Von Maria Lehner

Es ist eine ruhige Saison im kleinen Fischerdorf. Das „Beach-Festival“ fällt aus. Nicht nur wegen COVID-19. Es passieren so viele andere Dinge. Menschen kommen und dann – nein: nicht daran denken! Sich über jeden freuen, der noch kommt. Es kommen ohnehin nur mehr Hippie-Nostalgiker. Sie sehen mit altersweitsichtigen Augen sehnsüchtig hinauf zu den Höhlen, umarmen sich innig, stützen sich gegenseitig, beschwören alte Träume und singen die alten Lieder. Sie tragen Blumen im schütteren Haar, ausgebleichte T-Shirts und zerrissene Jeans mit Schlag. So etwas kann man heutzutage im Internet bestellen. Eftichía, die Tavernenwirtin, kann sich an viele von ihnen erinnern. Sie sieht sie kommen. Immer wieder. Aber dann… Nicht daran rühren…

 

Undeutlich lesbar sind die Schriftzüge an der Mauer der Taverne „Today is life, tomorrow never comes“. Früher war das ein beliebtes Fotomotiv. Ein VW-Bus hält. Vier Menschen steigen aus; langsam, dann strecken sie sich. Gelenke knacken. (So ist das, wenn man nicht mehr ganz jung ist. Nicht lachen jetzt!). 

 

Efitchía hält sich die Hand vor die Stirn und kneift die Augen zusammen: sie erkennt sie wieder. Lange Zeit hatte ein Foto der vier, auch Giannakis und sie waren darauf zu sehen, in der Taverne gehangen. Zuletzt ganz verblasst. Sie sieht an ihnen, wie viel Zeit vergangen ist. Ihr Giannakis ist tot, sie selbst ist Großmutter. Da waren damals die „Jermanídes“, diese Deutschen: ein Bautechniker, eine Sozialpädagogin, „der Professor“ (das war sein Spitzname) und einer den alle damals schon den „Aussteiger“ nannten. Sie hatten eine Zeitlang oben in den Höhlen gehaust, bis die Polizisten kamen und dem ein Ende machten. Dann schliefen sie auf dem Flachdach der Taverne. Man konnte sich seither im Dorf etwas unter „freie Liebe“ vorstellen. Sie mochte die vier, obwohl ihr Großvater gesagt hatte, dass von Deutschen nie etwas Gutes käme. Aber das kommt noch vom Krieg her, dachte sie damals.

 

Sie erfährt: Zwei von ihnen, „der Professor“ – ja richtig: er heißt Rüdiger – und Claudia, „die Sozialpädagogin“, sind mit diesem VW-Bus aus Frankfurt gekommen. Am Flughafen in Heraklion haben sie Heinz, sie nannten ihn früher den „Bautechniker“, und den „Aussteiger“, Günter, abgeholt. Jetzt sind die vier wieder komplett. Für Günter, der immer noch ein Aussteiger ist, hat Heinz, der erfolgreiche Unternehmer, das Ticket bezahlt. Zurück wollen die vier gemeinsam. Ein Sammlerstück ist der Bus. Hippieblumen und Yin-Yang-Symbole sind aufgemalt. 

Irgendetwas zwingt Eftichía, den Blick nach oben zu richten: Am Felsenvorsprung kreisen Raubvögel. Schon wieder. Man kennt sie im Dorf als Vorboten. Efitchía fröstelt.

 

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Sie öffnet ihnen die Garage für den Bus, gibt ihnen die Zimmerschlüssel, stellt Getränke und Imbiss bereit und holt das Brot (obwohl noch nicht ganz fertig) aus dem gemauerten Backofen. Günter knüpft seine Hängematte zwischen zwei Olivenbäumen auf. Die Fensterläden werden geschlossen.

 

Claudia, die Sozialpädagogin im Ruhestand, hat noch immer den rotgefärbten Wuschelkopf. Günter hat weißes Haar, lang, aber nicht mehr wallend, dazu ist es zu schütter. Rüdiger ist jetzt tatsächlich Professor und bemüht sich mit Patchwork-Kappe und Rauleder-Gilet um Hippie-Style. Das Lacoste-Shirt von Heinz ist ein Stilbruch. Er hat eine Baufirma. Wohnen werden sie über der Taverne auf Einladung von Heinz. Vier geräumige Luxuszimmer mit WLAN. 

 

„Manoli!“ ruft eine junge Frau gellend. Beinahe panisch packt sie ihr Kind an der Hand und zieht es rasch ins Haus. Eftichiá ist froh, ihren Enkel im Haus zu wissen. Eine Stille liegt über der Landschaft. Und doch auch etwas wie ein Keuchen. 

 

Für die vier ist die Zeit des Pennens in den Höhlen oder auf dem Flachdach vorbei. Sie sind jetzt zwischen 68 und 75. Sie haben Dinge an sich, die sie früher nur vom Wegschauen kannten: Schürzenbauch, Schlabberhaut, Krampfadern, Haarausfall – und doch werden sie ein paar Tage wieder jung sein. „Today is life“, wie der Schriftzug sagt. Eine innere Unruhe packt sie. Vorfreude? „Ruhig hier“ meint Heinz. Kein Windhauch. Keine Zikade. Nur die Herzschläge der vier. Und doch noch etwas Anderes, kaum wahrnehmbar.

 

So ist der Plan: Sie werden sich aufladen mit der Musik von damals, dem Wein, dem Ouzo und mit der Zigarette („der“ Zigarette!). Irgendwann wird jemand sagen – wie früher, wenn alle recht zugedröhnt waren und der Reihe nach schlafen gingen – „der letzte macht das Licht aus“. Es wird demjenigen gelten, der als letzter in seine Höhle oder in seinen Schlafsack stolpert – nein: in sein Boxspringbett fällt. Das Meer liegt metallisch gleißend da, wie erstarrt. Etwas braut sich zusammen, noch weit weg, aber für die Dorfbewohner längst spürbar. Eine von „den“ Zigaretten wird herumgereicht.

 

Außer den Jermanídes ist niemand im Freien. Die anderen, die da lauern, kann man genau genommen weder mit Menschen noch mit Tieren vergleichen, sie sind nein, nicht davon sprechen! Die vier essen Häppchen zum Ouzo.

 

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Sie diskutieren und ihre Stimmen prallen vom Wellblech-Garagentor zurück: Rüdiger hadert „Unsere Hoffnungen sind nicht aufgegangen“. Er meint, der Nationalsozialismus wurde aufgearbeitet, aber da käme so viel Neues zutage, so viel Braunes. Wo kommt das her? Den ökologischen Traum konnte man nur teilweise leben wie geplant. Mit der Konsumverweigerung ist es nicht weit her. Der Slogan „Das Politische ist privat“ ist unpopulär geworden. Die Zivilgesellschaft kränkelt. Wenigstens die Geschlechtersymmetrie scheint auf einem guten Weg, oder? Das mit der freien Liebe war dann doch nix. Die Unterjochung der Dritten Welt – nun ja, man spendet. Ob die Kunst die Welt revolutioniert und soziale Verantwortung übernommen hat, kann man grade nicht sagen wegen der Pandemie. 

In die Diskussion hinein hört man ein Geräusch wie ein Knurren. Claudia denkt darüber nach, ob sie wieder Katzen retten soll. 

 

So werden die Träume von damals um- und umgewendet. Man hat für die Gäste Getränke in einem Kübel mit mittlerweile schmelzendem Eis bereitgestellt. Von Bier zu Bier, von Ouzo zu Ouzo werden die Diskussionen heftiger. Günter zieht sich in seine Hängematte zurück. Er nimmt nicht wahr, dass etwas an ihm zerrt. Er fühlt sich so weich und ergibt sich dem, was da ist. Die anderen drei meinen später, er sei eben schon in seinem Zimmer. 

Manolis hat etwas gehört, er will aus dem Fenster schauen, seine Großmutter zieht ihn weg und schließt die Fensterläden.

 

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Claudia erzählt von Auseinandersetzungen damals mit ihren Eltern. Sie bilanziert: ihre eigenen Kinder widersprechen kaum, lassen einen aber auch nicht an sich ran; sie streben nach beruflichem Erfolg und nach Geld, machen nie Urlaub in einem Zelt oder mit Rucksack und Schlafsack.

Rüdiger, der als Historiker unter anderem über „1968“ Vorlesungen hält, berichtet: Wenn er von den in die Hörsäle drängenden Massen redet, die Reform und Teilhabe forderten, sitzen die meisten mit gesenkten Köpfen an ihren Mobiltelefonen. 

Heinz wird weinerlich, hadert mit allem, was verlorengegangen ist und fängt an, sich für das zu entschuldigen, was er erreicht hat. Er könne sich einen Ausstieg vorstellen. Und wie es denn wäre, wenn man sich hier einen kleinen Bauernhof mieten würde… 

 

Claudia muss kotzen. Nicht deswegen. So allgemein. Der Ouzo und das Leben. Etwas folgt ihr in ihrem Schatten zur Toilette. Man hört ein Keuchen, ein Japsen, einen kurzen Aufschrei, einen Plumps und ein schleifendes Geräusch. Das heißt: man könnte es hören, wenn man nicht grade verbissen diskutieren würde. 

Manolis darf heute schon am Nachmittag fernsehen. Das freut und wundert ihn.

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Abends fahren heute die Fischer nicht hinaus. Keiner kommt. Keiner geht. Die Musik aus dem mp-3-Player dudelt vor sich hin. Gegen Mitternacht wird auch Rüdiger müde. Bevor er sich zurückzieht, sagt er zu Heinz „Der Letzte macht das Licht aus“. Dann ist er plötzlich außerhalb des Lichtkegels verschwunden. Heinz sieht ihn nicht die Treppe hochgehen, denkt sich aber nichts dabei. Er will überhaupt nicht mehr denken. Schwere Schritte tappen heran.

 

Aus dem Player tönt „Good morning starshine/ The earth says hello/You twinkle above us/ We twinkle below“. Heinz singt mit: „Gliddy glub gloopy/ Nibby nabby noopy/ La lo lo“. Etwas lehnt sich an seinen Rücken. Ein kurzer Schmerz. Er seufzt glücklich. Das Gefühl in der Brust, so leicht, wie ein Sich-Verströmen. Wie ein Hochgehoben-Werden, ein Davonschweben. Er greift nach den Sternen, als wollte er an einem Dimmer drehen: „Singing a song/ Humming a song…“ Das Licht ist gelöscht. Er lächelt.

 

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In den Höhlen oben wieder ein Geräusch wie ein Platschen. Zum vierten Mal schon fällt etwas Schweres auf kleine Steinchen oder Knöchelchen. Raubtiere werden kommen. Und schließlich werden da nur mehr die weißen Knöchelchen sein, wie die vielen anderen, die da schon liegen. Und nicht mehr das Schwere. Rein und weiß wird alles daliegen. Der Wind wird darüber hinwegstreichen.

 

So friedlich war einst alles gewesen. Man hatte aus Wildgräsern Feldfrüchte gezüchtet und Vorräte angelegt. Wilde Tier zähmte man. Und scharrte diese Höhlen aus dem Sandstein. Ein Dorf entstand. Und irgendwann eine heilige Stätte der Römer, die hier ihre Toten begruben. Bis all das entweiht wurde durch Bärtige und Langhaarige, die Substanzen in Rauch aufgehen ließen, sich in der heiligen Stätte torkelnd paarten und Lieder grölten, in denen „Gliddy glub gloopy/ Nibby nabby noopy“ vorkam.

 

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Efitichía sieht die vielen Vögel oben bei den Höhlen kreisen. Unter einem grellweißen Himmel. Sie räumt die Flaschen und Zigarettenkippen weg, stapelt die Sessel und wischt die Tische ab. Wie immer spritzt sie auch die Bodenflächen mit dem Schlauch ab. Viel Wasser rinnt davon, bis es klar und hell bleibt. Und wieder ist da der Geruch. Immer, wenn der Wind von den Höhlen herunter weht. Sie wird zur Reinigung wieder Beifuß, Wilden Salbei und phönizischen Wacholder räuchern.

 

Soll man den Schriftzug „Today is life…“  im nächsten Jahr noch nachziehen?

 

Version 3