Von Bernd Kleber

„Wie lautet das Thema nochmal?“

Seine Mutter wischt sich hastig eine Träne von der Wange.

„Der Letzte macht das Licht aus!“, sagt Mika deutlich, mit erhobenen Augenbrauen.

„Wunderbar, mit diesem Referat wirst du alle begeistern. Ich bin so stolz auf dich. Wie bist du darauf gekommen?“

„Raschid hat mir geholfen.“

„Und über was referiert er?“

„Er spricht über seine Fußballmannschaft. Wenn Blauer Stern das nächste Spiel verlieren, fliegen sie aus der Kreisliga und der letzte macht dann sozusagen das Licht aus.“

Seine Mutter nickt nur und blickt ins Leere.

Stolz packt Mika seine Schulsachen, aufgeregt pocht sein Herz. Die Generalprobe vor seiner Mutter hat gut funktioniert.

Lange liegt er an diesem Abend wach, bevor er einschläft.

***

Lisa ist fertig mit ihrem Referat. Der Lehrer, Herr Wiesner, blickt in die Klasse.

„Danke, Lisa. Das war sehr aufschlussreich und interessant. Viele Menschen haben damals die DDR verlassen. Da war dies eine geflügelte Redensart geworden: Der letzte macht das Licht aus! Gut umgesetzt.“

Lisa nimmt lächelnd Platz und räumt ihre Sachen in den Schulrucksack.

Nach einer kleinen Pause, während Herr Wiesner im Klassenbuch etwas schreibt, wendet er sich an Mika.

„Nun wollen wir als Letzten dich heute hören. Was hast du uns vorbereitet?“

Raschid stupst Mika an. „Bleib cool, das wird schon.“

Mika geht mit wackligen Knien nach vorn zum Lehrertisch und legt seine Unterlagen ab.

Dann dreht er sich zur Seite, schaltet die Beleuchtung ein und begibt sich danach zu den Fenstern, um die schweren schwarzen Vorhänge zu schließen.

Herr Wiesner kommentiert: „Ah, du machst es aber spannend!“

Mika steht nun vor der Klasse und betrachtet seine Mitschüler, die ihn regungslos ansehen. Er greift nach seinem Heft und blättert es auf. Stille!

„Ich erzähle Euch die Geschichte eines Jungen, der in unserem Alter war und in Pakistan zur Schule ging. In seiner Kleinstadt Ibrahimzai lebten schiitische Muslime, die sich, aus Sorge vor den Taliban, Waffen besorgt hatten. Sie wollten sich nicht kampflos ergeben. Die Taliban sind eine sehr radikale und brutale islamistische Terror-Gruppe. Immer wieder kam es zu Schießereien in dieser Region, die man Hangu nennt.

Man könnte meinen, wir leben weit entfernt und all das dortige Geschehen ginge uns nichts an. Doch ich denke, wir erleben jeden Tag auf dem Schulhof Schimpfwörter wie Kanake, Kartoffel, Schwuchtel oder Behinderter. Mitschüler unterschiedlicher Ansichten und unterschiedlicher Religionen oder Herkunft beschimpfen sich gegenseitig. Das muss doch nicht sein, oder?

Und… Terroristen versuchen auch uns hier in Europa, die Bevölkerung, zu verunsichern.

Aber hört von diesem Jungen, was er erlebte. Sein Name ist Aitizaz.“

Mika hält ein Foto des Jungen hoch und beginnt vorzutragen.

 

Kalt war es an diesem Morgen. Der Schnee hatte das Wellblechdach hoch bedeckt, dass es in Abständen immer wieder knarrte und knackte. Im Kamin flackerte ein Feuer. Aitizaz war spät aufgestanden. Seine Mutter schimpfte, als er noch auf seinem Teppich kniete und betete.

“Aiti beeile dich, du musst noch die Hühner aus dem Stall lassen und dem Hund Wasser geben, mach jetzt endlich!“

Der Junge hatte seine Schuluniform schon an und rannte nun hin und her, hinaus und herein. Zwischendurch trank er von der Milch, die seine Mutter hingestellt hatte, und versuchte, nichts zu verschütten. Er erledigte alles. Dann umarmte er seine Mutter, die ihm Parathas in den Ranzen steckte.

Seine Mutter hatte in der Nacht unruhig geschlafen. In den nahen Bergen waren immer wieder Gewehrsalven zu hören gewesen.

„Wann kommt Papa wieder nach Hause?“, fragte Aiti und unterbrach ihre unruhigen Gedanken.

Seine Mutter seufzte. „Du weißt doch, dass er für uns in den Emiraten schwer arbeitet und Geld verdient. Er kann nicht so bald kommen. Nun lauf aber und sei ein braver Sohn. Inch´ Allah, alles wird gut! Sei fleißig!“

Aiti umarmte sie und versicherte, sie solle sich keine Sorgen machen. Er wird sie in allem unterstützen und ein guter Sohn sein. Dann rannte er los.

Der Schweiß lief ihm durch das Gesicht und brannte in den Augen. Lupo der Nachbarshund kläffte am Zaun. Der Gegenwind war eisig in seinem Gesicht, wie Nadelspitzen. Durch den dichten Nebel konnte er nicht die Berge am Horizont sehen.

Er lief keuchend über den Hof und nahm dann zwei Stufen auf einmal die Treppe hoch in die erste Etage. Die Tür war schon zu. Sein Herz stockte, dann klopfte er. Er atmete mit einem Stoß aus. Eine Stimme dröhnte „Ja!“, jetzt benutzte Aiti die Klinke.

„Du elender Esel, wann fangen wir hier an? Denkst du, wir warten alle auf dich? Meinst du, ich erzähle dir nun alles noch einmal von vorn? Meinst du, wir sollten uns nach dir richten mit der Zeit? Wo ist dein Respekt? Wo ist dein Anstand. Geh in den Hof und melde dich bei mir persönlich mit einer Entschuldigung vor der nächsten Unterrichtseinheit. Raus! Raus!“

Wenig später fand er sich im Hof in Gesellschaft zweier anderer Mitschüler wieder, die ebenfalls zu spät gekommen waren. Mit versteinerter Miene kickten sie Kiesel über den Schulhof und wussten, dass es später noch Ärger geben würde. Nicht nur der Lehrer würde ihnen später eine Rede halten, auch zuhause gäbe es erneut Stress.

Kein Schatten gab es in dem Hof. Die Sonne bestrahlte das weiße Schulgebäude wie ein Scheinwerfer die Tanzszene eines Bollywood-Filmes. Es war eine unechte Sonne, die nicht wärmte. Den Nebel hatte sie jedoch inzwischen ächzend aufgerissen. Die Kälte zeichnete auf der beigen Schuluniform glitzernde Flächen.

„Mann ej, das ist doch Scheiße hier. Unsere Uhr war nachgegangen, bestimmt wieder die Batterien alle. Und ich darf heute nicht zum Kricket zur Strafe.“ Einer der beiden war besonders wütend.

Nun kam noch ein Schüler angeschlurft. Hinter ihm stieb gelblicher Staub in schwachen Wölkchen auf, den er bei jedem Schritt aufwirbelte. Er trabte extrem langsam auf den Hof, als wüsste er, dass er gar keine Chance mehr hatte, ins Klassenzimmer zu kommen. Die drei Jungen sahen sich an.

„Kennst du den?“

Nein! Keiner hatte ihn je gesehen.

Die drei stellten sich nebeneinander auf. Wie Halunken in einem Western sahen sie zu dem fremden Jungen hinüber, der auf sie zukam. Etwas blitzte in der Sonne. Aus seinem Hemd hingen Kabel heraus. Unter dem durchgeschwitzten Stoff der Schulkleidung zeichneten sich rechteckige Flächen ab. Da stimmte etwas nicht. Warum schwitzt er so bei der Kälte? Der Fremde sah sie auch nicht an, hatte den Kopf gesenkt.

Die Jungen waren sich ohne Worte einig, der gehörte zu den Taliban.

Aitizaz sah seine zwei Mitschüler rennen. Nein! Das geht doch nicht. Wo rannten die Idioten jetzt hin?

„Ej!“, rief er laut. Der Fremde, der, aus der Nähe betrachtet, kein Schüler war, knurrte: „Verpiss dich!“

Der Mann sah ihm direkt in die Augen. Er war vielleicht zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Seine Augen leer wie ausgelöffelte Eierschalen. Sein Mund geöffnet. Dann lief er an ihm vorbei in Richtung Schultür.

Aiti bekam kaum Luft.

„Bleib stehen! Stopp!“ … Keine Reaktion!

Kurz überlegte er, ob er auch weglaufen solle. Denn das war ihm zu gefährlich hier. Er dachte an seine Freunde, an seine Lehrer. Was würde passieren?

Er nahm einen der größeren Steine auf und warf ihn nach dem Fremden. Das hilft bei Schakalen auch, wenn sie an die Hühner wollen. Und zielen kann er. Er traf den Mann am Kopf. Dessen Hand schnellte hoch an die Wunde und er schrie auf. Er wankte. Aus der Wunde lief Blut über die Wange des Fremden.

Aiti schrie nun auch.

„Bleib stehen, du Arsch! Was soll das? Was haben dir die Menschen getan? Im Namen Allahs, sei friedlich“

Dann lief der Mann schnell. Aiti rannte ihm nach. Wenige Meter trennten die beiden. Er musste den Kerl umhauen und die Kabel herausreißen. So hatte er es in einem Actionfilm gesehen. Er warf sich mit aller Wucht auf ihn. Wie in Zeitlupe fielen beide Körper um, kamen dem steinigen Boden näher. Dann lagen sie im Dreck. Sie wälzten sich hin und her. Der Mann war stark, wehrte sich. Aiti war auch stark. Aiti drückte den Kopf des Fremden in den Kies. Der ruderte mit den Armen und versuchte, etwas zu greifen.

Dann ein Lichtblitz und der folgende Knall donnerte gegen die Wände der Schule und echote in die Berge…

 

Mika holt tief Luft, seine Stimme war laut und schnell geworden. In der Klasse war es so leise, als wäre niemand mehr im Raum. Mika sieht wieder auf seine Seiten und liest weiter…

 

2000 Menschen waren in dem Schulgebäude, in dem nun alle Fensterscheiben eingedrückt waren. Niemand war im Haus verletzt. Eine riesige Staubwolke sackte in sich schwer zusammen, senkte sich auf den Hof.

Der Attentäter war tot.

Aitizaz starb später im Krankenhaus.

Sein Vater, der zur Beerdigung nach Hause kam, meinte:

„Mein Sohn hat seine Mutter zum Weinen gebracht, aber er hat Hunderte von Müttern davor bewahrt, um ihre Kinder zu weinen.“

Mika holt Luft und spricht weiter.

„Wie das Mädchen Malala Yousafzai Opfer von Fanatikern wurde und angeschossen wurde oder der Lehrer Samuel Paty in Frankreich, weil er Meinungsfreiheit lehrte, seinen Kopf verlor. Die Menschenopfer auf dem Breitscheidtplatz in Berlin oder die getöteten Konzertbesucher im Bataclan Paris, auch jüngst die drei Opfer nach Messerattacke in Nizza, so sterben viele Menschen, über die niemand mehr spricht. Die Terroristen sind Thema in den Medien, wer sie waren, wie alt, ob man sie schon durch Sicherheitskräfte beobachtet hatte.

Wir jungen Menschen aber sind verantwortlich, Toleranz und Nächstenliebe zu leben und dürfen nicht wegschauen, wenn jemand Hass predigt oder hetzt. Wir sollten zusammenhalten.“

 

Mika geht zum Lichtschalter und schaltet das Licht aus. Absolute Dunkelheit. Im Klassenzimmer war die Stille einer unendlichen Leere.

 

* https://de.wikipedia.org/wiki/Aitizaz_Hasan

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