Von Daniel Büttrich

Als er sich bäuchlings auf die Liege sinken ließ, beschäftigte ihn nur ein Gedanke: Ophelia. Er fragte sich seit Tagen, ob es weiterhin Sinn machte, Ophelia verträumte Mails und ausschweifende Whats-App-Nachrichten zu schreiben, oder ob er nicht endlich die nächste Stufe der Annäherung zünden sollte? Zuletzt hatte sich Ophelia dafür entschuldigt, dass sie oft erst spät abends zum Lesen seiner Nachrichten komme, weil sie beruflich so stark eingebunden sei. Dann sei sie aber schon zu müde, um ihm zu antworten. Und wenn sie ihm antworte, wolle sie sich Zeit dafür nehmen. Den darauf folgenden Kuss-Smiley Ophelias hatte er als Zeichen ihrer beharrlich wachsenden Liebe interpretiert, einer heißen, leidenschaftlichen Liebe, die in Kürze offen ausbrechen würde. Als einziges Hindernis für ihre unmittelbar bevorstehende Vereinigung sah er Ophelias berufliche Verpflichtungen an, die sie auch an Wochenenden häufig auf Geschäftsreisen führten. Nachdem nun jedoch ein neuerlicher Lockdown in osteuropäischen Ländern verkündet worden war, der zu einer Absage seines für heute geplanten Konzerts geführt hatte, glaubte er an ein baldiges Treffen mit Ophelia, das sie zusammen führen würde. 

Er spürte den kräftigen Druck von Frauenhänden auf seinem Rücken, und schloss die Augen. Erfüllt von der Idee, heute Abend damit zu beginnen, für Ophelia einen Song zu schreiben, formte sein Mund ein zufriedenes Lächeln. Anstelle des Konzerts, das ihn wie jedes Konzert seiner Band in Lampenfieber versetzt und Nerven gekostet hätte, würde er einen entspannten und romantischen Abend verbringen, genussvoll das Gras rauchen, das er am Wenzelsplatz erworben hatte, und den Songtext für Ophelia schreiben. Später, nachts, würde er vielleicht noch den Nino aus Wien, seinen armen, produktiven Seelenverwandten, anrufen, um Blödsinn zu reden.

Doch es sollte anders kommen.

Die stille Thai-Masseuse hatte sich inzwischen mit ihren Füßen auf seinen Rücken gestellt, und trat auf ihm herum, als ob sie mit Gummistiefeln und festem Schritt durch ein Moor stapfte. Ihm blieb die Luft weg, und er war gleichzeitig froh, dass in diesem Salon die in Prag verordnete Maskenpflicht nicht beachtet wurde. Dann trat die gelenkige und biegsame Masseuse mit ihrem Fuß fest auf seinen linken Oberarm. Es schmerzte grauenhaft. Schließlich trat sie auf den Ellenbogen. Ein leiser Schrei entfuhr ihm. Nachdem die Thailänderin seinen linken Arm minutenlang bearbeitet hatte, machte sie sich in der selben Weise daran, seinen rechten Arm zu massieren. Er war nun aber vorgewarnt und konzentrierte sein Bewusstsein darauf, auf den Schmerz vorbereitet zu sein. Nach einer Stunde war die Behandlung beendet. Er blieb einige Minuten liegen, ehe er sich schwerfällig und von Schmerzen begleitet erhob und anzog. Er gab der Thailänderin ein hohes Trinkgeld.

Als er vor der Tür des Salons stand, begann es zu regnen. Glücklicherweise hatte seine Jacke eine Kapuze. Er ging einige Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, da bemerkte er eine seltsame Veränderung an sich. Die glühende Vorfreude auf den Abend, die er vor wenigen Augenblicken noch empfunden hatte, war jäh aus seinem Inneren entschwunden. Vollkommen seelenlos lief er durch die Stadt, vorbei an vereinzelten Menschen, die im dämmernden Dunkel der Altstadt geisterhaft erschienen. Er zog seine Maske tief ins Gesicht hinein. Auf einmal steuerte er schnellen Schrittes auf einen Passanten zu, der angsterfüllt vor ihm die Flucht ergriff.

„Warten sie, ich brauche lediglich eine Auskunft von Ihnen!“, rief er dem Herrn nach.

„Can you help me?“, fragte er daraufhin ein junges, einheimisches Paar.

„I am searching for the Moldau bridge Čechův most.“

„Ah, you are searching for Kafka?“, fragte die junge Frau lachend.

„Yes, I am on the trails of Kafka´s story „The judgement“, that´s true!“, erwiderte er.

„Oh, that´s very interesting. See, we will try to explain to you!“

Das junge Paar war so freundlich gewesen, ihm den Weg auf seinem Stadtplan einzuzeichnen. Nun wankte er durch das kalte, herbstliche Prag auf der Suche nach der Moldaubrücke Čechův most, von der sich die Hauptfigur Georg in Kafka`s Erzählung „Das Urteil“ nach dem Urteilsspruch seines Vaters stürzte. Die Lokale, Restaurants und Discos hatten geschlossen. Er erinnerte sich, vor einigen Jahren mit einem Schulfreund in einem solchen Lokal ein gutes tschechisches Bier, ein Staropramen, getrunken zu haben. Das war kurz nach seinem Abitur gewesen. Er erinnerte sich in diesem Moment nur an das Bier, das er im Lokal getrunken hatte, und an keine weitere Einzelheit seines früheren Urlaubs. Es war befremdend…

„Ich bin Musiker“, sprach er.

Er wiederholte es.

„Ich bin Musiker!“

Er sagte es jetzt lauter vor sich hin.

„Ich bin Musiker!“, schrie er.

„Musiker bin ich! Oder? Oder nicht?! Bin ich nicht Musiker?!“

Einzelne Passanten wichen auf dem Fußweg vor ihm aus.

Aus einer Seitenstraße rief jemand entfernt:

„I have some weed!“

Er blieb kurz stehen, dann brüllte er in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte:

„I`ll shoot all the drug dealers in their fucking knees! You know? Shut up!“

Er ging weiter.

Was war nur in ihn gefahren? Was hatte die plötzliche, fundamentale Veränderung in seinem Wesen verursacht?

Sein Handy klingelte. Der Name Nino erschien auf seinem Display. Der Name erschien ihm fremd.

„Nie zuvor habe ich diesen Namen gehört!“, dachte er.

Er hob ab und sprach:

„Falsch verbunden.“

Die Welt hatte sich in jüngster Zeit spürbar verändert. Das hatte viel mit eruptiver, brutaler Gewalt zu tun, die Menschen immer häufiger einander zufügten. Mehr noch hatte es mit dem Coronavirus und seinen Folgen zu tun, das in manchen Regionen inzwischen in der 6. oder 7. Welle aufgetreten war. Diese Pandemie hatte zu wirtschaftlichen Krisen, in manchen Ländern zu einer flächendeckenden Verarmung geführt. Die Menschheit war auf die Probe gestellt worden,und sie schien diese Probe nur anfangs halbwegs bewältigt zu haben. Egoismus und Sozialdarwinismus hatten sich ausgebreitet. Für die Menschheit war ein ermüdender Kampf mit persönlichen und gesellschaftlichen Krisen angebrochen, deren Ende nicht absehbar war. Dennoch stemmten sich weiterhin viele Menschen gegen die negativen Auswirkungen, und versuchten einen gemeinsamen Weg aus dem dystopisch anmutenden Dilemma zu finden. Es ging jedoch ein Gerücht herum, das, wenn es sich bewahrheitete, die Situation noch weitaus dramatischer und sogar aussichtslos erscheinen lassen konnte: Es hieß, dass es seit Ausbruch des Virus Menschen gäbe, die die Seelen von Mitmenschen klauten. Besonders gefährdet sollten jene Menschen sein, die feinfühlig, friedfertig und sanftmütig sind. Insbesondere Künstler seien bedroht, hieß es. Die Menschen, die die Seelen raubten, seien häufig sogenannte Stoiker, die den Seelenraub nicht bewusst, sondern unabsichtlich machten. Der Mensch, dessen Seele geraubt sei, habe Krankheitssymptome, die jenen der Demenz ähnelten.

Es hatte aufgehört zu regnen. Er stand am Brückengeländer. Wie er dort so stand und in die Moldau blickte, und die Laternen dem Abend eine stimmungsvolle Atmosphäre verliehen, mochte für einen Unbeteiligten der Anschein entstehen, dass ein junger, nicht unglücklicher Mann auf den Fluss und zugleich hoffnungsvoll in seine Zukunft schaute.

Er aber stand am Brückengeländer und fühlte nichts. Dabei hatte die Moldau ihn in der Grundschule zu Tränen gerührt. Die Moldau von Friedrich Smetana, dieses wunderbare Stück klassischer Musik, das tief gefühlt zu einem Zustand der Demut vor der Schöpfung führt. So wie es seinerzeit bei ihm gewesen war.

Sein Handy klingelte. Der Name Ophelia erschien in seinem Display. Er hob ab.

„Falsch verbunden.“

Er warf das Handy in den Fluss.

Dann drehte er sich um und ging, ließ die Brücke und die Moldau hinter sich. Dieser Tag, der für ihn längst zu Ende hätte sein sollen, ging endlos weiter. 

„Ophelia…. Ophelia….“, stammelte er ausdruckslos vor sich hin, und es erinnerte an die Zombies in Jim Jarmusch`s The dead don`t die, die monoton Konsumwaren aufsagen.

In der Altstadt lud ihn überraschend eine junge Frau zu einem Bierbad ein.

„Mister, die letzte Chance vor dem Lockdown ist heute! Haben Sie Lust auf ein Bierbad?“, fragte sie ihn.

„Ein Bierbad? So etwas wollte ich schon immer einmal machen! Aber ist nicht heute schon der Lockdown?“, erwiderte er.

„Ja, offiziell heute schon. Aber wir machen eine Ausnahme!“, meinte die junge Frau.

„Dann folge ich Ihnen gerne!“, antwortete er.

„Kommen Sie mit?“, fragte er die junge Frau anzüglich, als er vor der Umkleide stand. Sie gefiel ihm. Sie lachte freundlich und verneinte sofort.

„Single bath!“, äußerte sie.

Eine Viertelstunde später saß er in einem Bierbad im Keller eines denkmalgeschützten Hauses in der Prager Altstadt. Im selben Augenblick spürte die thailändische Masseuse, bei der er vor Stunden gewesen war, einen bohrenden Schmerz in der Brust.

„Oh nein, nicht schon wieder die Seele von einem dieser künstlerischen Kunden!“, rief sie, und schlug sich mehrfach mit der Faust auf eine Stelle, die leicht oberhalb des Herzens lag.

Wie von einem Stromschlag getroffen fuhr er hoch und schrie auf. Ein stechender Schmerz bohrte sich tief in seine Brust.

„Hilfe! Ich sterbe!“

Die Tür öffnete sich, und die junge Frau stürzte herein.

„Geht es ihnen nicht gut, soll ich den Notarzt rufen?“, fragte sie ihn voller Panik.

Er stand inzwischen gerade aufgerichtet in der Wanne und meinte:

„Nein. Nun ist alles wieder gut!“

„Ok….. Ja, dann ist es ja gut…. Wenn noch etwas ist, dann einfach Bescheid sagen, ja?“

„Ja. Vielen Dank.“

Er dachte an Ophelia. Er begann, ihr eine große, öffentliche Liebeserklärung zu schreiben: Einen Song. Der erste Song auf dem Album Der Letzte macht das Licht aus, das im neuen Jahr wieder Geld in die Bandkasse spülen würde. Er fühlte sich wie neugeboren.

Ophelia, ich bin jetzt da, ich finde dich, so schön vermummt, ich bin verstummt! Ein Augenpaar, hey, wunderbar! Worte, die verblüfft sich selbst verlachen, erfunden, dir ´ne Freude zu machen! Ophelia, es ist mir klar, du bist das, was ich niemals war!