Von Christoph Klaus
Ich gebe zu, dass ich von technischen Dingen nicht viel verstehe, im Gegensatz zu meinem Kumpel Jan. Der macht irgendwas mit Elektronik und verdient sich jetzt bei einem großen Automobilkonzern das letzte bisschen Verstand aus dem Schädel. Ich hingegen war schon immer mehr der intellektuelle Typ. Deshalb bin ich auch Soziologe geworden. Lachen Sie nicht! Ich habe auch nicht viel zu lachen. Anfangs dachte ich, es wäre die perfekte Berufswahl für mich: Statt trockenem Büffeln in Hörsälen oder Seminarräumen, Feldstudien in der realen Schankwirtschaft. Leider hat mir vorher niemand gesagt, dass man auch als Soziologe ein Mindestmaß an technisch-praktischen Veranlagungen aufweisen muss, um sich wenigstens als Taxifahrer durchs Leben schlagen zu können. So lebe ich die letzten zehn Jahre, die seit Beendigung meines Studiums vergangen sind, von Existenzbeihilfe und meinem Kumpel Jan, der mir ab und zu in der Kneipe die Rechnung bezahlt. Doch damit ist es jetzt vorbei!
Ja, ich habe gleich mein erstes richtiges Vorstellungsgespräch für einen richtigen Job. Meine letzte Chance, und ich bin festen Willens, die zu nutzen. Ich habe gerade meine Wohnung verlassen und werde jetzt mit dem Aufzug nach unten fahren. Aufzüge, interessante Dinger übrigens. Ich weiß zwar nicht – wie gesagt, technischer Schimpanse –, wie die funktionieren, in anderer Hinsicht sind sie aber für mich von professionellem Interesse. Habe während meines Studiums darüber sogar mal eine Abhandlung geschrieben.
Haben Sie schon einmal in bewusstem Erleben einen Aufzug benutzt? Sie drücken einen Knopf und gleich darauf setzt dieses summende Geräusch ein, das einem das beruhigende Gefühl vermittelt, dass alles in Ordnung ist. Und auch die Etagenanzeige, die je nach Fahrtrichtung in gleichmäßigem Rhythmus rauf- oder runterzählt trägt dazu bei. Jedes Umschalten auf die nächste Zahl bewirkt eine Ausschüttung von Dopamin. Besonders dann, wenn man allein unterwegs ist, ist das so wichtig. Solche positiven Emotionen können ganze Gesellschaften zusammenhalten. Haben Sie das noch nie in dieser Form wahrgenommen? Gut, dann ist jetzt die Gelegenheit dazu. So, passen Sie auf, ich drücke jetzt den Knopf. Hören Sie: Suummmmm… Stille. Was war das? Habe ich nicht richtig gedrückt? Ich drücke ein zweites Mal. Jetzt passiert gar nichts. Kein Summen, nicht mal ein kurzes, kein Umschalten der Anzeige. Da will man mal etwas demonstrieren und gerade dann geht es nicht. »Vorführeffekt« nennt man das wohl. Warten Sie mal einen Moment. Ich tue es ebenfalls und mache einen neuen Versuch. Wieder nichts. Ich spüre ein leichtes Hitzeempfinden in mir aufsteigen. Blick zur Uhr. Noch 30 Minuten bis zum Vorstellungstermin.
Seit zehn Jahren wohne ich in diesem Haus. In dieser Zeit hat der Aufzug immer funktioniert, ohne Probleme. Und gerade heute muss der Apparat streiken? Oje, habe ich ihn vielleicht gerade selbst kaputt gemacht, im Überschwang meiner Erwartungsfreude den Knopf zu stark gedrückt? Wenn man keine Ahnung hat, wie etwas funktioniert, kann das einen schnell in diese Verunsicherung stürzen. Zudem wäre es mir äußerst unangenehm, als Zerstörer dazustehen. Ich drücke nochmal, diesmal im Rüttelbetrieb. Sollte er sowieso schon hinüber ist, kann ihm das dann auch nichts mehr anhaben.
Helfen tut es aber nicht.
Langsam werde ich nervös. Ich habe mich noch nie in einer solchen Situation befunden. Was soll ich tun? Zunächst einmal kühlen Kopf bewahren, das heißt, lieber erst noch einen bangen Blick zur Uhr, dann in Panik geraten und anschließend den kühlen Kopf; so herum ist es besser.
Irgendwo muss doch ein Knopf sein, der einen mit so einer Art Servicezentrale verbindet. Mit zuckenden Schultern und ungelenken Gesten fuchtele ich über die übersichtliche Anzahl der hier verbauten Bedienelemente, doch ich finde ihn nicht. »Es muss einen geben«, sagt mir meine innere Stimme. »ES GIBT HIER KEINEN!«, brülle ich ihr ins Gesicht zurück, während mein Blutdruck bis Oberkante Kleinhirn steigt. »Bisher hatte der dich auch nicht interessiert«, trete ich noch nach. Dann beende ich diesen schizophrenen Monolog, der nur in Schuldzuweisungen ausufert und hier völlig kontraproduktiv ist. Hätte ich mich mal schon früher mit einem derartigen Szenario auseinandergesetzt, aber wer tut das schon freiwillig? Jetzt ist die Kacke am Dampfen! Der Termin für das Vorstellungsgespräch dürfte kaum noch zu halten sein. Irgendwie muss ich die Maschine in Gang bringen.
Not – und Hypertonie ist, wenn man der Ärzteschaft und der Pharmalobby Glauben schenken darf, derer eine der ärgsten – macht bekanntermaßen erfinderisch. Also lasse ich meinen letzten Rest an verfügbarem Hirnschmalz zusammenlaufen, um nachzudenken. Schließich bin ich ein Intellektueller und somit ist Denken meine einzige Fähigkeit, auf die ich mich verlassen kann. Richtig, da war doch etwas! Neulich lief dieser Film im Fernsehen, wo sich ein Mann in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Der war technisch genauso tiefbegabt wie ich, konnte sich aber helfen. Mit seinem Taschenmesser hat er die Schrauben vom Bedientableau herausgedreht und es abgenommen. Dann hat er zwei Drähte durchgeschnitten, miteinander verbunden und zack, oder summ, ging alles wieder. Er hatte zwar keinen Schaltplan, so wie ich; wahrscheinlich hätte er ihn ohnehin nicht lesen können, so wie ich; aber der Laie braucht keinen Schaltplan, jedenfalls nicht im Fernsehen. Ich fühle mich zwar nicht wie im Fernsehen, eher wie im schlechten Kino und noch dazu im falschen Film, aber versuchen muss ich es trotzdem. Also, zuerst die Schrauben rausdrehen und dann weitersehen… ach nein, geht ja nicht. Ich bin ja ein Intellektueller und habe gar kein Taschenmesser.
Transpiration im Endstadium setzt ein. Wenn man den finalen Hieb des eigenen Schicksals in Zeitlupe auf sich einprügeln sieht, kann einem das ungeheure Kräfte verleihen. Diese artikulieren sich in Form von wummernden Geräuschen, erzeugt durch Schlagen mit beiden Fäusten, nach Eintreten eines inakzeptablen Schmerzempfindens in den Handballen nur noch mit der flachen Hand gegen die aus gebürstetem Edelstahl bestehende Tür. Öffnen tut sie sich davon allerdings nicht. Das darf sie auch nicht, wenn der Fahrkorb zwischen zwei Etagen festhängt, schon aus Sicherheitsgründen. Nutzlos wäre es ohnehin. Solange er sich keinen Zentimeter von der Stelle rührt, keine Chance.
Das war es dann also. Zwar stelle ich weiterhin Überlegungen an, wie ich das Ding irgendwie in Bewegung setzen könnte, um mir nicht selbst wie ein Versager vorzuzukommen. Dies geschieht zugegebenermaßen jedoch nur halbherzig und in der sich fundierenden Erkenntnis, damit keinem weiterführenden Zweck zu dienen. Meine Gedanken schweifen ab zu Jan. Hätte er mit seinem Sachverstand hier vielleicht etwas ausrichten können? Als Fachmann vielleicht. Aber ohne Schaltplan? Nie und nimmer, da bin ich mir sicher. Und schon fühle ich mich nicht mehr als Versager. Wenn es so sein soll, dann soll es eben so sein. Ich bin bereit, der Fatalität ins Auge zu blicken. Nebenbei zähle ich erst die letzten Minuten, dann die letzten Sekunden bis zum Verpassen meiner letzten Karriereoption herunter. Aus. Totenstille für einen Moment. Dann höre ich hinter mir ein Geräusch. Ich wende mich um. Ein Mann mit Arbeitsanzug und Werkzeugkoffer läuft an mir vorbei und erklärt:
»Der ist defekt. Sie müssen die Treppe benutzen.«
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