von Claudia Grothus

 

Die pinkfarbene Unwetterzelle auf Jonas‘ Display würde gegen 17 Uhr seinen roten Standort-Punkt erreichen. Es war halb drei und früher hätte man das, was jetzt draußen vor sich ging, schon einen Schneesturm genannt.

Mit einer Einkaufstasche und einem Sixpack Wasser stieg Jonas in den Aufzug. Die Fahrstuhltür schob sich mit ihrem seelenlosen Rollen zu. Das Bild der wirbelnden Schneeflocken hinter der gläsernen Haustür wurde schmaler und verschwand. Mit einem sanften Ruck wurde er angehoben.

Jonas kannte die stoische Langsamkeit des Aufzugs. Dieser Lift im betreuten Wohnen bewegte sich genauso gemächlich wie die Alten mit ihren Rollatoren.

Er hatte es eilig. Er wollte zu Hause sein, bevor der Sturm richtig losging. Hätte er nicht den Jeep, wäre er gar nicht mehr aufgebrochen. Bea nannte den SUV „unsere Klimawandel-Familienkutsche“.

Die Einkäufe waren für seine Mutter. Entgegen seinem Rat hatte sie sich nicht mit Wasser und Lebensmitteln eingedeckt. Alte Menschen hielten Extremwetter immer noch für unwahrscheinlich.

Das unvermittelt heftige Wackeln, mit dem der Aufzug zum Stehen kam, ließ Jonas kurz in die Knie gehen. Schwankend stützte er sich an der Wand ab. Die Beleuchtung in der Kabine flackerte und verdunkelte sich zu einem trüborangen Notlicht.

Was war das jetzt? Wahrscheinlich ein Stromausfall. Jonas fluchte leise, während er die Notfalltaste drückte.

Es passiert nichts. Er drückte nochmal und zählte langsam bis fünf.

Nichts.

Etwas nervös malte er das Entsperrungsmuster auf sein Handy. Kein Netz.

Saß er jetzt etwa hier fest? Die Wetterdienste hatten die mögliche Dauer des Schneesturms mit bis zu 20 Stunden angekündigt.

Jonas schätzte seine Chancen ab: Ein Stromausfall, vielleicht sogar in der ganzen Region, würde nicht mit dem Sturm enden. Bevor irgendein Techniker eine Leitung reparieren konnte, mussten erstmal die Straßen freigeräumt werden.

Das durfte jetzt echt nicht wahr sein!

„Hallo?“, rief er. Wahrscheinlich hörte ihn keiner. Hier lebten nur lauter schwerhörige Senioren. Wütend trat er gegen die Aufzugtür. Er musste nach Hause zu seinen Kindern!

Draußen rührte sich nichts. Resigniert rutschte Jonas mit dem Rücken an der Metallwand hinunter. In der Hocke starrte er die Plastikhülle des Sixpacks an. Das schummrige Licht beruhigten ihn ein wenig. Es war so still, dass er seinen eigenen Atem hören konnte.

Als er eine Weile so dasaß, fühlte er etwas seltsam Vertrautes, etwas lange Vergessenes: Er war allein. Überrascht stellte er fest, dass dieses Gefühl erleichternd war.

Er war allein hier in dieser chromglänzenden Kabine und konnte nichts anderes tun, als zu warten. Wann hatte er das letzte Mal nichts getan?

Jonas lehnte seinen Kopf zurück gegen die hohle Wand und schloss die Augen.

Eine übermächtige Erschöpfung nahm ihn in Besitz und er wehrte sich nicht. Seit Freddys Geburt hatte es keine ungestörte Nacht mehr gegeben, keinen gemütlichen Abend, keinen späten Sonntagmorgen in Pyjamahose, bei Kaffee und Zeitung.
Freddy war zwei, als Max geboren wurde. Und gerade als die beiden aus dem Gröbsten heraus waren, hatten Bea und er die törichte Idee gehabt, noch ein Mädchen haben zu wollen. Lilli war jetzt vier und eine kleine Tyrannin. Sie schlief grundsätzlich nur auf dem Arm ein. Und selbst dann spürte sie beim Hinlegen den Moment, in dem sie den letzten Quadratzentimeter Körperkontakt verlor und brüllte los. Sie schrie jedes ihrer Bedürfnisse hemmungslos in die Welt hinaus. Lilli war überaktiv, laut und ihre Frustrationstoleranz ging gegen null. Ihre großen Brüder reagierten zunehmend genervt.

Jonas zerrte die quietschende Folie von einer Wasserflasche und trank einen Schluck. Sein Alltag war eine ununterbrochene Abfolge von Störimpulsen und Anforderungen. Es hatte in den letzten Jahren viele Tage gegeben, an denen er sich mit Freuden allein in einem Aufzug hätte einsperren lassen.

So hatte sein Traum vom Leben nicht ausgesehen. Die Kinder mussten permanent gefördert werden, wenn sie in dieser, sich exponentiell verändernden Welt mithalten sollten. Bea und er verbrachten jeden Tag Stunden damit, sie durch die Gegend zu fahren. Fußballverein, Klavierunterricht, Kindergeburtstag, Schulfest. Hier Elternabend, da Projektwochen.

Das Neueste war diese „Quality-Time“. Etwas mit den Kindern analog erleben, ihnen Natur und Kultur näherbringen. Dazu hatten die Kids aber keinen Bock. Spätestens alle zwanzig Minuten musste man ihnen eine andere Action anbieten. Länger hielt ihre Aufmerksamkeitsspanne nicht durch.

Und dann der ewige Kampf um das Familientablet. Der ewige Kampf um alles! Vor allem darum, sich selbst im Griff zu behalten, die Kinder nicht anzuschreien, wenn sie sich gegenseitig anschrien, nie die pädagogische Haltung zu verlieren, immer gerecht und bis zur Weißglut lösungsorientiert. Gewaltsam gewaltfreie Kommunikation.

Er war müde! Er war so unsagbar müde, dass es überhaupt nicht mehr ums Schlafen ging.

Plötzlich entstand Hitze in seinem Brustkorb. Sie breitete sich wie ein Tsunami über seinen Körper aus und nahm ihm den Atem. Jetzt ist es soweit, blitzte es durch seinen Kopf: Herzinfarkt! Er rang nach Luft, erwartete jeden Moment irgendeine Art von krassem Schmerz.

Aber es passierte nichts, außer dass er seinen Zustand als Panik identifizierte. Er presste die Handflächen neben sich auf den Boden und den Rücken gegen die Wand. Tief atmen!

Sie würden ihn hier rausholen, daran bestand überhaupt kein Zweifel.

Oder?

Das alarmierende Brennen ließ langsam nach und sein Herz beruhigte sich wieder.

Er hatte Wasser, er hatte sogar eine ganze Einkaufstasche voller Lebensmittel. Es würde womöglich nach zwei Tagen ein bisschen eklig werden. Und kalt. Aber wenn er die Nerven behielt …  Welche Nerven?, spottete etwas in ihm.

Nach und nach kam er wieder in der dämmrigen Stille an. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er Zeit nachzudenken. So richtig Zeit. Nicht mal eben zwanzig Minuten auf der Autobahn oder nachts beim Herumtragen einschlafender Säuglinge.

Was war mit seinem Leben schiefgelaufen? Er liebte seine Kinder. Er liebte Bea. Er hatte das alles gewollt. Und jetzt war es ein Knast.

Ein Blick auf die Uhr. Viertel nach vier.

Bea und die Kinder waren zuhause in Sicherheit. Hauptsache, der Sturm würde das Dach nicht abdecken. Mit dem Haus auf dem Land hatten sie sich übernommen. Aber das hätte alles geklappt, wenn Corona und der Krieg nicht gekommen wären.

Jonas‘ aufgestellte Beine sanken in einen Schneidersitz und er ließ den Kopf nach vorne hängen. Sein Leben war zu einem einzigen Wahnsinn mutiert. Er würde die nächsten 15 Jahre damit verbringen, irgendwelchen Erziehungsverpflichtungen und Krediten hinterher zu hetzen.

Und wie würde diese Welt aussehen, wenn das Leben der Kinder in 15 Jahren erst richtig losgehen sollte? Die 1,5 Grad waren längst obsolet. Der Sommer hatte bis Ende Oktober gedauert und jetzt im Advent zwanzig Stunden Schneesturm. Für die Kleine war es der erste Schnee in ihrem Leben.

Er rutschte ein wenig zur Seite, lehnte Schulter und Kopf in die Ecke der Kabine.

Wann hatte er das alles aus dem Blick verloren? Wann hatte sein täglicher Kampf um Kita, Schule und Arbeit, um Pausenbrote, Gummistiefel und Videokonferenzen überdeckt, was derweil mit der Welt geschah?

Irgendeines Tages hatte er in einem vernebelten Winkel seines Gehirns beschlossen, dass sich andere darum kümmern sollten, die keine Kinder hatten, die keine Kredite abzahlen mussten, die nachts schlafen konnten, deren verdammter Job das war.

Die Bespaßung der Kinder ging auf Kosten ihrer Zukunft. Das zu ignorieren, war ein Teil des alltäglichen Kraftaufwands geworden. Sie sollten in fremde Länder fliegen, die coolen Sneaker bekommen, Fleisch und Butter essen und alles haben, was zum Leben dazugehörte.

Zu wessen Leben?

Jonas fühlte etwas, das er nicht sofort erkannte: Heimweh. Aber nicht nach einem Ort, sondern nach einer Zeit. Einer Zeit, in der alle Sorgen vor der Ewigkeit des Lebens klein wurden, in der es immer eine Option auf Hoffnung gegeben hatte.

Er sehnte sich danach, mit Bea auf dem Sofa zu sitzen und ein Glas Wein zu trinken. Zufrieden und voller Zuversicht.

Er wollte mit seinen Jungs rangeln und ausgelassen mit ihnen über den Teppich kugeln. Er wollte seine kleine Lilli in die Luft werfen und wieder auffangen, bis sie vor Kichern quietschte.

Die Zeit, die blieb, bis sie groß wurden, bis das Leben für sie ein Kampf sein würde, der mit nichts bisher Dagewesenem vergleichbar war – diese Zeit war ja noch da. Sie war alles, was sie hatten.

Er wollte bei ihnen sein. Er wollte sie beschützen, während draußen der Sturm tobte. Sie sollten alle zusammen vor dem Kamin liegen, ungesunde Kekse essen und ins Feuer schauen. Zusammengekuschelt, ineinander verschlungen, warm. Nur wir.

Als sich der Aufzug plötzlich in Bewegung setzte, schrak Jonas aus tiefem Schlaf auf. Fassungslos starrte er auf die sich öffnende Tür und den Mann im grauen Overall, der wartend dahinterstand.

Der Hausmeister streckte ihm die Hand hin und half ihm beim Aufstehen.

„Glück gehabt“, sagte er. „Notstrom funktioniert noch.“

„Danke“, stammelte Jonas benommen.

Er trug die Einkäufe in den zweiten Stock und versicherte sich, dass seine Mutter alles hatte, was sie brauchte. Ihre Jalousien waren heruntergelassen und eine Kerze brannte auf dem Tisch.

„Sieh zu, dass du nach Hause kommst, Junge, ich komme schon zurecht. Ich bin ja nicht allein im Haus.“

Er umarmte sie und lief die Treppen hinunter. Draußen war es stockdunkel. Winzige Schneeflocken schossen im Schein seines Handys waagerecht durch die Luft. Gegen den Sturm gebeugt stapfte er über den Parkplatz. Schaufelte mit den Armen Schnee vom Wagen. Der Motor sprang an, die Scheinwerfer ließen Millionen rasende Schneeflocken aufleuchten. Er schob den Hebel auf Allrad und setzte aus der Parklücke.

Nach Hause! Zwei Tage eingeschneit und ohne Strom. Eine schmerzlich vermisste Vorfreude trieb ihm Tränen in die Augen.

Sie waren fünf. Fünf von acht Milliarden.

 

V3 / 9957 Zeichen