus in den Sommermonaten besonders gut gedieh und hoch hinaus wucherte. Als Frau Hahn eines Tages die Ausflügler hinter dem Bambus nur noch erahnen konnte und Herr Streit natürlich nicht gewillt war, diesen zurückzustutzen, platzte ihr der Kragen. „Geh zum Friedensrichter“, schrie sie ihren Mann an, „koste es, was es wolle.“ 

Herr Hahn tat, wie ihm geheissen war. An einem Herbstmorgen trafen sich die beiden Rivalen auf dem Friedensrichteramt. Die Verhandlung war zäh, die beiden Männer zeigten sich wenig einsichtig. Sie hatten es allein der tatkräftigen Unterstützung des Friedensrichters zu verdanken, dass sie letztendlich doch noch zu einem Vergleich kamen. Die Streithähne einigten sich darauf, dass der eine jeweils bis Ende Mai und der andere ebenso bis Ende November, den Bambus auf eine Höhe von 140 cm zurückzuschneiden hatte. Die Einigung kam allerdings nur mit einem Widerrufsvorbehalt zustande, der es den beiden Kontrahenten erlaubte, die Meinung ihrer kämpferischen Gattinnen einzuholen. Eine knappe Woche nach dem richterlichen Termin, hielt der Friedensrichter das erwartete Einschreiben in Händen, mit dem Vermerk „Vergleich abgelehnt“.

Der folgende Winter war sehr hart. Herr Streit wurde schwer krank, Bambus und Feigenbaum erfroren und viele Jahresvögel hielten der Kälte nicht stand und starben. Auch der geschwächte Mann kämpfte vergeblich, er erlebte die ersten Frühlingstage nicht mehr und seine Witwe verlor vollends den Boden unter den Füssen. Sie vernachlässigte das Grundstück und kümmerte sich weder um den ruinierten Bambus, noch um den toten Feigenbaum, aber am allerwenigsten interessierten sie die Nachbarn über ihr. 

Auch diese litten. Nicht etwa wegen der tragischen Ereignisse unter ihnen, sondern weil ihnen ein Teil ihres Lebensinhaltes abhanden gekommen war. Der Blick aus dem Küchenfenster war plötzlich frei, nichts mehr trübte die Aussicht auf den Wanderweg. Der kleine Hund, der alte Störenfried, entzog sich ihren Blicken im Gras des wuchernden Gartens und schiss im Versteckten. Die Kamera-Attrappe blinkte umsonst und selbst Körner und Vogeldreck, blieben unbeachtet in den Beeten der Nachbarin liegen und als die Tage wärmer wurden, öffneten sich darin vorher nie gesehene Blüten. Frau Hahn begann sich zu langweilen, die Tage ohne die gewohnten Ärgernisse waren öde. Ihr Gemahl suchte fortan Befriedigung beim Autowaschen und sass schon nachmittags vor dem Fernseher. In den zwei übereinanderliegenden Wohnungen der streitbaren Ehepaare, verflogen Fehden und Zerwürfnisse und schafften Platz für Trübsal und Tristesse.

Bald nach dem Tod ihres Mannes, verkaufte Frau Streit ihre Wohnung und zog, zusammen mit dem kleinen Hund, in die Seniorenresidenz Sonnmatt. Sie bewohnte künftig Zimmer No. 012, einen schönen, hellen Raum im Erdgeschoss, mit einer Aussentüre, die direkt in den Garten führte. Dort war die Witwe häufig anzutreffen, wenn sie unter den Bäumen vor sich hindämmerte. 

Eines abends, Frau Hahn stand am Bügelbrett, wandte sich sich an ihren Mann: „Du sag mal Norbi, wie lange ist das nun her, dass die Streit von hier weggezogen ist, drei Wochen oder sind es gar vier?“

„Weiss ich doch nicht“, brummte ihr Mann und stellte den Ton des Fernsehers lauter, „das interessiert mich nicht, Hauptsache, wir sehen die nie wieder!“

Sie nickte: „Ich frag ja nur. Du hast schon recht, das wäre das Schlimmste, was passieren könnte, aber so übel wird uns das Schicksal ja wohl nicht mitspielen!“

„Hmm.“

Wenig später hiessen die Hahns ihre neuen Nachbarn willkommen, eine junge, sympathische Familie mit drei Kindern. Einen Grossteil ihrer Freizeit verbrachten die neuen Mitbewohner auf dem Sitzplatz vor dem Haus, zusammen mit Frieda, einer sabbernden Deutschen Dogge. Wenn es das Wetter zuliess, feierten und musizierten sie an den Wochenenden, zusammen mit Freunden, am selbstgebauten Grill. Es dauerte nicht lange, bis das alte Ehepaar auch der jungen Familie überdrüssig wurde. Herr Hahn meinte zu seiner Frau: „Liebste, mir schwebt vor, ins Altersheim zu ziehen, ich bin müde, ich mag nicht mehr streiten.“ 

„Du hast recht“, erwiderte sie, „wenn wir Glück haben, ist ein schönes Zimmer frei, wo wir unsere letzten Jahre in Ruhe und Frieden verbringen können.“ 

Schon nach kurzer Wartezeit erhielten die beiden ein schönes, geräumiges Doppelzimmer im ersten Stock der Sonnmatt zugeteilt, No. 112. 

„Jetzt schau dir das an“, Frau Hahn geriet ins Schwärmen, „dieses grosse Fenster und dieser herrliche Blick auf den Garten, wir haben es wirklich toll …“, sie hielt mitten im Satz inne und erstarrte. Dann, nach ein paar Momenten brach es aus ihr heraus: „Um Himmels Willen, nein, nein das darf doch nicht wahr sein! Norbert komm her! Komm schon her und schau dir das an!“ 

Unten, im Schatten sanft wiegender Bambusgräser, sass, wie wenn nichts wäre, Frau Streit. Sie schien völlig ungeniert zu lesen und die Ruhe zu geniessen und wie wenn damit der Sache nicht Genüge getan wäre, rekelte sich der Wischmopp neben ihr im Gras.

 

Der kleine Hund wurde vierzehn Jahre alt. Immer spätabends, wenn es niemand sehen konnte und das Altersheim im Dunkeln lag, öffnete Frau Streit leise ihre Aussentüre einen Spaltbreit und ein paar Minuten später kehrte ihr alter Wegbegleiter, erleichtert und vollkommen unbemerkt zurück ins Zimmer.

 

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