Von Agnes Decker
„Würden Sie alles noch einmal so machen? Gibt es irgendeinen Schritt, den Sie bereuen?“ Ich starre die Frau an, aus deren Mund diese Worte gekommen sind. Warum will sie das wissen? Ob ich etwas bereue? Ob ich alles genauso machen würde, wie ich es getan habe? Wer will das schon?
Das Gesicht vor mir wird plötzlich wie von einem Zoom nahe an meines herangezogen. Wieder weg geschoben. Mir ist schwindlig. Vor und zurück, vor und zurück. Ich möchte gehen. Durch den langen grauen Flur, mit klopfendem Herzen. So, wie ich gekommen bin. Schnell, bis zum Aufzug. Einsteigen, aussteigen. An der Empfangsdame vorbei, die Glastür öffnen. Frische Luft, tief einatmen.
„Entschuldigung, ich hatte Sie etwas gefragt.“ Die Stimme bohrt sich in meinen Kopf, unterbricht meine kreisenden Gedanken. Das Gesicht vor mir ist jetzt scharf zu erkennen. Die tiefrot geschminkten Lippen, die getuschten Wimpern, die zusammengeklebt sind und aussehen, wie …? Wie nennt man es noch? Fliegenbeine, ja ich glaube Fliegenbeine. Komisch. Wie kann ein Mensch Fliegenbeine haben? Ein Kichern drängt nach oben. Noch brodelt es wie Brausepulver in meinem Bauch. Weiß nicht, wie lange ich es nach unten drücken kann. Bald wird es wie eine Fontäne …
„Frau Weiler. Geht es Ihnen nicht gut?“ Ich schaue dem Gesicht jetzt in die Augen. Sie sind von einem wässrigen, kühlen Blau, mit einem gleichfarbigen Kajalstift umrandet. Darüber die rotbraunen, aufgemalten Augenbrauen. Das passt nicht zusammen, möchte ich sagen. Das kalte Blau und das warme Braun.
„Danke, es ist nur … . Ach nichts.“ Ich höre mein eigenes Stammeln und das Zittern in meiner Stimme. Es legt sich über das Kichern, drückt es zusammen, bis es einen dicken Klumpen bildet, der nach oben steigt und in meinem Hals steckenbleibt. Ich räuspere mich.
„Wir können eine Pause machen, wenn Sie möchten.“ Die Stimme der Dame, die mir gegenüber aufrecht in dem roten Ohrensessel sitzt, ist hoch und hat etwas Korrektes. Zu hell für ihr Alter und zu korrekt.
Sie hat jetzt die gepflegten Hände mit den kurz gefeilten und zart lackierten Fingernägeln in den Schoss gelegt. Ineinander verschlungen, so als würde sie beten. Vielleicht wünscht sie sich ja, ebenso wie ich, dass dieses Gespräch schnell vorbei geht.
Eine Weile ist es still. Nur das Rauschen der Heizung ist zu hören und ein Plätschern, so als müsse sie entlüftet werden.
„Message in a bottle“, platzt es da aus mir heraus. „Von Police. Sting, wissen Sie“, ergänze ich, als würde das etwas erklären.
„Was wollen Sie mir damit sagen, Frau Weiler?“ Die Stimme ist jetzt etwas tiefer geworden, angenehmer. Wahrscheinlich ist sie froh, dass ich endlich angefangen habe. Dabei wollte ich etwas total anderes sagen. Aber irgendwie… Ich räuspere mich erneut.
Leise beginne ich die Melodie zu summen, ganz leise. Dann fange ich an zu singen, den Text, den ich erst viel später verstand. Nie vergessen habe. Der verschüttet war lange Zeit, ganz tief in einer nicht benutzten Ecke meiner Seele. „More loneliness than any man could bear.
Rescue me before I fall into despair”, singe ich und kann hören, wie meine Stimme zittert. „Kennen Sie das Lied?“
Die Frau in dem roten Ohrensessel schüttelt den Kopf. „Erzählen Sie mir davon. Warum es Ihnen so wichtig ist.“
„Es ist ein Lied über die Einsamkeit eines Schiffbrüchigen, wissen Sie“, beginne ich mit leiser Stimme, „der eine Flaschenpost an die Welt sendet in der Hoffnung, dass ihm jemand antwortet. Dessen Hoffnung nicht gebrochen wird, obwohl er über ein Jahr wartet, ohne eine Antwort zu bekommen. Der fest davon überzeugt ist, dass es immer eine Hoffnung gibt, und dass auf jeden eine Liebe wartet, eine Liebe die alles in Ordnung bringt, aber auch das Herz brechen kann. Und eines Morgens, als er aufwacht, sind Milliarden von Flaschen angeschwemmt worden auf seiner Insel. Abgeschickt von Schiffbrüchigen aus aller Welt.“
Die Frau im Sessel gegenüber hat noch immer die Hände ineinander geschlungen. Ihr Gesicht ist weicher geworden. Sie schaut mich nur an. Wir schweigen. Draußen geht mit einem Aufblitzen die Straßenlaterne an und taucht den Raum in ein unwirkliches Licht.
„Es war sein Lieblingslied.“ Meine Stimme ist leise geworden, zart, fast zerbrechlich. „Er hat mitgesungen, als wir getanzt haben. „Message in a bottle“, hat er gesungen mit seiner schönen Stimme. Immer näher hat er mich an sich herangezogen. Ich konnte seinen Atem spüren. Es hat gekitzelt. In meinem Ohr. Dann sind wir stehen geblieben. Als das Lied vorbei war. „Weißt du, was es bedeutet“, hat er mich gefragt.
„Ja klar“, habe ich geantwortet. „Ich liebe Sting. So schöne Lieder. So romantisch.“
„Romantisch“, hat er mir ins Ohr geflüstert. „So, so. Romantisch.“ Dann hat er meine Hände von seinem Nacken gelöst, wo ich sie hingeschoben hatte, beim Tanzen. „Romantisch“, sagte er noch einmal und schaute mich an.
Mir ist heiß geworden und ich habe angefangen zu schwitzen. Ich kann es heute noch riechen, wenn ich daran denke, die Feuchtigkeit unter den Achseln und Brüsten spüren. Und, dass ich gedacht habe, hoffentlich riecht er es nicht. Er hat mich einfach nur angeschaut. Ich konnte die Enttäuschung in seinen Augen sehen.
„So blond, wie du bist, kann man gar nicht sein“, sagte er. Und dann hat er gelacht, so ein kurzes, bitteres Lachen, mich von sich geschoben und stehen lassen. Mitten auf der Tanzfläche. Ist zu seinen Freunden gegangen. Sie haben mich alle angestarrt. Ich habe mich so geschämt. Wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Nur, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Und das, obwohl ich alles vorher durchgespielt hatte. Immer und immer wieder. In meinen Gedanken. Damit ich alles richtig mache, beim ersten Mal.
Ich hatte das kurze, schwarze Kleid angezogen, das mit dem V-Ausschnitt, das alles verbirgt, aber viel verspricht. Nur etwas Lipgloss, ein wenig Rouge. Die Haare solange gebürstet, bis sie glänzten. Hatte vor dem Spiegel geübt, wie ich ihn anschauen würde, so schräg von unten, den Kopf auf die Seite gelegt. Versucht, meiner Stimme einen verführerischen Klang zu geben. Alle Eventualitäten glaubte ich, in Gedanken durchgespielt zu haben, und dann kam diese Frage, deren Antwort ihm so wichtig zu sein schien, die Frage, wie mir das Lied gefalle und ob ich wisse, was es bedeute. Ich hatte schnell irgendetwas geantwortet, wollte es so aussehen lassen, als ob ich Bescheid wüsste.
Dabei sang ich zwar alle englischen Texte mit, aber ohne sie zu verstehen. Hatte mir nie die Mühe gegeben, sie zu übersetzen.
Damals konnte man noch nicht im Internet googeln, so wie heute. Heute gibt man „Message in a bottle“ in die Suchfunktion ein und „deutsch“, und in kurzer Zeit erscheint der Text.
Als ich aufhöre zu sprechen, kann ich die Stille im Raum fast anfassen. Die Frau, die mir gegenüber sitzt, wendet ihren Blick ab. Als wolle sie mir die Möglichkeit geben, meine weit geöffnete Seele zu schützen vor ihren fremden Blicken.
„Das ist es, was mir einfällt, wenn Sie mich fragen, ob ich etwas bereue in meinem Leben“, sage ich. „Dass ICH ihn nicht gerettet habe und er mich nicht retten konnte, verstehen Sie?“
„Ja, ich verstehe“, sagt die Frau, und schaut mich jetzt wieder an.
„Danke“, sage ich. Dann stehe ich auf und verlasse den Raum.
Message in a Bottle ist ein Lied von The Police aus dem Jahr 1979
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